Zwei Vormittage später war ich dabei, den Staubsauger herauszuholen. Ty war draußen im Schweinestall, und wir hatten seit unserer Auseinandersetzung sehr wenig miteinander gesprochen.
»Die Felder sehen prächtig aus.«
Ich schreckte zusammen.
Henry Dodge, unser Pfarrer, stand draußen vor der Fliegengittertür und hatte die Hand auf dem Schnappschloss.
Ich sagte: »Südwind im Kommen. Hoffentlich wird’s im September trocken.«
»Darf ich nicht reinkommen?«
Ich richtete mich auf. Von meinen Händen tropfte die Seifenlauge. Ich trocknete sie mir ab. »Klar. Kaffee?«
Er drückte mit dem Daumen das Schloss herunter und öffnete die Tür auf eine geschmeidig aggressive Art, als ob, so dachte ich kleinlich, er Übung darin hätte, kleine Öffnungen auszunützen. Ich erinnerte mich, dass er früher einmal Missionar gewesen war, vielleicht irgendwo in Afrika oder auf den Philippinen.
Er sagte: »Ginny, ich dachte, wir wären Freunde.«
Ich sagte: »Hier, setz dich. Ich hab noch Kuchen von gestern Abend übrig.«
»Es ist ein wenig früh für Kuchen.«
»Ty mag das gerne. Er hat allerdings noch lieber Pie zum Frühstück.« Ich sah ihn an, während ich den Kaffee eingoss. Das Wort »Freunde« schwebte in der Luft und nahm, je länger ich Henry Dodge ansah, immer komplexere Formen an. Ich sagte: »Vielleicht.«
»Vielleicht was?«
»Vielleicht sind wir Freunde gewesen. Vielleicht könntest du den Begriff klarer definieren.«
Er lachte, als hätte ich einen Witz gemacht, sagte dann: »Du hast mich vor einiger Zeit besucht.«
»Ja, hab ich, ja. Aber es ist okay.« Diese Bemerkung ließ ihn neugierig aussehen, und ich ärgerte mich über sie. Ich sagte: »Vielleicht hätte ich dich nach dem Kirchenessen anrufen sollen. Was für ’ne Aufregung.« Ich verdrehte die Augen.
»Ich hätte dich anrufen sollen, denke ich. Das ist teilweise der Grund, warum ich gekommen bin.«
Ich blickte ihn an. Ich sagte: »Vielleicht sind wir Freunde gewesen. Definier den Begriff klarer, und ich antworte dir.«
Er lachte wieder. Ich spürte entfernt, dass meine Bemerkungen auch witzig oder ironisch erscheinen konnten, aber ich war todernst. Henry setzte sich und rutschte auf dem Sitz vor und zurück, als wollte er sich einen Platz im tiefen Gras schaffen. Er nippte an seinem Kaffee und sagte: »Ich glaub, ich bin ganz gut darin, größere Perspektiven zu sehen, aber am liebsten hätte ich es, wenn du richtig mit mir reden würdest.«
Ich gestand zu: »Das Kirchenessen war peinlich.«
»Nicht jeder war der Ansicht, dass Harold recht daran getan hat, so zu reden.«
Ich wog das ab. Am Ende sagte ich: »Meinst du, einige wenige waren mit Harold nicht einer Meinung oder die meisten, oder wie viele?«
»Nun ja …«
»Ehrlich gesagt, ich kann nicht glauben, dass irgendjemand dachte, Harold hätte recht daran getan, so zu reden.« Ich spürte, wie mir heiß wurde. »Er hat das inszeniert! Er ist extra hier rübergekommen, um das zu inszenieren, und er war schadenfroh …«
»Angesichts seiner gegenwärtigen Heimsuchung glaube ich nicht …«Er drehte den Henkel seiner Tasse zu mir hin und begann von neuem: »Ich war gerne Friedensstifter.«
»Warum?« Ich versuchte, das so ausdruckslos und sachlich nachfragend wie möglich klingen zu lassen, aber er nahm es als Vorwurf. Er sagte: »Niemand sonst scheint das zu versuchen. Als euer Pastor und Pastor eures Vaters …«
»Ich meine, welchen Zweck erfüllt es, Frieden zu stiften?«
»Oh.«
Offensichtlich hatte er das nicht wirklich bedacht. Ich wartete, dass ihm etwas einfiele.
