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Den ganzen Tag und die ganze Nacht, selbst durch das Summen der Klimaanlage im Sommer, konnte man die Autos hören, die an meiner Wohnung an der Interstate 35 vorbeifuhren. Mir gefiel daran dasselbe, was mir an meinem Job als Kellnerin bei Perkins gefiel, wo man zu jeder Tageszeit Frühstück bekam, die Mahlzeit der Hoffnung und der kommenden Pflichten. Es gab nichts, das zeitgebunden, und wenig, das saisonbedingt war an diesem Highway oder diesem Restaurant. Selbst in Minnesota, wo der Winter ein großes Thema in den Gesprächen der Menschen und ein ständiger Anlass für ihre heroische Selbstachtung war, dauerte der Winter auf dem Highway nur einige wenige Stunden im Jahr. Den Rest der Zeit floss der Verkehr ständig weiter. Schnee und Regen reduzierten sich beinahe so wie jedes andere Wetter auf bloße Szenerie, etwas, das man sich durchs Fenster ansah, aber nichts, das einen behinderte. Die Lampen im Restaurant, über dem Highway, in den Fenstern meiner Nachbarn, auf dem Parkplatz, der zu meiner Wohnung gehörte, warfen sich überschneidende Lichtkegel, in die ich einfach hineingehen konnte, die ich nicht erzeugen musste. Der Lärm war immer derselbe, kontinuierlich, beruhigend: menschliche Absichten (erzählen, reisen, essen), die sich das ganze Jahr hindurch selbst erneuerten, ob ich zufällig schlief oder wachte, mich frisch oder träge fühlte.

Das, was mir an dem Restaurant am meisten gefiel, waren die Unterhaltungen. Die Leute machten Scherze und lächelten, dankten einem, baten höflich um etwas, plauderten von früheren Besuchen oder über das Wetter oder davon, wo sie hinwollten. Es ging immer und immer weiter, Tag und Nacht, es sollte Freundlichkeit schaffen, und es war freundlich. Eileen, die Leiterin des Restaurants, ermutigte uns, gesellig zu sein und die Gäste anzusprechen, denn, so sagte sie, die Leute aßen immer mehr und lieber, wenn sie sich nicht einzig auf ihr Essen konzentrierten. Meistens machte das gar keine Mühe. Man konnte in die Unterhaltung hineinspazieren, so wie man in den erleuchteten Essraum hineinspazierte, und sie trug einen. Einige der Mädchen redeten nicht so gerne mit den Gästen, deshalb klangen sie eine Spur mechanisch, wenn sie fragten: »Und wie hat es Ihnen geschmeckt?«, aber für mich war es, als spielte eine Melodie in meinem Kopf, und die formelhaften Wendungen, die ich hervorbrachte: »Was darf ich Ihnen bringen?«, »Wär’s das?«, »Danke für Ihren Besuch, und kommen Sie bald wieder«, waren für mich das, was ich zur Harmonie des Ganzen beisteuerte.

Ich sah das als mein Leben nach dem Tode, und eine lange Zeit kam es mir nicht in den Sinn, dass es eine Zukunft enthielt. Dass es das nicht tat, war gerade das, was mir daran so sehr gefiel. Halb vergraben in mir herrschte die Überzeugung, dass ich in einen zeitlosen Zustand eingetreten war. Eine Zahnbürste, eine alte ausziehbare Bettcouch, eine Lampe, die ich in einer Mülltonne gefunden hatte, geformt wie eine Palme, aber vollkommen in Ordnung, und ein Pappkarton, auf dem sie stand, ein Kessel, eine Packung Teebeutel im Kühlschrank, zwei Badetücher aus einem Sonderangebot bei J. C. Penney’s, ein Kasten Badeölkugeln, Pyjamas. Mein Arbeitskostüm gab jedem Arbeitstag eine Gleichförmigkeit, die mir Beständigkeit bedeutete. Wenn ich nicht arbeitete, blieb ich im Bett oder lag in der Badewanne und las Bücher aus der Bücherei, einen Autor zurzeit, jedes Buch von ihm, das sie hatten. Am liebsten hatte ich Autoren, die viel geschrieben hatten und tot waren, wie Daphne du Maurier oder Charles Dickens. Ihre Bücher waren auch eine Art Leben nach dem Tode und mir so entfernt und in sich geschlossen wie Himmel und Hölle. Nachrichten waren etwas, das ich nicht wollte. Ich besaß weder einen Fernseher noch ein Radio. Es kam mir nicht in den Sinn, eine Zeitung zu kaufen.

