Als ich dreieinhalb Jahre alt war, gab Ruthie Ericson mir siebenundzwanzig Babyaspirin zu essen, während ich auf der Toilette saß. Ich weiß, dass sie würfelförmig und gelb und süß waren, und ich weiß, dass ich auf dem Rücken lag und unter kreisrunde Lichter gerollt wurde, was im Krankenhaus von Mason City gewesen sein muss. Was mir als deutlicher Teil dieser Erinnerung im Gedächtnis blieb, war die Vermutung, dass die Tabletten zu essen etwas Verbotenes war, und irgendwie stand das in Verbindung damit, dass ich auf der Toilette saß. Es muss Sommer gewesen sein; ich erinnere mich an das Gelb meines Oberteils, meinen rosa Bauch darunter, das V meiner Oberschenkel, die sich über der dunklen Toilettenschüssel spreizten, und den weißen Halbkreis des Sitzes dazwischen. Ich trug dunkelblaue Turnschuhe. Ihre runden Gummispitzen baumelten über dem grau gesprenkelten Linoleum. Meine Shorts lagen auf dem Boden unter meinen Füßen. Ich frage mich, ob eine so lebendige Selbstbeobachtung mein Normalzustand war oder ob die verbotenen Tabletten mir das Bild eingeprägt haben.
Wenn ich über diese Erinnerung nachdenke, komme ich dicht an die Erinnerung, wie Kindheit sich angefühlt hat, dass ihr Kennzeichen die Unmittelbarkeit jeder einzelnen physischen Wahrnehmung war, auch die vertraute Fremdheit der eigenen Körperteile – Füße und Hände besonders, aber auch Brust, Knie, Bauch. Ich glaube, ich erinnere mich daran, wie ich über diese zu mir gehörenden Dinge nachdachte, sie betrachtete, sie befühlte, sie von innen und von außen spürte, mich fragte, was sie waren, weil man sich einfach fragen musste, nicht weil Antworten möglich gewesen wären.
Es muss irgendeine Komponente der Angst in diesem Sich-Fragen gegeben haben, weil mir immer wieder gesagt wurde, dass ich »eine feste Hand« brauchte. Das war die Wendung, die meine Eltern gebrauchten. Daddy sagte zu Mommy, dass ich eine feste Hand brauchte, oder Mommy sagte das zu mir. Ich wusste auch, wessen Hände es waren, die fest sein mussten, ebenso wie ich wusste, was es bedeutete, in ihren Händen zu sein. Wenn Mommy nicht da war, waren es Daddys Hände. Sie sagten uns, wenn wir »ungezogen« gewesen waren – ungehorsam, achtlos, zerstörerisch, unordentlich, andere verletzt hatten, trotzig –, dass wir lernen mussten, und ich denke, dass meine Selbstbeobachtung vielleicht aus dieser Notwendigkeit geboren wurde. Ich denke, ich muss versucht haben, diese eigensinnigen Körperteile von mir, die immer wieder ins Ungezogensein abirrten, zu kontrollieren.
Ich erinnere mich daran, wie ich aussah, weil ich anders als Mommy und erst recht anders als Daddy aussah. Daddy war nie ohne Arbeitssachen, gewöhnlich Overalls, und Mommy trug immer ein Kleid. Allein in meinem Bett, unter den Laken, wenn ich durch die Taille meines Schlafanzugs hindurch sah oder das Oberteil aufknöpfte, entdeckte ich, dass ich in meinen Kleidern nackt war, und eine andere Sache, an die ich mich deutlich aus meiner Kindheit erinnere, ist dieses Bewusstsein von sich selber unter den eigenen Kleidern. Drückende Schuhe, kratzende Unterhosen, ein Kleid, das über den Schultern oder um die Ärmelbündchen zu eng ist, kurze Söckchen, die in den Hacken meiner Schuhe Wulste bildeten. Mommy und Daddy jammerten nie über ihre Kleidungsstücke, aber meine erschienen mir als ewige Tortur. Am ersten Schultag, erste Klasse, war ein Kleid, das Mommy mir genäht hatte, in der Taille zu hoch und zu eng. Jedes Mal, wenn ich einen Arm hob oder mich nach vorne beugte, rutschte die Taille gegen meine unteren Rippen hoch. In der letzten Pause, als einer der Jungen die Schaukel nicht freimachen wollte, biss ich ihn in den Arm, dass es blutete. Er musste zum Arzt und bekam eine Tetanusspritze. Zu Hause wurde ich verdroschen und musste eine Stunde lang auf einem Stuhl sitzen, ohne mich zu rühren. Das Kleid hatte mich verrückt gemacht. Ich erinnere mich, wie ich meine Haut über dem ganzen Körper fühlte, ihre exakte Oberfläche gegen die Welt fühlte.
