Ein Vorteil meines Lebens, in dem vieles ungesagt dahinging, bestand darin, dass man Dinge über sich selber, die unvorstellbar bizarr waren, nicht in der Erinnerung behalten musste. Was niemals ausgesprochen wurde, war letztendlich zu schemenhaft, als dass man sich daran erinnern könnte. Diesen Vorteil habe ich verloren.
Vor jener Nacht hätte ich die geistige Verfassung, in die ich danach geriet, als unerklärlich bezeichnet. Seitdem hätte ich vielleicht erklärt, dass ich »nicht ich selber« oder »nicht bei Sinnen« oder »außer mir« war, aber das treffendste Charakteristikum für meine geistige Verfassung war am Ende nicht das, was ich tat, sondern wie handfest ich sie als mein wirkliches Ich empfand. Es war eine geistige Verfassung, die mich vieles »wissen« ließ, und in meiner »Überzeugung«, ein sonst abstrakter, trockener Begriff, der sich auf moralische Werte oder bewusste Glaubensinhalte bezieht, zu einem Gefühl wurde, als wäre ich von Einsicht durchtränkt, voll gesogen wie ein nasser Schwamm. Ich empfand mich also keineswegs als »außer mir«, sondern auf intensive, neue Art mehr als ich selber denn je zuvor.
Das stärkste Gefühl war dabei, dass ich sie jetzt alle kannte. Dass, während sie sechsunddreißig Jahre lang um mich herumgeschwommen waren, in komplizierten Mustern, die ich bestenfalls unklar durch trübes Wasser wahrgenommen hatte, jetzt alles klar war. Ich sah jeden von ihnen von allen Seiten auf einmal. Ich brauchte ihnen kein Etikett aufzukleben, so wie Rose es mit sich selber und Pete gemacht hatte: »Selbstsüchtig«, »gemein«, »eifersüchtig«. Das Etikett hinderte einen geradezu daran, sie zu erkennen. Alles, was ich zu tun hatte, war, sie mir vorzustellen, und die Art und Weise, wie ich sie »kannte«, warf ihren Schimmer um sie herum und durch sie hindurch, es war ein Licht, ein Geruch, ein Klang, ein Geschmack, eine Greifbarkeit, die all das ausmachte, was es über jeden Einzelnen von ihnen zu verstehen gab. Auf eine Art, die ich früher nie gekannt hatte, als wir alle durch Geschichte und Gewohnheit und Pflicht miteinander verbunden gewesen waren, oder auch durch die »Liebe«, die ich für Rose und Ty empfunden hatte, fühlte ich jetzt, dass sie mir gehörten.
Hier war Daddy, durch irgendetwas aufgehalten, keine Maschine (im Umgang mit Maschinen besaß er Geschick und Geduld), sondern durch eine von uns oder irgendeinen trivialen Umstand. Das Fleisch seines Unterkiefers spannt sich, während er mit den Zähnen knirscht. Er stößt ein ungeduldiges Fauchen aus. Sein Gesicht rötet sich, seine Augen suchen die deinen. Er sagt: »Sieh mir in die Augen, Mädchen.« Er sagt: »Ich mach das nicht mit.« Seine Stimme wird lauter. Er sagt: »Ich hab mir das lange genug angehört.« Er ballt die Fäuste. Er sagt: »Ich hab nicht vor, für dich den Narren zu spielen.« Unterarme und Bizeps wölben sich zu deutlich hervortretenden und mächtigen Strängen. Er sagt: »Ich bestimme, was hier läuft.« Er sagt: »Ich kümmer mich nicht um – Ich sage dir – Ich mein’s ernst.« Er schreit: »Ich – Ich – Ich«, sonnt sich brüllend in der Definition seines Ichs. Ich habe dies getan, und, ich habe jenes getan, und, ich glaube nicht, dass du mir das weismachen kannst, und, du hast nicht den leisesten Schimmer, und dann beeindruckt er uns unter Schlägen mit dem Gewicht seines »Ichs« und der federleichten Nicht-Existenz unseres Ichs, unserer Fragen, unserer Zweifel, unserer abweichenden Meinung. Das war Daddy.
