33

Allem Anschein nach hatte Ty gegessen und war dann wieder gegangen – schmutzige Teller in der Spüle, Hühnerknochen im Abfalleimer und die Kaffeekanne noch warm auf der Platte. Er hatte die Gerichtspapiere auf den Küchentisch gelegt. Ich las sie mir noch einmal durch und suchte nach einem Platz, wo ich sie hintun könnte. Schließlich öffnete ich den Schreibtisch und steckte sie zu den Rechnungen für die Steuer. Die Steuererklärung musste gemacht werden – sie war längst fällig. Der letzte Tag des Juni war ohne unsere monatliche Abrechnung vorübergegangen, auch wenn ich die regelmäßigen Rechnungen bezahlt hatte. Ich konnte nichts essen, deshalb machte ich mich daran, das Haus aufzuräumen. Ich brauchte nicht lange – das war etwas, von dem ich noch wusste, wie es ging.

Der Bautrupp aus Mason City hatte drei Wochen damit zugebracht, den besonderen Betonboden für die Schweinemast und die trächtigen Sauen zu schütten. Darüber würde ein Spaltenboden aus Stahl gelegt werden. Ein automatisches Spülsystem würde schließlich die Schweinegülle über den Schwemmkanal bis hin zum Slorrystore spülen. Man konnte die Baustelle vom Haus aus nicht sehen – sie wurde verdeckt von dem alten Kuhstall, der zu Räumen umgebaut werden sollte, die für Geburt und Aufzucht der jungen Ferkel bestimmt waren. Die Harvestores schössen nun in die Höhe, blau und effizient, mit klaren Umrissen und abgerundeten Kanten, südlich von dem Kuhstall, dicht nebeneinander. Ein Zementmischer stand ständig auf der Bankette der Cabot Street Road, einsatzbereit, darauf wartend, dass die Männer mit dem Schütten der Böden weitermachten. Ein anderer Trupp von drei Mann hatte während der Woche die Boxen im Kuhstall herausgerissen. Weil Schweine weitaus neugieriger und zerstörerischer als Milchkühe sind, sollten ungefähr eineinhalb Meter hohe Trennwände aus Beton gebaut werden, und darüber dann Holzwände.

Am Ende würden die Schweine in jedem Gebäude in Ställen aus legiertem Aluminium gehalten, mit Fußbodenheizung, automatischen Fütterungsanlagen und Saugnippel, aus denen Wasser kam, für die Ferkel. Es würde, so der Prospekt, »mehrere Komfortzonen zur Unterbringung verschiedener Schweinegrößen« geben. Aller Voraussicht nach würde es mindestens sechs Monate und höchstens acht oder neun dauern, bis alle Gebäude fertig gestellt sein würden, aber wir hatten vor, die ersten zehn Sauen Anfang August in ihre neuen Ställe zu bringen. Ty hatte bisher zwei Schecks ausgestellt – einen über 20000 Dollar an den Harvestore-Hersteller und eine Anzahlung über 27500 Dollar an den Systemhersteller. Bis zum ersten August würde er dem Harvestore-Hersteller einen zweiten Scheck über 20000 Dollar ausstellen und dem Systemhersteller einen zweiten über zwanzig Prozent der verbleibenden Baukosten, 49000 Dollar. Wenn die Schweinepreise stabil blieben und die Sauen nicht durch die neuen Gebäude oder den Baulärm gestresst würden und wenn es ihm gelänge, aus jedem Wurf im Durchschnitt sechs Schweine bis auf einen Durchschnitt von je 150 Kilo zu bringen, dann könnte er im späten Winter seinen ersten Scheck über beinahe 20000 Dollar erwarten. Aber bis dahin würde er zwei weitere Schecks über 49300 Dollar ausgestellt haben, denn die Arbeiten an den anderen Gebäuden würden weitergehen. Zu ruhigeren Zeiten hätten mich diese Zahlen nach Luft ringen, nachts wach liegen lassen, ich hätte die Bücher nach Einsparungen hier und da durchforstet. Jetzt, angesichts all der anderen Dinge, die geschahen, machten sie mich nur schwindlig.

