38

Jedes Fenster in Roses Haus war erleuchtet. Jedes in Jess’ Haus war dunkel.

Rose riss die Tür auf und sagte: »Willst du was zu trinken? Ist jede Menge übrig.«

Ich nahm einen Wodka mit Tonic, das Gleiche wie Rose. Sie sagte: »Trink ihn auf Pete. Das zumindest hätte er für dich getan.«

Ich hatte Rose selten beschwipst gesehen, aber diesmal war es irgendwie beruhigend. Ich musste von dem Wodka niesen. Ich setzte mich aufs Sofa. Das Wohnzimmer war makellos, die wirkliche Rose. Offensichtlich hatte sie getrunken und sauber gemacht. Sie merkte, wie ich mich umsah, und sagte: »Du solltest erst mal die Küchenschränke sehen. Ich hab alles mit Seifenlauge abgewaschen und neues Schrankpapier reingetan. Schwarz umrandet für Witwen. Das Beerdigungsinstitut hat eine Konzession für so was. Schrankpapier, Schubladeneinlagen, aufblasbare Pulloverbügel, Staubwedel aus Rabenfedern, alles für die Hausfrau-Witwe.«

»Das glaub ich dir nicht.«

»Oh, Ginny, du nimmst immer alles so wörtlich.«

»Nein, tu ich nicht. Ich hab nur gerade jetzt nicht besonders viel Humor.«

»Hattest du früher mal.«

»Wann?«

Sie nippte an ihrem Drink, während sie mich ansah, sagte dann:

»Weiß nicht mehr.«

Ich lächelte.

Sie sagte: »Wo ist Ty?«

»Schläft.«

»Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich wusste, du würdest im Bett sein, und ich musste dich einfach anrufen.«

»Findest du’s eine gute Idee, wenn du trinkst, wo du doch auf sie aufpassen musst?«

»Ich hab’s ihr vorher gesagt.«

»Hast du?«

»Ja, klar. Ich wollte nicht, dass sie überrascht ist oder Angst bekommt, wenn ich ihr komisch vorkomme, deshalb hab ich ihr gesagt, ich müsste mich einfach ein bisschen betrinken, und sie hat gesagt, das war okay, solange ich nicht mit dem Auto irgendwohin fahr.«

»Wie geht’s ihnen? Sie tun mir so Leid.«

»Du hast sie gesehen. Sie sind wie vom Donner gerührt. Ich hasse Pete dafür.« Dies spuckte sie geradezu aus. Dann rief sie: »Hast du mich gehört, Pete? Diesmal hast du wirklich alles versaut.«

Ich beugte mich vor. »Schsch!«

»Sollen sie mich ruhig hören! Ich will, dass sie mich hören! Er hat alles versaut. Nicht mein Leben, aber ihr Leben! Ich will, dass sie wissen, dass ich’s weiß!«

»Er ist tot!«

»Soll er mir deshalb etwa Leid tun? So, wie er gestorben ist, hat er unter Garantie nichts mitgekriegt.«

»Ich wünschte, du würdest nicht …«

»Ungebärdig werden?«

»Hm, ja.«

»Scheiße.« Aber sie sagte das nicht böse.

Sie nahm noch einen Schluck und stand auf. Ich sah sie an. Sie sagte: »Heh. Steh auf.«

»Was?«

»Steh auf. Komm hoch.«

Ich stand auf.

»Komm, wir rücken das Sofa von der Wand weg. Hier, hilf mir. Sie hob bereits den Couchtisch aus dem Weg. Sie schob die Ärmel ihres Pullovers hoch. Ich sagte: »Es ist unheimlich spät dafür, auf jeden Fall steht’s hier gut. Ist die längste Wand. Sonst müsste es diago …«

»Ich will’s nicht woanders hinstellen. Ich will’s nur von der Wand abrücken, damit ich mit dem Staubsauger dahinter komm.«

»Es ist zwei Uhr morgens!«

Aber sie war nicht aufzuhalten. Wir hievten das Sofa ein Stück von der Wand weg. Rose holte den Elektrolux aus dem Wandschrank im Flur und stöpselte ihn ein. Nachdem sie hinter dem Sofa gesaugt hatte, kippten wir es auf den Rücken, und sie saugte die Staubflocken von der Unterseite ab. Wir schoben es zurück. Durch das mahlende Geräusch des Staubsaugers hindurch schrie sie: »Komm, wir ziehen jetzt den Herd vor, und ich mach dahinter sauber.«

Wir zogen den Herd vor. Eigentlich war es ziemlich sauber dahinter.