Schließlich, nachdem er mir zwei- oder dreimal einen Blick zugeworfen hatte, sagte er: »War dir selber das nicht lieber? Ich bin lange genug dein Freund, um zu wissen, dass es dir in einer glücklicheren Atmosphäre als dieser besser geht. Ich hab nie gesehen, dass du Streit suchst. Das sieht dir einfach nicht ähnlich.« Ihm gefiel diese Richtung, und er erwärmte sich für sie, während er sprach. »Du siehst unglücklich aus. Du siehst erschöpft und müde aus.«
Das unwiderlegbare Argument der Erscheinung.
»Beobachtest du uns? Mich? Das Äußere ist nicht alles.«
Er lachte wieder, wurde dann nüchtern. Seine Stimme klang feierlich, als er sagte: »Man braucht nicht erst zu beobachten, um das zu sehen.«
Mein Freund? Konnte ich mich darauf verlassen, dass er das sah, was ich in unserer Familie sah, und in unserem Vater und Rose und mir selber? Das erschien mir als die entscheidende Probe der Freundschaft.
Er sagte: »Es ist besser für Familien, zusammen zu sein. Zusammenzuarbeiten.«
»Ist das etwas Absolutes?«
Er legte eine Pause ein, um eine Bestandsaufnahme der Familien zu machen, die er kannte, während er an seinem Kaffee nippte. Dann sagte er: »Vielleicht nichts Absolutes, wenn wir schon vom Absoluten sprechen.« Er lächelte. »Aber die Ausnahmen sind extrem selten. Ich weiß, dass ich in dieser Hinsicht konservativ bin, Ginny, und das hat mir nicht immer zum Vorteil gereicht. Aber während all meiner Jahre als Pfarrer hab ich nur eine Scheidung gesehen, mit der ich einverstanden war. Eine einzige zerbrochene Familie.« Er machte eine Pause, so wie er in seinen Predigten gerne eine Pause machte, als Vorbereitung für einen Punkt, der ihm besonders am Herzen lag. Dann sagte er: »Das Leben, wie es die Leute in diesem County führen, wird immer seltener. Drei Generationen auf einer Farm, die zusammenarbeiten, ist etwas, das man schützen muss.«
»In der Theorie ist das wohl richtig.«
»Helen und ich haben uns teilweise aus diesem Grund dazu entschlossen, hierher zu kommen, weil wir mithelfen möchten, eine Lebensart, an die wir glauben, zu bewahren. Einige meiner schönsten Erinnerungen sind, wie ich mit meinem Großvater Heu gemacht habe. Meine Onkel waren junge Männer. Sie haben wie ein Mann zusammengearbeitet, so nah waren sie sich.«
»Kommen sie noch immer alle miteinander aus?« Ich lächelte offen und unehrlich.
»Im Großen und Ganzen.«
»Im Großen und Ganzen?«
»Na ja, selbstverständlich gibt es Streitereien. Der Mensch ist ein gefallenes Wesen. Und vielleicht liegt ein Wert darin, an seine Feinde gekettet zu sein. Das gibt einem mehr Gelegenheit, sie lieben zu lernen.« Er strahlte, da er das Rätsel, das ich ihm aufgegeben hatte, gelöst hatte.