Hier war Caroline, sie sitzt auf dem Sofa, hat ihr Dirndlröckchen wie einen Fächer um sich ausgebreitet, die Hände im Schoß gefaltet, ihre spitzenbesetzten Söckchen und schwarzen Lackschühchen stehen vor, ihre Augen schießen wie Pfeile von einem Gesicht zum andern, berechnend, immer berechnend. »Bitte«, sagt sie. »Danke. Gern geschehen.« Sie lächelt. Ein aufgezogenes Sprechpüppchen, und stolz auf ihr perfektes Puppengehabe. Sie klettert auf Daddys Schoß, und ihr Blick schlittert durch den Raum, um zu sehen, ob wir auch mitbekommen haben, wie er sie vorzieht. Sie windet sich ihm entgegen und drückt ihm einen Kuss auf die Wange, sie weiß, wir sehen zu, sie ist sicher, wir sind neidisch.
Hier war Pete, seine Augen blitzen wie die von Daddy, aber er sagt nichts. Leckt sich die Lippen. Wartet auf seine Chance. Beobachtet, lauert, taxiert, wo er den Schlag landen und wann er zuschlagen soll. Schätzt ab, wie schnell der Feind sein könnte, wo der Feind am verwundbarsten sein könnte. Kein »Ich« wie Daddy, das mit jeder Kundgebung anschwoll, sondern ein kleiner werdender Punkt, ein Mann, der sich mehr und mehr in der bitteren Betrachtung seines Ziels verliert.
Hier war Ty, getarnt unter Lächeln und Hoffnung und Geduld, er verliert niemals sein Ziel aus dem Auge, er nimmt sich nur zurück, um ein Hindernis zu umgehen, arbeitet sich langsam, aber stetig voran, tritt auf keine Äste, macht kein Aufsehen, wirft keine Schatten, strömt keine Hitze aus, sickert in jede Ritze, nutzt jede Gelegenheit, ist immer unschuldig.
Es war erstaunlich, wie minuziös ich Rose kannte, wahrscheinlich, weil ich sie nach ihrer Operation gepflegt hatte. Ich hatte sie überall mit dem Schwamm abgewaschen – unter der Wölbung ihrer Füße, in der blassen Beuge ihrer Ellenbogen, über dem Nacken, wo sich ihr Haar in einem Wirbel drehte, über den Buckeln ihres Rückgrats, über ihrer Narbe, ihrer übrig gebliebenen birnenförmigen Brust mit der schweren Brustwarze und dem großen dunklen Hof. Sie hatte drei Leberflecken auf dem Rücken. Als wir Kinder waren, hat sie mich immer gebeten, ihr abends, wenn wir im Bett waren, den Rücken zu kratzen, oder sie rieb sich mit dem Rücken am Bettpfosten, wie eine Sau.
Und hier war also schließlich Rose, Knochen und Fleisch, direkt neben, direkt im selben Bett mit Jess Clark. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich ihren Körper riechen, die Trockenheit ihrer Haut fühlen, sie riechen und fühlen, wie er während dieser geheimnisvollen Zeit, wenn ich nicht dabei war. Ich konnte auch ihn riechen und fühlen und hören und sehen, und zwar mit einer Intensität, wie ich sie seit den ersten paar Tagen, nachdem wir auf der Müllkippe miteinander geschlafen hatten, nicht mehr gespürt hatte. Jedes Mal, wenn ich einen der beiden nicht tatsächlich vor mir sah, war ich körperlich davon überzeugt, dass sie zusammen waren.
Ich dachte daran, wie bequem es für Rose war, dass Pete tot war. Wie sich die Falle, die unser Leben auf der Farm war, für sie so sauber geöffnet hatte.
Mein Leben lang hatte ich mich mit Rose identifiziert. Ich hatte sie angesehen, den Bruchteil einer Sekunde abgewartet, um ihre Reaktion auf irgendetwas zu erraten, mich dann selber entschieden. Meine tiefste Gewohnheit bestand in der Annahme, dass Differenzen zwischen Rose und mir sich nur an der Oberfläche abspielen konnten, dass wir uns darunter, jenseits davon, ähnlicher als Zwillinge waren, dass wir irgendwie das wahre Ich des anderen waren, für immer zusammen auf diesen tausend Morgen.