Rose machte sich noch einen Drink. Ich goss mir ein Glas Orangensaft ein. Sie sagte: »Komm, wir gehn raus.«

»Wohin raus?«

»Einfach nur raus. Wir können uns die Sterne ansehen oder sonst was.«

»Und was ist mit Pammy?«

»Ich geh nach ihr gucken. Wenn sie schläft, okay. Wenn sie wach ist, werd ich’s ihr sagen.«

Zwei Minuten später standen wir mitten auf der County-Straße. Rose sah zu den Sternen hinauf. Ich sah zu dem linken Fenster im zweiten Stock von Daddys früherem Haus hinüber. Als ich dort stand, kehrte die Nacht, als ich Jess Clark gesagt hatte, dass ich ihn liebte, so lebhaft zu mir zurück, dass ich spürte, wie mein Körper erst heiß, dann kalt vor Scham wurde. Ich hob die Augen zu den Sternen. Sie sahen trübe aus durch die Feuchtigkeit, und sie wurden trüber, während ich zu ihnen aufsah. Ich berührte meine Augenlider mit den Fingern. Tränen.

»Ginny, du weißt nicht, wie es mit Pete war. Als ich aus dem Krankenhaus zurückkam, hat er mir gesagt, es sei ihm lieber, wenn ich mein Nachthemd anbehielte, solange er im Raum sei.«

Ich sah sie an. Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht, und diese Geste sah beschwipst, aufgelöst aus.

Sie sagte: »Es war nie gut. Es war hin und wieder aufregend, weil Pete so unberechenbar war, aber …« Sie hielt inne, drehte sich um und sah mich an. Ihr Gesicht hatte die Farbe des Mondes und war dünn. Ihre Augen lagen im Schatten. »Alles, was ich wollte, als ich Pete traf, war jemand, der aufregend genug war, um Daddy auszulöschen. Und ich dachte, Pete würde bestimmt in Chicago landen und da Musik machen, irgendwo, wo Daddy noch nicht einmal zu Besuch hinkommen würde. Das war ganz am Anfang. Aber er hat damit kein Geld gemacht. Ich meine, bei den Tanzereien gab’s fünfundzwanzig Dollar pro Abend oder weniger. Also wollten wir wieder hierher ziehen, bloß so lange, bis seine Freunde einen Plattenvertrag in L. A. hatten und uns holten. Das sollte einen Sommer dauern, höchstens. Einen Sommer. Aber Pete hatte Streit mit ihnen, und die Verbindung brach ab, und ich kriegte den Job an der Grammar School, und dann dachte ich, das war ein Weg, zu ein bisschen Geld zu kommen. Wir hatten jeden Monat einen neuen Plan, aber Pete verhunzte sie jedes Mal mit seinem Temperament oder mit seinem Übereifer. Er zeigte den Leuten zu deutlich, wie sehr er sie brauchte, und das mochten die nicht. Als Pammy geboren wurde und dann Linda kurz hinterher, hab ich einfach aufgegeben! Aber es war nie gut! Es war noch nicht einmal ruhig und sicher, so wie bei dir und Ty!«

Ich wusste, wenn ich meinen Mund hielt, würden alle Fragen früh genug beantwortet werden.

Rose sah über die Straße und sagte: »Es ist eine so große Versuchung, einfach rüberzugehen, aber ich weiß, Pammy wird wach.«

»Wo rüberzugehen?«

Sie zeigte auf die große quadratische Fassade von Daddys Haus.

»Warum um alles in der Welt?«

Sie warf mir einen Seitenblick zu.