Ich sagte: »Wie viele haben seit mehr als zehn Jahren nicht mehr mit dem einen oder anderen gesprochen?«
Henry leckte sich die Lippen. »Ich weiß nicht. Hör mal …«
»Los, Henry. Raus damit.«
»Du willst wissen, ob meine Familie aus Heiligen besteht, so als könnte ich dir nur raten, wenn ich ein vollkommener Mensch war. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum, und selbst Pfarrer fallen ihm manchmal zum Opfer, aber …«
»Ich weiß einfach nicht, warum du hier bist. Wer hat dich geschickt, was soll ich deiner Meinung nach tun, was glaubst du, hab ich getan, warum bist du zu mir gekommen, warum nicht zu Rose? Sind wir Freunde? Hast du uns je zum Barbecue bei dir eingeladen? Rufst du mich von Zeit zu Zeit mal an, einfach nur, um dich mit mir ein wenig zu unterhalten? Fragst du um meinen Rat zu deinen Problemen? Nein, nein und nein. Ich will nicht, dass du mit einer Absicht herkommst. Ich will nicht auf deiner Liste der Gemeindebesuche stehen.«
»Es gibt gewisse Pflichten eines Pfarrers …«
Probleme. Barbecues. Sich unterhalten. Da war etwas, das ich schließlich doch von ihm wollte, oder? Mein Herz schlug schneller, und meine Hände wurden feucht. Ich sagte: »Erzähl mir nur, was die Leute über uns sagen.«
»Ginny.«
»Ich will’s wissen. Wirklich.«
»Die Leute klatschen nicht so viel, wie du denkst.«
»Ja, tun sie doch.«
»Na ja, nicht mir gegenüber.« Sein Blick war undurchdringlich. Dann sagte er: »Kann ich dich nicht erreichen? Ich möchte es.« Sein Ton und sein Blick waren warm und mitfühlend, und ich musste daran denken, dass ich in der Vergangenheit darauf hereingefallen wäre, damals hätte ich ihn bereitwillig meinen Freund genannt, schon weil mir die öffentliche Anerkennung einer solchen Freundschaft geschmeichelt hätte. Jetzt erschien mir die ganze Idee verdächtig. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm oder seinem Amt misstraute, aber auf jeden Fall würde ich mich ihm nicht anvertrauen. Ich stellte meine Kaffeetasse auf den Tisch, stand auf und ging zur Spüle, wo ich den Schwamm unter einem Heißwasserstrahl auswrang. Ich begann den Tisch zu wischen. Ich sagte: »Heb deine Tasse hoch.«
Er hob seine Tasse hoch. »Zumindest komm weiterhin sonntags zur Kirche. Halte den Weg zu Gott offen. Er ist auf wunderbare Weise voller Vergebung. Er vergibt mehr, als wir uns selber vergeben.«
Die Fliegengittertür öffnete sich. Ty sah Henry, kam herein und begrüßte ihn respektvoll. Hier, dachte ich, waren zwei Menschen, die in so vielen Dingen einer Meinung waren, dass ihre Meinungen automatisch den Anschein von Realität annahmen. Es war eine kleine Welt, in der sie lebten, klein, vollständig und geschlossen. Ihre Stimmen entspannten sich und wurden leiser, und ihre Welt kam mir sehr fern vor.
An dem Nachmittag, als Ty weg war, um eine Ladung Schweine nach Mason City zu fahren, machte ich, nachdem ich ihm geholfen hatte, sie zu verladen, hinter uns sauber und fuhr nach Cabot. Henrys Weigerung, den Klatsch der Leute aufzudecken, hatte mich wütend gemacht. Ich nahm an, ich könnte aus Blicken und Worten ablesen, was sie über uns sagten. Ich spielte mit dem Gedanken, Rose mitzunehmen, um ein weiteres Paar offene Augen zu haben, aber Rose hatte solche Unternehmungen immer verachtet, so dass ich ihr nichts sagte, auch als sie anrief und fragte, was ich zum Abendessen machen wollte.
Cabot war nichts Besonderes, aber es lag an der Straße zwischen Mason City und Sioux City, und deshalb gab es dort zwei Antiquitätenläden und ein Bekleidungsgeschäft, das auch Stoffe verkaufte, das Cafe, den Eisenwarenhandel, das »Cool Spot« und den Futter- und Samenhandel. Die Stadt war schöner als Pike oder Zebulon. Diese beiden Städte hatten einst große Hoffnungen oder Ambitionen gehabt, deshalb waren ihre Hauptstraßen vierspurig und breiter: die Fronten der alten Läden warfen kaum über ein Viertel der breiten glänzenden Flächen ihre Schatten. Cabot andererseits war nördlich von der Cabot Street Road gebaut, und die Hauptstraße säumten Ahornbäume, die Verlyn Stanley gestiftet hatte, als all die Kastanien starben. Die Rasenflächen in Cabot waren groß und die Häuser hübsch – später viktorianischer Stil, ungefähr zwanzig Jahre älter als die Häuser in Pike und Zebulon, aber gut erhalten. Es war das Ziel vieler alter Paare, dort ihren Lebensabend zu verbringen, wenn ihre Zeit gekommen war, die Farm abzugeben und in die Stadt zu ziehen.