Auf Ty hatten sie einen ebenso starken Effekt – er hatte rund um den Boden für das Gebäude der trächtigen Sauen Lampen montiert, und er und die Männer arbeiteten da draußen bis beinahe elf. Am nächsten Tag waren sie wieder da, obwohl es ein Samstag war, und am Sonntag auch. Jeden Tag waren sie zwölf oder vierzehn Stunden da, und wenn die Männer nach Hause gegangen waren, arbeiteten Ty und Pete weiter bis zum Dunkelwerden. Hin und wieder ging ich zu ihnen hinaus und sah ein paar Minuten zu, aber Ty und ich sprachen nicht darüber. Genauso wenig wollte er etwas zu der Klage sagen, auch nicht, ob er gewusst hatte, dass sie kommen würde. Ich war mir sicher, dass er es gewusst hatte. Als ich ihm das sagte, hämmerte er einfach weiter Nägel in die Verschalungen, als hätte ich nicht gesprochen.

Über das Wochenende wurden sie mit dem Slurrystore fertig, legten die Fundamente für das Gebäude, in dem die Jungschweine großgezogen werden sollten, und karrten die Innereien des alten Kuhstalls weg. Ich servierte zwei große Mahlzeiten am Freitag, zwei am Samstag und drei am Sonntag, weil das Cafe in der Stadt zum Frühstück nicht geöffnet war. Niemand ging zur Kirche. Rose kam jeden Tag herüber und half beim Kochen. Sie hatten ihre eigenen Papiere bekommen, aber auch wir sprachen nicht darüber; es gab zu viel zu tun, vielleicht zu viel zu sagen. Ohnedies war die Küche wie ein Dampfbad, zu heiß, um sich aufzuregen.

Am Sonntagnachmittag, ich begoss gerade den Truthahn für das Abendessen, kam Ty durch die Hintertür herein und warf ein paar schmutzige Fetzen auf den Boden. Ich sagte: »Was ist das?«

Er sagte: »Das möchte ich von dir wissen.«

Ich sah genauer hin. Rosa Streifen. Mein Nachthemd, Unterwäsche. Ich brauchte nicht noch einmal hinzusehen, um zu wissen, was die rostigen Flecke waren. Ich hatte sie nicht wirklich vergessen; es war eher so, dass ich nicht die Gelegenheit gehabt hatte, sie auszugraben, und bei all der Arbeit hatte ich nicht daran gedacht, dass sie den Boden so schnell ausschachten würden.

Ich sagte: »Wo war das?«

»Wo glaubst du?«

Unsere Blicke trafen sich, und ich fragte mich, ob ich ihn bluffen könnte, einfach abstreiten, etwas zu wissen, und dann fragte ich mich, ob es das wert war. Ich trocknete mir die Hände an einem Geschirrtuch ab, wischte einen Augenblick mit dem Spüllappen über die Arbeitsplatte. Schließlich sagte ich: »Boden im Kuhstall?«

»Hätte nicht gedacht, dass du das zugibst.«

»Ja, hab ich aber.«

»Dann schätz ich, haben wir heut Abend etwas zu besprechen.«

»Ich schätze nicht.«

Aber er war schon aus der Tür. Auch wenn er mich mit Sicherheit hörte, konnte er nun so tun, als hätte er mich nicht gehört. Ich nahm das Nachthemd vom Boden auf und warf es in den Abfall. Wenn er es sechs Monate früher gefunden hätte, wäre es ein unschuldiges Etwas gewesen, ein Zeugnis unsterblicher Hoffnung, ein Beweis für meine Tapferkeit und meine Bindung an unsere gemeinsame Zukunft. Einen verzeihenden und zärtlichen Mann hätten diese Kleidungsstücke schlimmstenfalls als etwas Tragisches berührt, nicht einen Augenblick hätte er Schuld und Beleidigung mit ihnen verbunden. Aber so war Ty. Wenn er sich entschieden hatte, blieb er unbeirrbar bei seinem Entschluss. Ich stopfte die Sachen mit dem Fuß noch weiter runter zwischen die Erdbeerreste und die Truthahninnereien. Auch in mir hatte sich etwas verändert. Wenn er die Sachen sechs Monate früher gefunden hätte, ich hätte mich meiner Geheimnistuerei geschämt. Jetzt ärgerte es mich bloß, dass ich die Sachen vergessen und dagelassen hatte.