Aber letztendlich war sie nicht ich. Ihr Körper war nicht der meine. Meiner hatte sich als unfähig erwiesen, Jess Clarks Interesse zu halten, eine Schwangerschaft zu halten. Meine Liebe, der ich immer zugetraut hatte, sie könnte das Körperliche übersteigen, hatte sich ebenfalls als unfähig erwiesen – hatte bei Ty versagt, hatte bei meinen und Roses Kindern versagt, hatte auf bizarre Weise bei Daddy versagt, der auf seine Art Caroline und Rose liebte, aber nicht mich, hatte bei Jess Clark versagt und hatte jetzt bei Rose selber versagt, die eindeutig wusste, wie sie über mich hinausgreifen, mich zur Seite schieben, sich nehmen konnte, was sie wollte, und froh darüber war. Ich saß in meinem alten Leben fest wie in meinem Körper, aber dank Petes Tod konnte für Rose ein ganz neues Leben beginnen. Mehr Kinder, um sie neben Pammy und Linda zu setzen. Mit Mineralwasser und vorsichtiger Diät und Jess’ verständigem Rat in Bezug auf Risiken würde es nicht eine einzige Fehlgeburt, nicht ein einziges Geisterkind im Haus geben.
Was sich verwandelt hatte, war die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Die Zukunft schien sich mir wie Eisen um den Körper zu legen, aber die Vergangenheit löste sich unter meinen Füßen auf in etwas Zuckendes und Flüssiges, und in ihrem Mittelpunkt stand das am meisten Verwandelte, Rose selber. Es war deutlich, dass sie meine törichte Liebe mit Eifersucht und gieriger Selbstsucht beantwortet hatte.
Sie hätte besser daran getan, mir nichts zu erzählen, denn jetzt sah ich mehr, als sie wollte. Ich sah Daddy, und ich sah auch sie. Es war unerträglich.
Nach der Beerdigung mussten Jess und Rose übereingekommen sein, sich als Paar eine Weile zurückzuhalten, deshalb sah ich sie fast nie zusammen, aber einzeln sah ich sie oft genug. Rose verhielt sich feinfühlig, sie sprach überzeugend über unsere geänderte schwesterliche Situation. Mir wurde zu verstehen gegeben, dass meine Gefühle ausschlaggebend seien, dass es an mir sei, den Grad von Nähe herzustellen, der mir angenehm und angemessen erschien. Ich sah, woher diese Feinfühligkeit und Behutsamkeit kam: Sie waren für sie eine erregende Erinnerung an alles Neue und Köstliche in ihrem Leben.
Jess war freundlich, nett und leicht entschuldigend. Ich schien ihn mehr zu sehen als früher, und dann wurde mir klar, dass er mich einige Wochen lang sorgsam gemieden hatte, möglicherweise den größten Teil des Sommers über. Jetzt war er überall, redete mit mir, scherzte mit mir, kam auf eine Tasse Kaffee vorbei, unterbrach einmal sogar sein Laufen, um mir beim Unkrautjäten zu helfen, und dabei stellte er unsere Freundschaft auf eine neue Grundlage, eine Grundlage, die auf die Zukunft ausgerichtet war. Seine offene, glückliche Freundlichkeit, die an Zärtlichkeit grenzte, quälte und erzürnte mich am allermeisten.
Es war ein Labyrinth. Ich schwankte zwischen drei oder vier Pfaden. Ich sagte mir, dass ich entscheiden musste, was ich wirklich wollte, und mich damit zufrieden geben – jede Handlungsweise ist letzten Endes ein Kompromiss.
Dann wachte ich nachts auf, zutiefst überrascht, erstaunt über all die Bitterkeit und Berechnung, die sich im Laufe des Tages angehäuft hatte. Das konnte doch nicht ich sein, in diesem alten vertrauten Nachthemd, diesem alten vertrauten Körper, mit so viel Hass?