Old Cabot Antiques war das Geschäft, an das Rose den Garderobenständer von unserer Müllkippe verkauft hatte; deshalb war es das erste, in das ich ging. Dinah Drake war teuer. Sie rechnete nicht damit, an Leute aus der Stadt zu verkaufen, und auch wenn man nie jemanden dort sah, hielt sich das Gerücht, dass sie in den Twin Cities und Chicago Kontakte hatte und ihre besten Stücke dorthin verkaufte. Sie hatte eine freundliche Art, und sie zeigte ihre Neuerwerbungen gerne vor. Eine Erörterung darüber, wem sie gehört hatten, ging immer langsam in eine Erörterung über, wie sie in ihre Hände gefallen waren. Ihre übliche Haltung dazu war Erstaunen – darüber, dass ein aufrechter Bürger Zebulons tatsächlich zulassen konnte, dass ein solches Stück die Familie verließ, oder aber darüber, dass ein Bürger der Stadt tatsächlich den Preis bezahlte, den Dinah forderte. Narren auf beiden Seiten, und Dinah in der Mitte, ts, ts, ts machend.
Dinah bemerkte mich sofort und sagte in ihrer schleppenden Stimme: »Ja hallo, Ginny. Wie geht’s?«
Ich gab die Standardantwort: »Ich weiß nicht. Ganz gut, glaub ich.« Ich wollte ihren Mittelgang hinuntergehen, blieb aber fast sofort stehen, um mir ein paar Figürchen anzusehen, die auf der Marmorplatte einer Kommode standen. Ich drehte eine um. Dinah sagte: »Königlich Kopenhagen. Unglaublich, nicht? Auch alt. Wenn ich abends abschließe, stell ich die weg.«
Die Figur, die ich in der Hand hielt, war eine Schäferin in einem Gewand mit niedlichen rauen Porzellanrüschen. Dinah schien zu erwarten, dass ich etwas sagte, aber ich wusste, ich würde weiterkommen, wenn ich still blieb. Ich nahm eine Silberschüssel auf. Sie sagte: »Die ist nur versilbert. Ich bin mir sicher, dass sie aus dem Montgomery Ward-Katalog stammt. Trotzdem ziemlich hübsch, findest du nicht?«
Sie kam hinter dem Rollschrank hervor, den sie als Theke benutzte. »Aber dieses Königlich Kopenhagen. Kennst du Ina Baffin unten in Henry Grove?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie war hundertundvier. Sie hat sie als kleines Mädchen von ihrer Großmutter bekommen, und ihre eigene Enkelin sagt, sie interessieren sie nicht. Ina hat sie geliebt, ganz bestimmt. Diese Enkelin hat gesagt, sie wären ihr einfach zu affig. Affig! Etwas so Wertvolles wie die!« Sie nahm ein anderes Figürchen hoch, einen Flöte spielenden Knaben, und starrte es an, setzte es dann behutsam wieder ab. Ich ging höflich lächelnd den Gang weiter hinunter, wobei ich Dinge aufnahm und besah. Dinah griff zu einem Staubtuch und begann mit nachdenklicher Miene abzustauben. In einem Korb waren einige Saturday Evening Post. Ich blätterte eine durch. Dinah hielt sich in der Nähe des Geschäftseingangs auf, kam dann langsam zu mir zurück. Sie staubte jedes einzelne Stück eines rubinroten Glaskaraffensets ab, das auf einer dunklen Anrichte stand, sagte dann: »Die Leute sagen, euer Dad zieht jetzt nach Des Moines.«
»Mmm.« Ich legte mich nicht fest.
»Weißt du, manchmal rufen mich die Leute zu sich, damit ich einen Blick auf die älteren Sachen werfe, bloß um zu wissen, ob es einen Markt für sie gibt. Der Markt ändert sich die ganze Zeit…« Ihre Stimme wurde leise, dann wieder laut. »Ich wünschte jetzt, ich hätte das ganze Depressionsglas, das ich auf Farmverkäufen gesehen hab, aber damals wollte das keiner haben. Erinnerte die Leute an die Depression!« Sie lachte. »Ich würde am liebsten immer alles kaufen und einfach lagern, denn früher oder später kommt’s in Mode.«
»Daran hab ich noch nie gedacht.«
»Ja, so ist das …« Sie ging langsam davon.