Hätte es keine Fehlgeburt gegeben, wäre das Baby jetzt ein oder zwei Wochen alt gewesen, ein alarmierender Gedanke. Ich wäre bei Jess Clarks Ankunft im neunten Monat gewesen, die massige Zielscheibe witziger Bemerkungen während all unserer Monopoly-Spiele. Ich wäre sicher in jeder Hinsicht vorsichtiger gewesen, Ty auch, und mein Vater hätte vielleicht gezögert, das zu tun, was er getan hatte. Angesichts der sichtbaren, wachsenden Zukunft, die sich bald vorstellen würde (bis zur allerletzten Minute als Junge angenommen), wäre es unklug gewesen, die Vergangenheit in Frage zu stellen, eine Herausforderung des Schicksals. Es hätte keine neuen Gebäude gegeben, denn wir wären in Geldsachen weniger kühn gewesen. Wir hätten stattdessen versucht, ein anderes Bild zu bieten: fünf Generationen auf demselben Land. Wäre ich nicht um eines Sohnes willen auf ein solches Bild eingegangen? All die anderen Mütter von Söhnen in Zebulon taten das.

Tatsächlich war rein theoretisch noch immer alles möglich. Wenn Jess Recht haben und unser Brunnenwasser schuld sein sollte, dann könnte ich Mineralwasser trinken und auch damit kochen. Und dann gäbe es einen Enkel. Unsere Nachbarn, die jetzt meinen Vater mit Sätzen wie »Es gibt Dinge, die einfach nicht in Ordnung sind« aufstachelten, würden »Lass Vergangenes vergangen sein« sagen.

Nur dass unsere Gefühle uns wie Schutzwälle umgaben und wir das, was wir wussten, nicht ungewusst machen konnten. Zum einen glaubte Ty ganz offensichtlich daran, dass sich irgendeine unannehmbare wahre Natur in Rose offenbart und auf mich übertragen hätte. Ich war mir sicher, dass seine wirkliche Loyalität bei Daddy lag, und ich konnte ihn mir ohne weiteres bei langen Telefondiskussionen mit Caroline vorstellen, unbehaglich, aber hartnäckig. Ich schreckte davor zurück, ihm etwas zu erzählen – das Vertrauen, das offene Gespräche erlaubte, war dahin und hatte sich in Formalität aufgelöst. Zum anderen hatte es zwischen uns keine Form von Sex gegeben, seitdem mich die Erinnerung an meinen Vater wieder eingeholt hatte. Ich hatte Sex nur selten, wenn überhaupt jemals, wirklich genossen, und nun schien es, als käme er jenen Erinnerungen zu nahe, um eine angenehme Vorstellung zu sein.

Ich dachte den ganzen Nachmittag über diese Dinge nach, während ich den Truthahn begoss, Kartoffeln schälte und Mohren schruppte, Bohnen abzog, den Apfelkuchen, den Rose gebacken hatte, mit einem Zuckerguss versah, eine Kanne Tee zum Abkühlen ins Gefrierfach stellte. Die Männer des Bautrupps waren höflich. Sie bedankten sich bei mir für alles und nannten mich »Ma’am«. Sie witzelten ständig herum, und bei Tisch kam heraus, dass Ty ihnen seit Samstagmorgen den dreifachen Lohn zahlte. Es waren vier Männer. Bei hundert Dollar pro Stunde machte das bei zwölf Stunden für zwei Tage 2400 Dollar. Ich sagte milde: »Ich dachte, die Firma bezahlt euch.« Einer von ihnen sagte: »Ja, normalerweise ja, Ma’am, aber es war Tys Idee, an diesem Wochenende zu arbeiten, deshalb übernimmt er die Kosten. Ich würd nur irgendwo rumhängen und trinken, deshalb kommt mir das Extrageld nur recht.«

»Das glaub ich gerne.«

»Wir haben ’ne Menge geschafft. Ihr werdet wahrscheinlich am Ende was von der Firma zurückbekommen.«

Ty legte seine Gabel hin. »Wir haben die Zeit. Es ist das Beste, wenn wir sie nutzen. Je mehr wir vor der Ernte schaffen, umso besser werden wir dastehen.« Er sah mich nicht an.