Mein Verstehen, das langsamer als meine Frage war, hielt genau Schritt mit ihrer Antwort, so dass es war, als formte ich die Worte mit den Lippen, als sie sagte: »Um mit Jess ins Bett zu gehen.« Dann: »Oh, guck mich nicht so schockiert an. Ich will mich damit jetzt nicht befassen.« Sie drehte sich um und begann, die Straße nach Süden hinunterzugehen. Ich sah ihr nach, lief dann hinter ihr her. Sie sagte: »Frag mich was. Irgendwas.«

»Warum?«

»Weil ich dir die Wahrheit sagen will.«

»Dann sag sie einfach.« Das sagte ich, aber ich wusste, ich wollte sie nicht hören.

Sie sagte: »Mir ist klar, dass Liebhaber zu haben nicht gerade was ist, was die Frauen hier tun, obwohl ich vermute, es kommt öfter vor, als wir glauben. Ich weiß, du kannst das nicht billigen, aber es ist mir wichtig, dass du’s verstehst. Er ist der Erste, dem ich vertraue.«

»Der Erste?« Ich sprach es nur nach. Ich hatte nicht eigentlich das Gefühl, dass ich wusste, was ich sagte, aber ihr schien das zu genügen.

»Okay, ja.« Sie wippte auf den Absätzen. »Ich hab während meiner Collegezeit mit vielen Männern geschlafen, und ab und zu auf der High School auch schon, aber seit Pete hat’s vor Jess nur einen gegeben. Ich hab immer gedacht, einer von ihnen müsste schließlich Daddy verdrängen. Das hab ich am Anfang gedacht. Später hab ich gedacht, wenn’s nur genug wären, würde es ihn sozusagen in einen Zusammenhang einreihen oder irgendwie unwichtiger machen.« Sie sah mich wieder an. »Weißt du, was Pete immer gesagt hat? Dass ich besessen von Sex war, aber auf negative Weise. Wie auch immer, ich hab ihm lange nichts von Daddy erzählt.«

»Wer war der eine seit Pete?« Ich erwartete, ehrlich gesagt, dass sie Ty sagen würde.

»Es war Bob Stanley, aber es war nichts. Es dauerte einen Sommer.«

Dann sagte sie: »Das jetzt ist Liebe.«

Ich sagte: »Was heißt das?« Ich bin mir sicher, dass ich feindselig klang, aber sie entschied sich, es als echte Frage anzusehen. Ich sah ihr gerade ins Gesicht. Ihr Ausdruck war erst herausfordernd, dann zweifelnd, dann abwägend, dann vorsichtig.

Sie sagte: »Na ja, natürlich ist es aufregend. Aber ich weiß, das wird vergehen. Wir schlafen erst seit drei Wochen miteinander, und es ist schwer, ungestört zu sein, wie du dir vorstellen kannst.«

Sie machte eine Pause, fuhr dann fort: »Er scheint diesen Sinn für meinen Körper zu haben …« Sie warf mir einen Blick zu, redete dann behutsam weiter: »Er sieht ihn einfach viel an, weißt du, berührt ihn, als sei er dankbar für ihn. Er sagt, weißt du, dass meine Schultern schön geformt sind oder dass er meinen Rücken gerne mag. Er sieht mich anders, als die anderen Männer mich gesehen haben.«

Ich erinnerte mich an das, was er über die Verlobte gesagt hatte, ihre Augen und Zähne. Er hatte meine Knöchel bewundert. Ich erinnerte mich, wie ich dieses Kompliment beschützt und mir immer wieder vorgesagt hatte, um mich zu vergewissern, dass Jess mein wahres Ich gesehen und geschätzt hatte.

»Ich weiß, dass das aufhört. Ich weiß, diese ganze Dankbarkeit für den Körper des anderen hört auf, aber sie ist schön. Ich meine, ja, ich weiß, sie hört auf, aber ich kann nicht genug davon kriegen, solange sie andauert. Aber das ist nicht eigentlich das Wichtige.«

»Wenn das aufhört, hört dann nicht alles auf? Ich meine, ist es nicht gerade das, worum es in einer Affäre geht?«

»Tja, dieses geht weiter. Diesmal ist es das Richtige.«

Ich gab mir Mühe, einen Ton von Sympathie in meine Stimme zu legen. Wir waren einige Schritte gegangen, deshalb drehte ich mich um. Ich fand nicht, dass Pammy ganz alleine gelassen werden sollte.