Ty und ich verbrachten unsere Hochzeitsnacht im Savery-Hotel in Des Moines. Ich war neunzehn. Ich hatte noch nie meine Brüste berührt, außer um sie im Büstenhalter zurechtzurücken oder um sie mit einem Waschlappen zu waschen. Es kann tatsächlich gut sein, dass meine Hände und mein Körper einander nie ohne einen Waschlappen dazwischen getroffen hatten. Auf jeden Fall wurde viel Zeit mit Schrubben zugebracht; die Waschlappen in unserem Haus waren rau und die Seifen scharf. Ebenso wie man die Farm nicht ins Haus lassen wollte, so wollte man sie auch nicht an sich tragen, besonders nicht, wenn man in die Stadt ging. Das war eine Sache des Stolzes. Aber das Schrubben ging darüber hinaus. In und hinter den Ohren, um den Hals herum, über das ganze Gesicht, die Knöchel, die Fingernägel, unter den Armen, den Rücken, so weit man herankam, dann alles unten. Ich vermute, wovor ich Angst hatte, war eine Art von Gestank. Ich erlaubte mir nie, wirklich daran zu denken. Ich schrubbte mich ganz genauso vor meiner Hochzeit, wusste ich doch, dass, wenn wir in Des Moines waren und mein Reisekleid herunterkam, Ty abgestoßen sein würde, wenn ich nicht vollkommen sauber und geruchsfrei wäre.
Er war nicht abgestoßen, aber er versuchte, nicht übermäßig neugierig zu sein, was bedeutete, dass wir uns bei ausgeschaltetem Licht auszogen und uns das erste Mal auf Umarmungen und Küsse beschränkten und auf ein Eindringen, das in erster Linie praktisch und hygienisch zu sein schien. Während wir es taten, schickte ich ein kleines Gebet zum Himmel, dass meine Periode nicht plötzlich käme, mittendrin, als Reaktion auf die Entjungferung. Es würden Blutstropfen kommen, hatte ich gehört, deshalb hatte ich mir einen Hotelwaschlappen neben das Bett gelegt, den ich mir, kaum war er aus mir heraus, zwischen die Beine drückte. Es kamen keine Blutstropfen, nur die Nässe unserer gemischten Flüssigkeiten, aber es gelang mir, das Laken davor zu schützen. Am nächsten Tag warf ich den Waschlappen in den Müllschlucker am Ende des Gangs. Ich erinnere mich an jenen Waschlappen, den sichtbaren Beweis dafür, dass meine mitternächtlichen Erlebnisse mit Daddy in meiner Erinnerung keine Spur zurückgelassen hatten.
Aber ich war beim Sex sehr empfindlich. Er war umgeben von widersprüchlichen kleinen Ritualen. Es musste irgendwo Licht im Zimmer sein, wenn auch nur vom Flur. Tagsüber war besser als nachts, und keine Überraschungen. Ich trug immer ein Nachthemd. Wenn er es hochschob, schloss ich die Augen. Wenn er aber in mich eindrang, waren meine Augen weit geöffnet, und ich starrte in sein Gesicht. Ich hasste es, wenn er sich wegdrehte oder runtersah. Ich mochte es nicht, wenn einer von uns beiden sprach. Er machte das Beste daraus, und ich verweigerte mich ihm nie.