Nach einer Weile fuhr er fort: »Geht eine rauchen oder sonst was. Wir haben heute noch vier Stunden Licht. Morgen könnt ihr wieder mit diesem Ferienpensum weitermachen, für das euch die Firma bezahlt.«

»Jap«, sagte der eine. »Vielleicht hab ich dann mal Zeit zum Duschen.«

»Du bist schon ganz schön reif, Dawson. Puuh!«, rief einer der anderen, während sie nach draußen polterten. »Danke fürs Essen, Ma’am. Sie sind bestimmt froh, wenn Sie uns los sind.«

Ich saß im Bett und las, als Ty hereinkam. Ich konnte ihn unten hören, wie er sich eine Tasse Kaffee nahm und noch ein Stück Kuchen. Der Stuhl kratzte über das Küchenlinoleum, als er ihn vorzog. Er ließ Wasser in die Spüle laufen, um den Teller abzuspülen. Bevor er die Treppe hochkam, herrschte eine Weile Stille. Ich blätterte in meinem Good Hausekeeping weiter zu einem Artikel über Erdbeernachspeisen, »Über den Shortcake hinaus«, und das war es, worauf ich starrte, als er ins Zimmer kam.

Er war ein ordentlicher Mann. In der Hinsicht brauchte ich mich nie zu beklagen. Er warf seine Socken und Unterwäsche in den Wäschekorb, seine Arbeitssachen in die Kiste für die Arbeitssachen. Er ging eine oder zwei Minuten im Zimmer auf und ab, aber ich weiß nicht, ob er mich ansah, weil ich in die Zeitschrift starrte. Als er ins Badezimmer ging, blätterte ich um zu »Neu! Quilts – Schnell und leicht gemacht«. Ich hörte, wie die Dusche angestellt wurde. Die erste Zeile des Artikels lautete: »Lieben Sie Quilts, hassen es aber, alle Stücke einzeln ausschneiden zu müssen?« Ich las ihn durch und konzentrierte mich auf jedes Wort. Nicht eines ergab Sinn. Die Dusche wurde abgestellt. Tys Fußtritte kamen zum Schlafzimmer zurück. Eine Schublade wurde aufgezogen, dann geschlossen. Die nächste Zeile des Artikels lautete: »Eine neue Technik mit einem Rädchen wie zum Pizzaausstechen macht kurzen Prozess mit einer einst mühseligen Plackerei. Quiltnäherinnen überall im Land sind …«

Tys Gewicht hob meine Seite des Bettes. Seine Haut strahlte nach dem Duschen Kühle aus, und er roch nach Right Guard-Seife.

»… begeistert. Früher grauste mir …!« Er sagte: »Wir sind so weit und können den Boden für das Zuchtgebäude und die Fundamente für die Innenwände in dem Stall schütten. Ich hab auch die Firma angerufen. Sie wollen das Holz für die Wände morgen früh um sechs rausschicken. Ist schon verladen.«

»Das sind ja gute Nachrichten.«

»Denke schon.«

»Tja, wir schlafen dann wohl mal besser.« Ich hob den Kopf. Sein Gewicht verlagerte sich im Bett. Er sagte: »Wann hast du die Sachen vergraben?«

»Letztes Jahr Erntedank, ungefähr. Am Tag danach.«

»Wie kommt das?«

»Ich weiß nicht.« Das war die Kurzform für: es ist zu kompliziert, um darüber zu reden.

»Woher kommen die Blutflecken?«

»Na ja, ich hatte eine Fehlgeburt.« Die nächste Zeile des Artikels, auf den ich starrte, statt ihn anzusehen, lautete: »… das Ausschneiden, besonders der Rhomben, weil sie so schwer …«

»Jede Menge Geheimnisse hier.« Das kam so milde, dass ich ihn ansah, worauf er sagte: »Das ist Nummer fünf, stimmt’s?«

»Nummer fünf?«

»Nach Nummer vier, damals, als ich auf der Landwirtschaftsausstellung war, von der Rose mir gesagt hat, dass ich dir nicht sagen soll, dass sie’s mir gesagt hat.«

»Das überrascht mich, dass Rose das verraten hat.«

»Deine Wünsche stehen bei Rose nicht gerade an erster Stelle, Ginny.«

»Was denn?«

»Das frag ich mich auch.«

»Ich weiß, du denkst, Rose und ich hätten irgendwas Geheimnisvolles vor, haben wir aber nicht.«