Morgens dachte ich eine Weile nicht mehr daran – schließlich gab ich mir weiterhin Mühe, perfekte Ordnung und Sauberkeit aufrechtzuerhalten –, aber dann rief Rose an, oder Jess brachte Donuts vorbei, und ihre Stimmen und Körper drückten so deutlich eine nur mühsam zurückgehaltene sinnliche Lust auf ihre gemeinsame Zukunft aus, dass mir klar wurde, ich musste etwas tun, um mich von dem Anblick und dem Gefühl ihrer Gegenwart zu befreien.
Es war mir nicht vollständig entgangen, dass Ty selber in einer Krise steckte. Woanders in Iowa, und selbst im County, hatten zeitweilige Trockenzeiten dafür gesorgt, dass die kommenden Ernteerträge geringer ausfallen würden, aber wir hatten perfektes Wetter gehabt, und der Mais und die Bohnen gediehen prächtig. Es war klar, dass Ty ohne Pete und ohne Daddy in arge Bedrängnis geraten würde, die Ernte von tausend Morgen alleine einzubringen. Rose und ich konnten notfalls den Mähdrescher fahren, und ich hatte fast jedes Jahr ein paar Getreidelastwagen zum Getreidespeicher gefahren, aber es war eine Tatsache, dass wir immer nur einsprangen, wenn die Ernte auf ihrem Höhepunkt war; es war ausgeschlossen, dass wir Pete und Daddy ersetzen konnten. Natürlich gab es Jess, der einen der Traktoren gefahren hatte, als wir sechs High School-Schüler eingestellt hatten, die Unkraut und wild wachsenden Mais zwischen den Bohnenreihen gesprüht hatten. Er hatte bei 35 Grad Overalls, Stiefel und eine Gesichtsmaske getragen und Ty die ganze Arbeit mit den Chemikalien machen lassen, was Ty überempfindlich fand. Jedes Mal, wenn Ty sich laut darüber Sorgen machte, was wir tun sollten, vermied er es, Jess zu erwähnen, und ließ mich auf die Weise wissen, dass er nicht wieder mit Jess zusammenarbeiten wollte, welche Talente und Fähigkeiten er auch haben mochte. Ich fragte nicht, ob dieses Misstrauen lediglich auf ihren unterschiedlichen Vorstellungen von der Bewirtschaftung einer Farm beruhte. Ty fragte in der Stadt herum, annoncierte an mehreren Anschlagtafeln und in der Tageszeitung von Pike. Sein Pächter erklärte sich bereit, uns fünf Tage gegen zwei Tage Arbeit auf seiner Farm zu helfen. Auf die Annoncen kam keine Antwort. In der ganzen Stadt schien es eine gewisse Zurückhaltung zu geben, irgendetwas mit uns zu tun zu haben. Ty erweiterte seine Kampagne und annoncierte in Zebulon, Henry Grove, Columbus und sogar Mason City. Er versprach, die Leute bei uns unterzubringen und guten Lohn zu zahlen. Es war ein Problem, das sich nicht von allein löste. Die Sorte Männer, die es noch zu Großvaters Zeiten gegeben hatte, Männer, die arbeiteten, aber kein Land besaßen, gab es 1979 auf dem Lande nicht mehr. Er fing an herumzutelefonieren, um Spezialistenteams mit Mähdreschern zu bekommen.
Wenn er mich darauf ansprach, versuchte ich, anteilnehmend zu klingen, aber die ganze Zeit stellte ich sie mir irgendwo nackt vor, erleichtert, allein zu sein, taumelig und kicherig und sich selber vollkommen genug. Wenn sie an mich dächten, dann deshalb, um irgendeine kleine Freundlichkeit zu planen, die ich ihrer Meinung nach nötig hätte, die mich aber dennoch daran erinnern würde, wer wer war und was was. Wenn selbst die heimlichste Liebesaffäre ein Publikum braucht, dann war natürlich ich das ihre. Ich sah Rose jeden Tag. Wir machten Pickles und verarbeiteten die Tomaten, und ich fuhr die Mädchen für sie hin und her. Mir fiel ihr flüchtiges kleines Lächeln auf. Wir unterhielten uns, in gewisser Weise. Sie spielte nur taktvoll auf Jess an und umarmte mich von Zeit zu Zeit oder machte mir Komplimente. Ich erinnere mich an nichts, was sie sagte. Es war, als bewegte sie bloß die Lippen.