»Rose«, sagte ich leise und leichthin. »Jess ist ein ruheloser Mensch. Er hat sich nie irgendwo niedergelassen. Diese Geschichte mit Harold wird ihm auch nicht helfen, sich niederzulassen. Außerdem hat er jede Menge Frauen gehabt. Darauf würd ich wetten. Wenn er sich nicht eindeutig bindet …«

»Aber das hat er! Ich hab ihn viel mehr auf Abstand gehalten als er mich. Er bedrängt mich immer, doch einfach …«

»Einfach was?« Ich klang so gleichgültig.

»Ja, das ist es gerade, was wir nicht entscheiden können. Wo. Was. Die Mädchen. Ich mein, ich hab sogar noch Pete gegenüber eine gewisse Loyalität empfunden, nach all den Jahren und all dem Mist. Ginny, du bist weiß wie ’ne Wand.«

»Geh einfach weiter. Hast du Pete von Jess erzählt?«

»Ja.«

»An seinem letzten Tag?«

»Vor Wochen. Also, vor einer Woche.«

»Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt, er würde Daddy umbringen.«

»Was?«

»Ich mach keine Witze. Seine Reaktion auf die Nachricht, dass ich ihn wegen Jess Clark verlassen würde, war, dass er Daddy umbringen wollte, und wenn Harold dazwischenkommen würde, den auch.«

Ich dachte darüber nach.

»Er hat den Wassertank auf Harolds Düngertank geleert.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Pete.«

Das war wirklich schockierend, etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich sagte: »Himmel. Was hat er sich in Gottes Namen dabei gedacht?«

»Er hat sich dabei gedacht, dass Daddy vielleicht ein bisschen auf der Farm arbeiten würde. Er hat gesagt, er hat Daddy morgens auf Harolds Traktor gesehen, sie haben Loren und Harold zufällig im Cafe getroffen. Er hat zwei und zwei zusammengezählt und bekam wie immer drei heraus.« Ihr Lachen hallte in der Nacht.

»Ich kann’s nicht glauben.«

»Mensch, Scheiße, Ginny. Er war unglaublich fixiert auf Daddy. Er hat ihn für alles, was in unserem Leben schief ging, verantwortlich gemacht. Er hat immer gesagt, er hätte Angst davor, er würde Daddy im Jähzorn umbringen, aber ich denk eigentlich, das hätte er nie gekonnt – Daddy war zu stark. Aber dann wurde Daddy schwächer, und als ich ihm von Jess erzählt hab, hat er sich jeden Abend betrunken, und jeden Abend ist er rüber zu Harold gefahren, hat die Fenster des Hauses angestarrt und getrunken. Ehrlich gesagt, mir war das nur recht. Das war besser, als wenn er mir im Zimmer gegenübersaß und mich anstarrte, wie er’s vorher immer gemacht hat.«

»Ist Daddy noch da drüben?«

Rose zuckte die Achseln. »Ich hab Pete gesagt, er war wahrscheinlich in Des Moines, aber er war völlig von Sinnen. Er hat gesagt, er hätte ihn gesehen. Ich weiß nicht.«

Ich sagte: »Findest du nicht, dass das eigentlich das Allermerkwürdigste ist?«

»Was?«

»Dass wir nach all den Jahren nicht wissen, wo Daddy eigentlich ist.«

Wir sahen uns an. Rose sagte: »Für mich ist das Freiheit.«

Nach einer Weile sagte sie: »Wie auch immer, ich bin sicher, Pete hat noch im Sterben bedauert, dass er Daddy nicht mehr erwischt hat.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. War er nicht wütend auf dich?«

»Auf Daddy. Er hat einfach an mir vorbeigesehen, immer nur Daddy. Er war eifersüchtig, Ginny! Ich hab oft gedacht, dass er letztendlich wahnsinnig eifersüchtig war, aber zu viel Angst hatte, bis er dann sah, dass Daddy schwächer wurde …« Sie hielt inne und stieß ein raues kleines Lachen aus. »Selbst dann konnte er nichts direkt tun. Bloß drohen.« Sie zog durch die Nase hoch und sagte dann:

»Scheiße, Ginny. Im Grunde genommen sind sie alle so.«

»Wir glauben das wegen Daddy. Wenn er nicht… Wenn er …«

Sie richtete sich auf und sah mich an. »Nenn’s beim Namen, Ginny! Wenn er uns nicht gebumst und geschlagen hätte, würden wir anders denken, stimmt’s?«

»Hmm, ja.«

»Aber er hat uns gebumst und er hat uns geschlagen. Er hat uns mehr geschlagen, als er uns gebumst hat. Er hat uns routinemäßig geschlagen. Und die Sache ist die, er wird geachtet. Die andern mögen ihn und sehen zu ihm auf. Er passt genau ins Bild. Wie viele von denen auch immer ihre Töchter oder ihre Stieftöchter oder ihre Nichten gebumst haben oder auch nicht, Tatsache ist, dass sie alle Schlagen als eine Art zu leben akzeptieren. Wir haben zwei Möglichkeiten, wenn man’s bedenkt. Entweder kennen sie sein wahres Ich nicht, wir aber, oder sie kennen sein wahres Ich, und die Tatsache, dass er uns geschlagen und gebumst hat, zählt nicht. Entweder sind sie böse oder sie sind dumm. Das ist die Sache, die mich umbringt. Dieser Mensch, der seine eigenen Töchter schlägt und bumst, kann in die Öffentlichkeit treten und wird geachtet und ist mächtig, und er setzt auch noch voraus, dass er das verdient.«

»Mommy hat uns auch verhauen.«

»Aber sie hat uns nicht ausgepeitscht. Sie hat uns nicht ins Gesicht geschlagen oder einen Riemen genommen, sie hat nie ihre ganze Kraft aufgeboten. Er ja! Und wenn sie versucht hat, ihn dazu zu bringen, dass er aufhörte, hat er sie auch angeschrien.«

Sie ging um mich herum. Als sie dann weiter sprach, kam ihre Stimme gefasst und zuversichtlich heraus. Sie sagte: »Ich hab gedacht, hier weggehen war die einzige Alternative. Aber dann hat Pete mir diesen Gefallen getan. Uns. Nicht Pammy oder Linda. Das weiß ich. Sondern mir.« Sie wandte sich mir zu. »Ich will das, was Daddy gehört hat. Ich will’s. Ich spüre, dass ich dafür bezahlt hab, du nicht? Glaubst du, eine Brust wiegt ein Pfund? Das ist mein Pfund Fleisch. Glaubst du, eine Teenagernutte kostet fünfzig Dollar die Nacht? Macht zehntausend Dollar. Ich wollte, dass er bereut und weiß, was er getan hat und was er ist, aber wenn sie ihn in der Stadt treffen und mit ihm reden, ist er ganz einfach senil. Er ist jetzt vor der Wahrheit sicher. Die Leute tätscheln ihm den Kopf und fühlen mit ihm und sagen, was für Luder wir sind, und er glaubt ihnen, und das ist es dann, Ende der Geschichte. Ich ertrag das nicht.« Ihre Stimme ging schrill in die Höhe.

Ich sagte: »Ich fühl mich komisch. Ich muss echt müde sein«, aber ich wusste, es war keine Müdigkeit. Dann sagte ich: »Okay. Kann ich dich was fragen? Hast du gewusst, dass Jess Clark mit mir geschlafen hat?«

Sie lächelte. »Oh, na klar.«

Es tat weher, als ich vermutet hatte, obwohl ich nicht überrascht war. Ich sagte: »Hat er damals schon mit dir geschlafen?«

Sie machte eine Pause, sagte dann: »Nein.«

»Er hat’s dir erzählt?«

»Irgendwann. Ist schon etwas her.«

»Das heißt dann vermutlich, dass er und ich nichts Privates haben?«

»Er liebt mich, Ginny. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich ihn irgendwas Privates mit meiner eigenen Schwester haben lassen würde, oder?«