»Was ich denke ist, dass du dich Rose gegenüber nicht behaupten kannst. Sie überfährt dich jedes Mal.«

Ich starrte aus der Schlafzimmertür, durch den Flur auf die Ecke des Bettes im Gästezimmer. »Genau wie du und wie Daddy. Willst du wissen, warum ich die Schwangerschaften und Fehlgeburten für mich behalten hab? Weil ich nicht deiner Meinung war und nicht aufhören wollte, aber du hast es abgeschrieben. Ich wollte es ewig weiter versuchen, aber ich konnte mich dir gegenüber nicht behaupten. Verglichen mit allem, was mit Rose zu tun hat, ist das das Wichtige. Man hält etwas geheim, wenn andere die Wahrheit nicht hören wollen.«

»Ich konnte es einfach nicht ertragen, erst die großen Erwartungen und dann die große Enttäuschung. Ich dachte, du könntest das verstehen.«

»Aber ich konnte es ertragen. Ich wollte es ertragen. Es ertragen war besser, als es überhaupt nicht mehr versuchen, einfach aufgeben. Du gibst immer einfach auf! Du denkst bei allem, was passiert, wenn wir nur ein bisschen abwarten, wird schon alles gut! Ich kann so nicht mehr leben!«

»Ich finde tatsächlich, dass Geduld eine Tugend ist.« Seine Stimme schien das lediglich als eine seiner interessanten Marotten anzusehen.

»Ich glaube, du findest, Geduld ist alles!« Ich kniete mich hin und sah ihn an. »Ich fühl mich, als war ich aus einem Traum erwacht! Einem Traum, wo ich einfach nur mitmache und mitmache, und was immer ich tu, ich bin einfach nur Zuschauer, ich bewege nichts! Wenigstens ist Rose nicht so. Wenigstens nimmt sie sich, was sie will. Jess hat mir erzählt, dass der Grund für die Fehlgeburten wahrscheinlich mit dem Brunnenwasser zu tun hat. Dem Wasser, das ins Brunnenwasser rein fließt. Er sagt, man weiß das schon seit Jahren! Wir haben nach so was nie gefragt, in keinem Buch nachgelesen oder etwa jemandem erzählt, dass wir Fehlgeburten hatten. Wir haben es als unser Geheimnis gehütet! Was, wenn’s im ganzen County Frauen gibt, die jede Menge Fehlgeburten hatten, und wenn sie einfach ihre Daten vergleichen würden – aber da sei Gott davor, dass wir über so etwas reden!«

»Oh, Jess. Der hat die verrücktesten Ideen.«

»Weißt du doch nicht! Du hast die Bücher doch nicht gelesen, die er gelesen hat! Du weißt es doch ganz einfach nicht!«

»Ich weiß genug! Ich folge den Anweisungen! Ich bin sorgfältig!«

»Führen die Tonrohre nicht direkt in die Entwässerungsschächte, die direkt in den Wasseraufbereiter führen, der direkt in den Trinkwasserbrunnen führt?«

»Der Boden filtert alles raus!«

»Wer sagt das?«

»Jeder weiß das! Brunnenwasser ist das beste, was du trinken kannst.«

»Wenn ich wieder schwanger werde, trink ich es nicht.« Wir sahen einander an, unsere Stirnen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Gleichzeitig wurde uns beiden klar, dass über eine neue Schwangerschaft zu reden ein gefährliches Unterfangen war. Ich beugte mich über die Bettkante und hob meine Zeitschrift auf, glättete die Seiten. Ty sagte: »Du hast Dinge vor mir geheim gehalten. Du hast mich angelogen. Das sind Tatsachen, und du drehst sie um. Du hast ganz einfach gelogen. Ich finde, das ist ’ne ziemlich eindeutige Sache.«