Ich nahm einen Stapel alter gehäkelter Sofaschoner auf. Nicht in Mode. Der teuerste im Stapel kostete sechs Dollar, ein aufwändiges Ananasmuster aus feinstem Garn. Ich hielt ihn hoch und stellte mir dabei die Arbeit vor, die darin steckte. Sechs Dollar. Es machte mich traurig. Dinah kam wieder näher.
»Die Sache ist die, wenn ich in die Häuser von Leuten komme, bring ich sie oft erst darauf, was man mit den Sachen machen kann. Und immer haben sie so viel Kram. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel die Leute im Laufe der Jahre ansammeln. Ich nehm doch nicht an, dass dein Vater wieder arbeiten wird. Du wirst es vielleicht nicht wissen, aber es gibt einen Markt für altes Farmgerät…« Sie ließ ihre Augen auf meinem Gesicht ruhen. Sie sagte: »Es kann ein heikles Thema sein. Aber wenn sie in eine Stadtwohnung ziehen – selbst alte Kleidung – oder Schuhe. Man muss nicht alles an die Kirche oder die Heilsarmee geben.«
Ich sagte: »Ich werd mit Rose darüber sprechen. Und mit Caroline natürlich.« Bei diesem letzten Satz hob sie die Augenbrauen. Ich reichte ihr das Stück Spitze und sagte: »Ich hätte das gerne. Es ist schön.«
Sie wandte sich um und ging zu dem Rollschrank zurück. Ich öffnete mein Portemonnaie und holte das Geld heraus. Ich bemerkte, dass meine Hand zitterte.
Im Café servierte Nelda mir eine Tasse Kaffee und einen Zimttoast ohne mehr als die oberflächlichste Höflichkeit, es war, als wäre sie mir böse, hielte aber den Mund. Ein weiteres Zeichen, dachte ich.
Bei »Roberta’s«, dem Bekleidungsgeschäft, wollte ich vielleicht etwas Unterwäsche oder einen Gürtel oder ein paar Strümpfe kaufen. Roberta selbst war nicht da, und ich hatte eine freundliche Unterhaltung mit ihrer Nichte Robin, die noch die High School besuchte. Robin schien nichts zu wissen oder sich zumindest nichts zu denken. Die Ware war auf denselben Holztischen aufgebaut, die Robertas Mutter Doris schon hatte, als ich Kind war und der Laden »Doris’s« hieß. Man konnte leicht von einem Tisch zum anderen schlendern, die Preisschilder umdrehen und die Sachen auseinander falten, nur um sie sich anzusehen.
Wie viele Läden auf dem Dorf war »Roberta’s« früher die Hälfte dessen gewesen, was er heute war, und hatte sich in das nächste Gebäude erweitert, indem eine alte Wand durchbrochen worden war. »Roberta’s« hatte zwei Vordertüren, und an Sommertagen standen beide und auch die Hintertür offen. Es gab keine Klimaanlage; Roberta setzte zur Abkühlung auf Durchzug. Ich stand bei der Damenunterwäsche und hielt zwei Blusen, die ich anprobieren wollte, in den Händen, als ich Caroline die hintere Tür hereinkommen sah, gefolgt von Daddy, gefolgt von Roberta, gefolgt von Loren Clark. Caroline wandte mir den Rücken zu, weil sie Daddy die Treppe heraufhalf, Daddy sah auf seine Füße, und Robertas Blick traf meinen. Sie stockte, und ich schlüpfte hastig in eine Umkleidekabine in der Nähe. Ich probierte die Blusen nicht an. Ich stand da und hielt sie, zur Unbeweglichkeit erstarrt.
Es war nicht schwer zu hören, dass sie näher kamen. Caroline sprach mit lauter Stimme zu Daddy, und seine passte sich ihrer an. Es war, als glaubten sie beide, der andere wäre taub. Loren musste gehen, ich hörte ihn sagen: »Ich bin in fünfzehn Minuten zurück.«
Roberta sagte: »Brauchst du was Bestimmtes, Caroline?«
Caroline sagte: »Daddy braucht einiges. Daddy? Hauptsächlich ein paar Socken und so. Er hat eine Liste gemacht. Daddy? Hast du deine Liste?«
»Hab ich.«
Lange Pause.