Ty entschied sich, die letzten hundert Ferkel an einen Schweinezüchter zu verkaufen, statt sie selber großzuziehen. In der letzten Minute, nachdem wir die Schweine verladen hatten, aber bevor er die Verladeplanke weggenommen hatte, sagte er: »Ich werd auch ein paar von den Sauen verladen. Die Preise sind hoch genug. Ich könnte etwas Geld mit ihnen machen.«
Ich horchte auf. Ich war vom Verladen hundert Pfund schwerer Schweine über und über voller Mist und reif für eine Dusche, aber was ich da hörte, verblüffte mich. Ich sagte: »Ty, die Preise sind ganz und gar nicht hoch. Du hast Glück, wenn du drei Viertel von dem bekommst, was die Sauen wert sind. Sie sind erstklassiges Zuchtvieh. Du kannst sie nicht einfach so aus dem Impuls heraus auf den Markt karren!«
»Genau das kann ich. Das ist der einzige Weg, wie ich’s schaff, ehrlich gesagt.«
»Selbst wenn die neuen Gebäude nicht gebaut werden, können wir doch mit dem weitermachen, was wir machen.«
»Irgendwie fehlt mir die Lust.« Er spuckte in den Dreck. »Wie auch immer, ich muss an die Abzahlung unseres Kredits denken. Das erledigt sich nicht von alleine.«
»Was ist mit der Pacht für deine Farm? Die hatten wir doch dafür gedacht.«
»Das wird aufgefressen, wenn er mir bei der Ernte so viel hilft, wie ich ihn brauchen werd. Wenn ich diese Sauen verkaufe, kommen wir erst mal bis nach der Ernte über die Runden. Und genau daran müssen wir jetzt denken.«
Auf einer Farm gibt es jede Menge Gift, auch wenn nicht alle schnell wirken. Jeder Farmer kennt einen Vertreter einer Chemiefirma, der mal einen demonstrativen Schluck irgendeines Insektizids genommen hat – sicher wie Muttermilch und so weiter. Einmal, als Verna Clark noch lebte und jeder noch Chlordan gegen die Larven des Maiskäfers benutzte, war Harold die Gebrauchsanleitung in den Tank gefallen, und er hat sie mit der bloßen Hand herausgeholt. Arsen gibt es in Form von altem Rattengift. Es gab jede Menge Insektizide, die wir in den Schweineställen benutzten. Es gab Petroleum und Diesel und Farbverdünner und Raid[8]. Es gab Treibgasentfetter und altes Motoröl. Es gab Aminosäure und Treflan und Lasso und Dual[9]. Ich wusste, ich musste einen Gesichtsschutz und Handschuhe tragen, wenn ich mit diesen Chemikalien umging. Ich wusste, ich durfte nie essen, ohne alle Spuren der Chemikalien an mir getilgt zu haben. Aber ich wusste nicht, was Rose töten würde.
Ich fuhr zum Earl May-Gartencenter in Mason City und zum Tierarzt und zum Farmer’s Coop in Zebulon, und ich verschaffte mir einen Überblick über das, was die Regale zu bieten hatten. Bei Earl May beobachtete mich der Verkäufer, weil der Laden leer war und er sonst nichts zu tun hatte, also ging ich, ohne etwas zu kaufen. Beim Tierarzt versuchte Alice, die Sekretärin, mich ständig in ein Gespräch über die Welpen zu verwickeln, die ihre Hündin bekommen hatte, und ob ich einen wollte. Beim Farmer’s Coop war alles außer Samen, Zement und Tierfutter hinter der einen oder anderen Verkaufstheke, und drei oder vier Farmer saßen herum, tratschten und beobachteten mich. Kaufen, wurde mir klar, würde schwerer sein, als ich angenommen hatte.