Möglicherweise wusste er überhaupt nichts. Möglicherweise wusste er alles. Auf jeden Fall schüchterte mich die Anschuldigung ein, da sie zutraf. Ich spürte mein Gesicht heiß werden und meine Kopfhaut von diesem altbekannten Schamgefühl prickeln. Mir fiel der Lehrer von der Sonntagsschule ein, den wir hatten, als ich noch zur High School ging, ein Mann, der uns nur wenige Monate unterrichtete und uns im Chor wiederholen ließ: »Sünden führen zu weiteren Sünden. Sünde häuft sich auf Sünde. Herr, bewahre mich vor der ersten Sünde.« Sünde, Sünde, Sünde, Sünde, Sünde. Es war ein machtvolles und erschreckendes Wort. Ich holte ein paar Mal tief Atem. Was war mit Caroline? Hatte er nicht da ein Geheimnis? Seine Anschuldigung wucherte in meinem Kopf und suchte einen Weg nach draußen. Ty setzte sich zurück. Ich sah ihn an. Mir war klar, dass es eine tiefere Ebene gab, auf der wir weiterkämpfen konnten, eine Ebene, wo nichts zurückgehalten werden konnte und sich die wahre Tragweite unserer miteinander im Konflikt stehenden Loyalitäten zeigen würde. Der nächste Schuss gehörte mir, und er wartete darauf. Aber das war eine neue Welt für mich, für uns. Wir hatten unser Leben in gegenseitiger Höflichkeit verbracht, hatten zu allem ein freundliches Gesicht gemacht und währenddessen Geheimnisse gehütet. Der Gedanke, das alles jetzt mit meiner nächsten Bemerkung aufzugeben, war erschreckend.

Schließlich zwang ich mich zu einer festen Stimme und sagte: »Wenn ich immer vollkommen offen und ehrlich war, dann brauchtest du nicht mehr so hart daran zu arbeiten, mir meine Meinung auszutreiben, oder?«

»Es gab Zeiten, da dachte ich, dass wir in allem einer Meinung sind.« Er sagte dies mit einer ruhigen und, glaubte ich, traurigen Stimme.

Ich sagte: »Du nimmst mich nicht ernst.«

Er sagte: »Ich will mit dir zusammenbleiben, Ginny. Das ist eine von den Tugenden, die du neuerdings zu verachten scheinst, aber es stimmt. Ich glaub, dass du zu mir zurückkommst. Ich glaub, wir werden wieder das haben, was wir früher mal hatten. Das ist alles, was ich je wollte.«

»Ja, aber es ist nicht alles, was ich je wollte, und ich kann dahin nicht zurück.« Ich sagte das mit dem Gefühl, einen Deckel zu heben, bloß um mal kurz zu gucken, bloß um die Versuchung mal auszuprobieren.

»Hasst du mich wirklich so sehr?«

»Oh, hör auf. Ich hasse dich nicht.«

Aber meine Worte trafen mich selbst auf unerwartete Weise. Hatte ich ihn in der letzten Zeit nicht ein wenig gehasst, dafür, dass er hinter meinem Rücken mit Caroline gesprochen hatte, dafür, dass er mich nicht verteidigt hatte, als Daddy uns beschimpfte, dafür, dass er es nie für nötig gehalten hatte, mir zu sagen, dass er dem, was Daddy gesagt hatte, nicht zustimmte, und selbst jetzt dafür, dass er mein Vertrauen zu Rose untergrub? Und ich hasste mich selber auch, dafür, dass ich das alles mitmachte, also hasste ich ihn nicht auch? Tatsache war, dass ich in dem Augenblick keinen Hass empfand. Wenn ich ihn empfunden hätte, so hätte ich, glaube ich, alles gesagt, alles getan, hätte ihn alles über mich wissen lassen. Mein stärkstes Gefühl in dem Augenblick war, dass die Gefühle, die für ihn so leicht zu sein schienen, für mich zu kompliziert waren, als dass ich sie benennen konnte, was wie Lüge zu sein schien, wie ein Zwang. Das, so hätte mein Lehrer von der Sonntagsschule wahrscheinlich gesagt, ist der Sold der Sünde.