Sie sagte: »Darf ich sie mal sehen?«
»Daddy? Darf ich die Liste mal sehen?«
Wieder lange Pause.
Schließlich sagte er: »Hast du Geld?«
»Ja, Daddy.«
»Lass mich mal sehen.«
»In meinem Portemonnaie. Ich hab genug. Ist okay.« Ich sah unterhalb des Vorhangs Robertas Füße an meiner Umkleidekabine vorbeigehen, stehen bleiben, sich umdrehen, stehen bleiben, weitergehen. Caroline sagte: »Komm, wir sehen uns die Socken an. Gefällt dir weiß, Daddy? Diese sind günstig.« Ihre Stimme war voll falscher Begeisterung, genau wie meine es immer gewesen war. Antreiben, gut zureden, dieses kleine Projekt voranbringen, nicht stecken bleiben. Nach ein oder zwei Minuten sagte sie: »Die hier sind schön, Daddy. Die Hacken sind verstärkt, und sie sind hundert Prozent Baumwolle. Das wird sich an deinen Füßen gut anfühlen.«
»Komm, wir setzen uns.«
Schlurfende Fußtritte, dann das Scharren eines Stuhls. Er sagte: »Komm, setz dich hierhin.« Sein Ton war zu gleichen Teilen kommandierend und bettelnd. Er jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Ich bemerkte die beiden Blusen, die ich vom Ständer genommen hatte. Ich hielt sie noch immer in der Faust umklammert. Ich hängte sie an den Haken, schüttelte meine Hand aus.
Caroline sagte: »Daddy, wir sollten …«
»Willst du dich nicht setzen? Komm, setz dich zu mir.«
Sie ließ ein Lachen hören und sagte: »Oh, okay.« Ich schob den Vorhang einen Spalt beiseite. Die Stühle, auf die sie sich gesetzt hatten, standen auf halbem Wege zwischen mir und der Tür. Ich zog mich wieder ins Dämmerlicht der Umkleidekabine zurück. Es war kein Stuhl da, und der Vorhang reichte nicht ganz bis zum Fußboden, so dass ich mich nicht auf den Boden setzen konnte, ohne gesehen zu werden. Ich lehnte mich an die Wand. Er sagte: »Du warst ein kleines Täubchen. Weißt du noch, den braunen Mantel, den du hattest? Kleinen Hut auch dazu. Du warst so stolz drauf. War, glaub ich, dieses Samtzeugs.«
»Duvetine«, sagte Caroline.
»Ich hab dich mein kleines Täubchen genannt. Du hast einfach wie ’n kleiner Zaunkönig ausgesehen.«
»Hab ich das?«
Ich kniff die Lippen zusammen.
»Gemocht hast du’s nicht, nein, nein. Du wolltest keinen braunen Mantel und Hut. Du wolltest rosa! Bonbonrosa. Du hattest ’ne feste Vorstellung von dem rosa Duvetin in deinem Köpfchen, und du bist mit einem rosa Buntstift an den Mantel gegangen!« Er lachte ein volles glückliches Lachen. »Deine Mama hat dich dann natürlich verdreschen müssen!«
»Ich erinner mich an nichts davon. Ich erinner mich an etwas Rotes – eine Jacke mit Herzen um …«
»Warst auch von den Schächten nicht wegzuhalten! Egal, ob du ’ne Tracht Prügel kriegtest oder nicht, kurz darauf warst du schon wieder über die Straße und hast irgendwelchen Kram durch die Gitter gesteckt! War wie ’ne Motte und ’ne Flamme. Deine Mama sagte, verstehst du jetzt, und du hast ihr direkt ins Gesicht geguckt und gesagt, ja, Mama, und weg warst du. Ich zog alle Schrauben nach. Ich wusste, die Gitter würden drei Mann halten, aber es hat mich trotzdem so nervös gemacht, dass ich Schrauben besorgte und sie überall doppelt anschraubte. Danach hab ich mir dann Sorgen über die Autos auf der Straße gemacht.«
Sie lachten.