Ich fuhr zur Bibliothek in Pike und fand ein Heft: »Fünfundzwanzig giftige Pflanzen, bei denen Vorsicht geboten ist«, herausgegeben vom Ohio State University-Informationsdienst. Es war klar, dass auf einer Farm auch mehr als genug Gifte wuchsen, nicht nur der Stechapfel und der Bittersüße Nachtschatten und der Gemeine Nachtschatten, der tödliche Knollenblätterpilz und der Fliegenpilz und das Gemeine Narrenkraut, mit denen ich relativ vertraut war. Maiglöckchen waren giftig, und Osterglocken, und Nesseln und Tollkirschen, Rhabarberblätter natürlich, und Gartenfingerhut, Englischer Efeu. Beeren und Wurzeln von Feldsalat, der in dem Heft Kermesbeere genannt wurde. Die Beeren des Mistelzweigs. Die giftigste Pflanze, die nebenbei erwähnt, aber nicht abgebildet wurde, war der Wasserschierling. Ich ging zum Regal zurück und holte mir einen Führer über Wildblumen.
Wasserschierling gehörte zur Karotten- und Petersilienfamilie. »Seine Wurzeln«, so das Buch, »sind leicht mit Pastinak zu verwechseln, und das ist häufig geschehen, mit tödlichem Ausgang. Vieh, das auf Weiden mit Wasserschierling grast, kann durchaus daran sterben.« Ich sah mir das Bild an. Es kam mir vertraut vor. Ich lernte die Beschreibung auswendig, merkte mir, dass er in Süßwassersumpfgebieten zu finden war, stellte das Buch ins Regal zurück und fuhr nach Hause. Bestimmt, so dachte ich, ist es das, was sie unter »vorsätzlich« verstehen – dieses bewusste Auskosten jedes einzelnen Schrittes, das Zusammenstellen jedes einzelnen Elements, dieses Erwägen, wie der Tod herbeigeführt werden soll, wie ein Weg gewollter Umstände beschritten wird, der zufälligen Umständen zum Verwechseln ähnlich sieht. Eine Sache, das muss ich sagen, die ich besonders genoss, war die Heimlichkeit des Ganzen. In gewisser Weise, so sah ich es, hatte ich mein ganzes Leben lang für ein Ereignis wie dieses geübt.
Ich brauchte ungefähr zwei Wochen, wobei ich den größten Teil dieser Zeit (was gar nicht so viel war, war doch perfekte Ordnung und Sauberkeit aufrechtzuerhalten) damit zubrachte, zwischen den verschiedenen Unterarten der Petersilie unterscheiden zu lernen, dann Feuchtgebiete für den Schierling auszukundschaften. Am Steinbruch fand ich keinen, auch nicht an einer morastigen Stelle an der südlichen Ecke von Harold Clarks Farm. Mel’s Corner war schon seit langem zu gut entwässert. Als hätte ich eine Vorahnung gehabt, hielt ich eines Tages an der Straße mit der schönen Aussicht, genau da, wo der Zebulon River einen breiten toten Arm hat und wo ich im Frühling diesen Schwärm Pelikane gesehen und gedacht hatte, sie kündigten etwas Gutes an. Ich trug gelbe Gummihandschuhe und pflückte eine große, gerade Pflanze mit weißen Blüten, einem magentarot gestreiften Stiel mit spitzen Blättern mit Blattnerven, die zwischen den Lappen in Kerben endeten. Die Wurzeln dufteten angenehm, nicht ganz wie Karotten.
Die Kohlköpfe in Roses Garten waren fest und schwer. Ich schnitt zwei. Rose und die Mädchen waren nicht zu Hause. Ich taute eine Schweineleber und ein paar Lendenstücke in der Mikrowelle auf. Wursthüllen hatte ich am Tag zuvor im Supervalu in Pike gekauft. Alle Handgriffe waren mir so vertraut wie meine eigene Küche, wie jedes Rezept, mit dem ich mich zuvor abgegeben hatte, nur weitaus bedeutungsvoller. Die Schierlingswurzel hatte ich mit einem Schälmesser fein gehackt. Ich beschloss, alles zu verwenden. Die Blätter und den Stiel hatte ich am Fluss liegen lassen. Jetzt lag das Gehackte auf einem Stück Papier auf der Küchenablage. Ich spülte das Messer ab und die Gabel, die ich benutzt hatte, um die Wurzel beim Hacken zu halten. Ich spülte Wasser durch den Abfluss, bis ich sicher war, dass die verwässerten Spuren des Safts in die Senkgrube gelaufen waren. Ich bezweifelte, dass sie den Boden aufreißen würden, um die Senkgrube zu untersuchen. Nachdem ich das Kleingehackte zusammen mit Pfeffer, Knoblauch, Zwiebeln, Kümmel, rotem Paprika, Zimt, einer Gewürzmischung, ein paar Nelken und reichlich Salz mit dem Fleisch vermengt hatte, füllte ich die Wursthüllen und band sie alle Handbreit ab. Sie waren ungefähr daumendick. Man sah ihnen nicht an, welche tödlich waren und welche nicht. Ich spülte Fleischwolf und Wurststopfer sorgfältig mit viel Wasser ab, dann füllte ich die Einmachgläser mit Wurst, geraspeltem Kohl und einer Salzlake. Das Gefühl war nicht viel anders, als wenn man für jemanden einen Geburtstagskuchen backt. Der Mensch, für den man ihn macht, geht einem im Kopf herum. Also dachte ich unentwegt an Rose.