Mit plötzlich ressentimentgeladener Stimme sagte er: »Du fühlst dich vielleicht so, als würdest du aus einem Traum aufwachen, aber ich hab das Gefühl, ich bin mitten in einem Albtraum. Ich hab mich so auf den Umbau gefreut! Das war mein Traum, und er war dabei, sich zu erfüllen. Ich hab deinen Vater vorsichtig bearbeitet! Ich hab ihn Stück für Stück für die Sache gewonnen. Ich hab nie geglaubt, dass das leicht sein würde, aber ich glaubte, Fortschritte zu machen, und dann habt ihr Frauen einfach alles kaputtgemacht, ihr habt ihn total verrückt gemacht …«

»Er hat sich verrückt benommen!«

»Aber es war im Grunde harmlos. Bloß Sachen gekauft. Also was?«

»Er hatte den Unfall.«

»Also, wir hätten ihn dazu bringen müssen, öfter rüberzukommen, aber Jess Clark kam stattdessen rüber …«

»Lass Jess Clark da raus! Außerdem, du hast gesagt, es hätte dir Spaß gemacht.«

»Es hat Spaß gemacht, aber – oh Scheiße. Was soll’s?« Er rutschte unter die Decke. »Wie spät ist es?«

»Nach elf.«

»Das Holz kommt um sechs.«

Ich machte das Licht aus.

Im Dunkeln sagte er: »Wenn du einen Job in der Stadt haben wolltest, hättest du’s sagen sollen.«

Ich lag lange Zeit da, keuchend vor Erleichterung und auch mit einer seltsamen Enttäuschung, dass die Wahrheit nicht ans Licht gekommen war, und ich war leicht amüsiert, dass dies der Schluss war, den er aus den letzten fünf Monaten zog, aus Roses Operation, aus der Überschreibung der Farm, aus Jess Clark und Roses Enthüllung und meinen wieder gefundenen Erinnerungen. Ich sagte: »Das war’s nicht, was ich wollte.« Ty gab ein lautes Schnarchen von sich, drehte sich dann auf seine Seite.

Als ich sicher war, dass er schlief, schlüpfte ich aus dem Bett und zog mir ein Paar Shorts über. Meine Turnschuhe, die ich ohne Socken zuband, standen neben der Hintertür. Sekunden später war ich auf der Straße und sah zu Daddys Haus. Im Augenblick konnte ich keinen Schritt weitergehen. Das Mondlicht ließ die weißen Striche der Mittellinie und die glitzernden Teilchen, die wie Katzensilber im Asphalt blinkten, noch heller erscheinen. Zu beiden Seiten rauschte der Mais in dem ewigen Wind und machte einem bewusst, wie er wuchs – hoch wie ein Mensch innerhalb eines Bruchteils eines Menschenlebens, indem er aus der Tiefe der Erde Wasser einatmete und es mit einem gewaltigen, langsamen Atemzug ausatmete. Ich starrte zu Daddys Haus. Es war bis auf ein Licht im Fenster meines alten Zimmers dunkel. Der große Würfel von einem Haus schien sich mit der Gegenwart von Jess Clark zu dehnen und zu vibrieren.

Bloß weil alles, was mit ihm zu tun hatte, sich für mich zu etwas Anstößigem und Peinlichem entwickelt hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass der Stachel des Verlangens aus meinem Fleisch herausgewachsen war. Bis jetzt hatte ich mich ziemlich gut zurückgehalten, oder vielleicht hatte mich die Angst zurückgehalten – Angst, von Ty oder Daddy ertappt zu werden, auch die Angst, Jess aufdringlich oder dumm zu erscheinen. Oder hässlich. Oder nicht begehrenswert. Als ich so zu dem Licht hinübersah, in dem Jess jetzt bestimmt saß – vielleicht las er gerade? –, wusste ich, dass ich auch Angst vor ihm hatte. Mehr Angst vor ihm hatte als vor jedem anderen. Die war zusammen mit der Scham entstanden, oder? Sehnsucht, Scham und Angst. Eine groteske Figur, wie eine Frau mit drei Beinen, aber meine Figur, die ich leicht aus meiner alten High School-Zeit und danach wieder erkannte, als jede Verabredung mich zu lahmen vermocht hatte. Die Art, wie ich mich selber aus dieser Lähmung befreite, war, Verabredungen mit Jungen zu brechen, die mich eigentlich anzogen. Das Beste an Ty war gewesen, dass er Daddy gefiel. Ich sah, dass er sauber und höflich und vertraut und gut war. Irgendwie befähigte das die dreibeinige Frau zu gehen, vorsichtig und ganz langsam, aber mit Würde.