»Ich wusste nicht, dass du so eifersüchtig bist.«

»Eins greift ins andere, Ginny. Weißt du nicht mehr, wie Mommy gesagt hat, ich war das eifersüchtigste Kind, das sie je gesehen hat? Ich mein, jetzt kann ich’s besser kontrollieren. Wenn Pammy oder Linda wegen irgendwas zu dir gehen, weiß ich vom Verstand her, dass es gut für sie ist, aber ich bin immer eifersüchtig. So hat Jess mich auch dazu gekriegt, dass ich mit ihm geschlafen hab. Er hat davon gesprochen, was für ein süßer Mensch du bist und wie gern er dich hat und wie schade es ist, dass du keine Kinder hast. Er ist dein großer Fan, Ginny. Immer noch. Du verstehst ihn nicht. Er lügt nicht, er hat einfach mehrere Seiten an sich, mehr als die meisten Leute, die wir kennen.« Ich erkannte den Ton wieder, mit dem sie sprach – offen und ernst, beinahe in gewisser Weise charmant. Sie hatte ihn mir gegenüber unzählige Male benutzt. Durch den Drink war er ein wenig breiter geworden, hatte mehr an gespielter Tapferkeit und Härte bekommen. Ich hielt den Atem an bei dem Gedanken, wie sie Pammy und Linda und mich gesehen hatte. Ich sagte: »Ich schätze, du willst alles für dich alleine, was?«

»Ja, Scheiße, ja. Hab ich immer gewollt. Das ist meine unausrottbare Sünde. Ich bin gierig und eifersüchtig und selbstsüchtig, und Mommy hat gesagt, es würde die Menschen abstoßen, deshalb hab ich ein Talent dafür entwickelt, es zu verheimlichen.«

Ich bin mir sicher, dass ich so bitter redete, wie ich empfand: »Du hörst dich an, als würdest du dir vollkommen verzeihen.«

»Du hörst dich an, als würdest du mir überhaupt nicht verzeihen.«

Ich gab meiner Stimme einen leichteren Ton. »Ich bin einfach nur über diese Seite an dir überrascht.«

»Fällt dir nicht auf, dass Mommy nie zu mir ›Rose, sei einfach du selber‹ gesagt hat?« Sie lachte.

»Ich find das nicht lustig.«

Sie lachte weiter. Nach einer Weile hörte sie auf, nahm einen Schluck von dem Drink, den sie mit nach draußen genommen hatte, und sah mich eine lange Minute lang an. Schließlich sagte sie: »Der Unterschied, Ginny, ist der, dass du mir trauen kannst. Du und die Mädchen. Euch werd ich nicht wehtun.«

Hatte sie aber, oder?

Sie sah meine Zweifel und redete drängend weiter. »Selbst dann, wenn ich dir die Wahrheit sag, tu ich das nicht, um dir wehzutun. Ich sag das, weil’s die Wahrheit ist, und du musst sie akzeptieren. Aber ich werd dich nicht diesem Prinzip opfern oder einem gemeinen Zug in mir oder mir einreden, ich tu was für dich, wenn ich dir was antu, und ich werd auch nicht so tun, als täte ich’s nicht, wenn ich’s doch tu.«

Ich glaubte ihr nicht. Mehr noch, ich fand keine Möglichkeit zu begreifen, was sie mir sagte. Die Unterscheidungen waren zu fein geworden. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich machte einen Schritt auf den Asphalt zurück. Ich sagte: »Rose, ich muss nach Hause. Ich halte das nicht aus.«

Während ich nach Hause ging, sie hinter mir spürte, nicht gehen, aber bestimmt nachsehen, fühlte ich mich fast Pete nahe. Ich hatte das Gefühl, das er gehabt haben musste, außerhalb seines Körpers zu sein, ihn zu beobachten und das Beste zu hoffen. Die Sonne ging auf. Ich war hellwach wie ein Wiesel, und meine durcheinander wirbelnden Gedanken hatten sich auf einen einzigen, stechenden Punkt konzentriert, die Erkenntnis, dass Rose zu viel für mich gewesen war, mich erledigt hatte. Ich glaubte nicht wie sie, dass Petes letzter Gedanke Daddy gewesen war. Bestimmt, bestimmt hatte er an Rose gedacht, daran, wie sie ihn unausweichlich überwältigt und vernichtet hatte.