Ich empfand außerdem ein Gefühl von Freude und Stolz auf meinen Plan. Leberwurst und Sauerkraut reizten Jess sicherlich nicht, und beide Mädchen hatte der bloße Gedanke daran ihr Leben lang angewidert. Selbst für Ty war das zu streng im Geschmack, der Wild und Kaninchen und Lutefisk[10] gerne aß. Die Perfektion meines Plans lag darin, dass Roses eigener Appetit ihren Tod auswählen würde. Er würde selbst für mich als echte Überraschung kommen.
Ich verbrannte das Papier, auf dem der klein gehackte Schierling gelegen hatte, denn ich war vorsichtig und stellte mir die eventuellen Nachforschungen des Sheriffs so umfassend wie möglich vor. Ich verbrannte es zu Asche, fegte dann die Asche auf ein anderes Stück Papier und verbrannte auch das. Dann vergrub ich die Asche in dem Blätter- und Grasabfallhaufen neben dem Garten. Ich sterilisierte die Gläser im Druckkochtopf und überlegte mir dabei, dass eine bakterielle Fleischvergiftung theoretisch möglich war, aber nicht wahrscheinlich bei jemandem, der damit so viel Erfahrung hatte wie Rose. Diese Würste mussten mit dem Sauerkraut bei einer Temperatur von über 212 Grad mindestens fünfzehn Minuten lang gekocht werden. Der ordentlich voranschreitende Kochprozess versetzte mich in die übliche heitere Stimmung. Um zwei war ich damit fertig und hatte alles aufgeräumt. Um halb sechs trug ich einen Karton mit zwölf vollen Gläsern die Straße hinunter zu Roses Haus. Es war heiß und staubig. Rose war in der Küche und briet gerade Hamburger.
»Guck mal hier«, sagte ich. »Ich hab ’ne Überraschung für dich.« Sie lächelte, während sie die Gläser aus dem Karton nahm und sah, was ich gebracht hatte. Eingemachte Pfirsiche. Tomatenchutney. Dillpickles. Die Dillstiele in dem Glas sahen genau wie Gift aus. Sie grinste, als sie die Gläser mit Wurst und Sauerkraut herausholte. Sie sagte: »Was für ein Schatz du doch bist. Du hast das alles heute gemacht?«
»Bloß das Sauerkraut.«
»Ich schätze, die anderen werden das nicht essen, was?«
»Nie im Leben. Brrr. Ich auch nicht. Ich hasse Sauerkraut. Und kriegst du davon nicht unheimliche Blähungen?«
»Eigentlich nicht. Danke.« Sie küsste mich auf die Wange. Ich konnte die Mädchen und Jess im Wohnzimmer bei den Abendnachrichten sehen. Jess fing meinen Blick auf, lächelte, winkte mir zu, wandte sich wieder den Nachrichten zu. Ein Glas mit Wurst stand dicht an der Tischkante. Ich schob es zurück und sah Jess noch einmal an. Zum ersten Mal seit Wochen war das Unerträgliche erträglich.
Während ich nach Hause ging, kam ein kühlender Wind auf. Ich war jetzt ruhig, gespannt darauf, was geschehen würde.