Jetzt stand die dreibeinige Frau auf der Asphaltstraße im Mondlicht, und jedes ihrer Beine zog in eine andere Richtung. Tatsächlich einen Fuß vor den anderen zu setzen, mich auf jemanden zuzubewegen, nach dem ich mich sehnte, schien wie eine Illusion. Aber diese Illusion zog mich unter das erleuchtete Fenster, dann leise um das Haus herum zu dem hinteren Fenster desselben Zimmers, in dem ich sah, wonach ich gesucht hatte: Jess Clark, seinen Rücken und seinen Hinterkopf, in einem weißen Hemd, die Linie seiner Schultern und die Neigung seines Halses so evokativ und viel versprechend wie nichts, das ich je gesehen hatte. Aber fern und unwirklich, wie ein Bild auf einem Fernsehschirm, ebenso unwirklich wie das imaginäre gehende Ich, das das wirkliche bewegungslose Ich auf der Asphaltstraße stehen gelassen hatte. Jetzt rief das imaginäre Ich: »Jess! Heh, Jess! Jess Clark!« Wie im Märchen wandte die Figur sich um, stand auf und kam ans Fenster, schob es hoch und beugte sich hinunter. Er sagte: »Hallo! Wer ist da?«

»Ich bin’s, Ginny.« Scham und Angst stiegen auf und umhüllten mich wie eine Wolke.

Er sagte: »Heh! Was machst du hier? Hast du geklopft? Ich hatte das Radio an.«

Auch wenn das Licht hinter ihm war, sah ich sein Lächeln weiß aufblitzen. Ich sagte: »Lange nicht mehr gesehen, was?«

»Ist so viel los. Du fehlst mir.« Seine Stimme war weicher geworden. Das hätte er nicht sagen sollen, weil ich dann sagte: »Ich liebe dich«, und er sagte: »Oh, Ginny«, und was ich in seiner Stimme hörte, war pures, eindeutiges Bedauern, das in der darauf folgenden Stille wie der Ton einer Glocke nachhallte und mir alles sagte, was ich über jede Frage, die aus dem früheren Sommer noch geblieben war, zu wissen brauchte.

Nach einer Weile sagte er: »Ich komm runter. Ich bin sofort unten.« Aber darauf wartete ich nicht. Ich kannte den Weg nach Hause, nicht den über die offene, enthüllende Straße, sondern den zwischen den steifen, verbergenden Maisreihen. Keine Entschuldigungen oder Freundlichkeiten oder demütigenden Erklärungen seiner Gefühle würden mir dorthin folgen.

Um sechs spülte ich die Frühstücksteller. Ty ging auf dem Seitenstreifen der Cabot Street auf und ab. Um sieben kamen die Bauleute, sie hatten bereits im Café gefrühstückt. Ich stellte eine Maschine an und nahm eine Ladung Wäsche nach draußen und begann, sie auf die Leine zu hängen. Es war eine gute Maschine, und bald verdeckten mir Laken und Hemden die Sicht auf die Baustelle, so dass ich nicht sah, wie zwei Autos hinter dem Holzlastwagen hielten. Was ich einige Zeit später sah, als ich den Wäschekorb wieder zurück ins Haus trug, war, dass der Lastwagen und all die Autos – darunter Marv Carsons großer kastanienbrauner Pontiac und Ken LaSalles kobaltblauer Dodge – auf der Straße wendeten und wegfuhren. Ty stand da und sah ihnen nach. Er nahm die Kappe ab und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, dann setzte er die Kappe wieder auf. Er stand eine lange Zeit da.

Er brauchte mir nicht zu erzählen, dass Marv und Ken ihm gesagt hatten, er müsse die Bauarbeiten einstellen, auch brauchte er mir nicht zu beichten, dass er in dem vergeblichen Versuch, die Bauarbeiten so weit voranzutreiben, dass sie nicht mehr gestoppt werden konnten, für die Wochenendarbeit gezahlt hatte. Mir wurde, während ich ihn beobachtete, verschwommen klar, dass seine Anstrengungen töricht gewesen waren, eine Verschwendung unseres Geldes, eine weitere kleine Niederlage, die er hätte vermeiden können. Als was es mir damals aber vor allem erschien, war unser krönendes Versagen als Paar.