Ich wollte meinen Körper nicht ansehen.
Ich nahm an, dass all dies normal sei, dass es für jede andere Frau auch so sei. Es war selbstverständlich, dass Körper dauerhaft in die Kategorie des Unaussprechlichen fielen. Ich weiß nicht, ob es viel mehr an Kommunikation gegeben hätte, wenn unsere Mutter noch gelebt hätte – obwohl sie mir immerhin sagte, ich solle nie »spitze Büstenhalter« tragen; sie seien »zu anzüglich«. Sie riet mir auch von Unterhosen aus Nylon ab, weil sie »rutschig« waren und einem »ein komisches Gefühl« gaben.
Eine Sache, die Daddy mir nahm, als er nachts zu mir in mein Zimmer kam, war die Erinnerung an meinen Körper.
Ich habe nur eine Erinnerung an meinen Teenagerkörper. Ich war vierzehn, in der neunten Klasse, und es war Samstagabend. Ich ging zu Bett. Ich setzte mich, um meine lange Unterwäsche auszuziehen, und als ich die gekräuselte Baumwolle mein rechtes Bein hinunterschob, entdeckte ich, dass mein Bein schlank war und so aussah, wie es den Zeitschriften zufolge auszusehen hatte. Kürzlich hatte sich Rita Benton während des Sportunterrichts über ihre Beine beklagt und sie »Baumstümpfe« genannt. Ich hatte ihre Enttäuschung bemerkt, aber nicht mit mir selber in Verbindung gebracht. Jetzt sah ich, dass ich mehr Glück als Rita gehabt hatte – mein Bein war von der Ferse bis zum Schritt schlank. Ich zog die langen Unterhosen aus und steckte meine Beine dankbar unter die Bettdecke. Ich gelobte, nie eitel auf sie zu sein. Ich sah mir noch nicht einmal das andere Bein an; ich sah davon weg und konzentrierte mich gewaltsam auf irgendeine Mathematikaufgabe, um einschlafen zu können.
Also kam mein Vater zu mir und hatte mitten in der Nacht Verkehr mit mir. Ich konnte mich erinnern, dass ich immer so tat, als schliefe ich, obwohl ich wusste, dass er im Türrahmen stand und näher kam. Ich konnte mich erinnern, wie er sagte: »Ruhig jetzt, Mädchen. Du brauchst dich nicht zu wehren.« Ich erinnerte mich nicht daran, dass ich mich jemals gewehrt hatte, aber er war sowieso immer darauf gefasst, auf Widerstand zu stoßen. Ich erinnerte mich an sein Gewicht, das Gefühl, wie sich sein Knie zwischen meine Beine drückte, während ich versuchte, meine Beine schwer zu machen, ohne dass es nach Widerstand aussah. Ich erinnerte mich, dass er Nachthemden trug, die in dem trüben Licht blass aussahen, und Socken. Ich erinnerte mich, dass seine Hände hart von Schwielen waren und an den Laken hängen blieben. Ich erinnerte mich, dass er eine Menge Gerüche mitbrachte – Whiskey, Zigarettenrauch, die süßen und sauren Gerüche der Farmarbeit. Ich erinnerte mich, immer und immer wieder, wie sein Kopf von oben aussah. Aber nie erinnerte ich mich an Penetration oder Schmerzen oder auch nur seine Hände auf meinem Körper, und ich bekam nie heraus, wie viele Male es passiert war. Ich erinnerte mich an meine Strategie, die aus verzweifelter kraftloser Unbeweglichkeit bestanden hatte.
Was ich von Daddy in Erinnerung hatte, gerann nicht zu einer vollen Gestalt, mir blieben nur einzelne Fragmente aus Geräusch und Geruch und Gegenwart. Die Fähigkeit, die Rose besaß, sich zu erinnern, zu wissen, zu urteilen, so als beobachtete sie unseren Vater ständig durch das Fadenkreuz eines Bombenvisiers, war ihr besonderes Talent, und es hatte sich nicht auf mich übertragen.