Ich spürte einen sausenden Druck in meinem Kopf, und die weißen Wände der Umkleidekabine veränderten ihre Farbe.
Caroline sagte: »Wir müssen heute mit Ginny und Rose reden, Daddy.«
Er sagte nichts.
»Wir müssen unbedingt mit ihnen reden. Ich möchte mit ihnen reden. Ich möchte ihnen sagen …«
Er murmelte bettelnd: »Wir brauchen sie doch nicht.«
»Wir brauchen sie nicht, Daddy, ich weiß, aber …«
»Alles, was wir brauchen, ist das hier.« Ich lehnte die Stirn gegen die kühle Noppenwand.
»Aber ich finde …«
Seine Stimme war warm und leise. »Sie werden eifersüchtig sein. Du kennst sie doch. Du bist genug für mich. Komm, lass uns jetzt zu Harold zurückfahren. Da ist Loren.«
»Wir haben die Socken nicht …«
»Nimm die Dinger. Sind okay.« Ihre Stühle scharrten, und Lorens Stimme sagte: »Fertig?«
Daddy sagte: »Das ist ein guter Junge.«
Zehn Minuten später saß ich im Auto und fuhr Richtung Osten. In meinem Kopf hämmerte es, und ich wusste kaum, wo ich hinfuhr. Die Luft kam mir intensiv heiß vor, obwohl ich mich erinnerte, dass es vorher angenehm kühl gewesen war. Trotzdem. Ich musste mein Fenster hochgekurbelt lassen, damit ich den Kopf von Zeit zu Zeit dagegen lehnen konnte. Ich sah Loren und seinen Truck auf Haralds Hof. Die anderen mussten hineingegangen sein. Ich beschleunigte, als ich vorüber fuhr, und er winkte nicht.
Rose nähte auf ihrer Maschine. Die Mädchen waren nicht zu sehen, aber selbst wenn ich sie gesehen hätte, ich war mit meiner Frage zur Tür reingeplatzt: »Rose, welche Farbe hatte dein Mantel, als du fünf oder so warst?«
Rose, niemals entgeistert, beendete ihre Naht, nahm den Fuß vom Pedal, hob den Nähfuß und schnitt die Fäden ab. Dann sagte sie: »Der einzig schöne Mantel, den ich hatte, war dieses braune Duvetindings, das Mommy von irgendeiner Cousine in Rochester bekommen hat. Kleines spitzes Käppchen dazu. Ich hasste das Ding.«
»Welche Farbe wolltest du als Mantel?«
»Oh, rosa wahrscheinlich. Rosa hab ich jahrelang über alles geliebt.«
»Hat Caroline den Mantel bekommen?«
»Nein. Mommy hat ihn zu Putzlappen zerschnitten, weil ich mal irgendwas draufgekotzt hatte und sie die Flecken nie rausgekriegt hat.« Sie sah mich an. Sie sagte: »Ginny, du siehst fürchterlich aus.«
Ich fiel in einen Sessel. Ich sagte: »Ich war bei ›Roberta’s‹, und Daddy und Caroline sind reingekommen. Ich kann dir den Ton seiner Stimme nicht beschreiben, mit dem er zu ihr gesprochen hat. Total weich und zärtlich, aber mit einem Unterton, den ich nicht beschreiben kann. Ich war beinahe ohnmächtig geworden.« Sie legte ihre Näharbeit nieder und stand auf. Auf dem Fernseher stand ein Ventilator, und jedes Mal, wenn er sich zu mir drehte und in mein Gesicht blies, fühlte ich mich ruhiger. Rose starrte mit absoluter Ernsthaftigkeit auf mich herunter, ihre Augen tief und dunkel, ihr Mund aus Marmor gemeißelt. Sie sagte: »Sag’s.«
»Sag was?«
»Sag’s.«
»Es ist so gewesen, wie du sagst. Es ist mir klar geworden, als ich in meinem alten Zimmer das Bett für Jess Clark gemacht hab. Ich hab mich aufs Bett gelegt, und ich hab mich erinnert.«
Sie ging an die Nähmaschine zurück. Sie sagte nichts, aber die mechanische Art, mit der sie ihre Teile zusammennähte und in ein Paar khakifarbene Hosen verwandelte, war beruhigend genug.