Ich brauchte bis Weihnachten, ehe ich Rose kurz mitteilte, wo ich war. Als ich ihre Antwort erhielt, war der Anblick ihrer Handschrift so überraschend, dass ich sie zuerst nicht erkannte. Ich hatte erwartet, sogar stärker, als mir bewusst gewesen war, dass sie die Würste gegessen hatte und gestorben war. Aber sie erwähnte die Würste nicht. Sie schrieb, dass Daddy, der Caroline nicht aus den Augen ließ, auch wenn er noch immer zu glauben schien, dass man sie umgebracht hatte, fünf Tage nach der Gerichtsverhandlung mit Caroline zum Wocheneinkauf zu Dahl’s in Des Moines gefahren war. Er schob den Einkaufswagen; sie führte ihn durch die Gänge. Er bekam in dem Gang mit Cornflakes und Müsli einen Herzanfall. Ich stellte mir vor, dass er in die Cornflakeskartons gefallen war. Die Beerdigung war klein gewesen. Rose war nicht dort gewesen.

Rose und Ty hatten sich entschieden, die Farm die Straße entlang zu teilen, der östliche Teil war an Rose gegangen (sie war mit den Mädchen nach Erntedank in das große Haus gezogen) und der westliche Teil an Ty. Sie und Jess planten, ihren ganzen Teil organisch zu bewirtschaften. Ich schickte den Mädchen Weihnachtsgeschenke, ein gepunktetes Badelaken für Pammy und eine Stoffkatze für Linda. Ich schrieb Rose nicht wieder, weil ich ihr nichts zu sagen hatte. Alles zwischen uns war gesagt, wir wussten mehr voneinander, als wir ertragen konnten. Rose, Daddy, Ty, Jess, Caroline, Pete, Pammy und Linda, alle waren so tief und beständig in mir, dass kein Raum für Briefe oder Telefonate blieb.

Im Februar schrieb sie wieder, eine knappe Notiz, dass Jess zurück an die Westküste gegangen war und sie den größten Teil ihres Landes an Ty verpachtet hatte, bis sie mehr von organischem Anbau verstand. Sie schrieb: »Die Mädchen und ich haben beschlossen, trotzdem Vegetarier zu bleiben. Und du wirst demnächst einige Papiere bekommen, die du unterschreiben musst. PS Ich kann nicht behaupten, dass mich das mit Jess überrascht.«

Ich bekam sie, und ich unterschrieb. Ty hatte jetzt 380 Morgen, ganz für sich allein, und Rose 640. Ich hatte eine Wohnung mit Garten, zwei Schlafzimmer im ersten Stock und Wohnzimmer und Küche unten, mit einer kleinen Terrasse auf den Highway hinaus und einer Betontreppe und einem Parkplatz nach vorn. Die Miete war 235 Dollar im Monat, plus Elektrizität, aber Heizung inklusive. Hinter einem Zaun am anderen Ende des Gebäudes gab es einen kleinen nierenförmigen Swimmingpool, ungefähr sieben mal vier Meter, nirgendwo tiefer als eineinhalb Meter.

Dass Jess sie verlassen hatte, schien meine Rachsucht nicht zu beeinflussen. Wenn überhaupt, machte sie der freundliche, informative Ton ihrer Nachricht intensiver. Merkte sie nicht, wie weit ich von ihr entfernt war? Verließ sie sich nicht jetzt, wie immer, auf irgendeine unveränderliche Loyalität in mir, ignorierte sie nicht meine Wut und meine Klagen, als wären sie im Vergleich zu ihren Plänen bedeutungslos?

An dem Tag, an dem ich die Nachricht erhielt, ging das Getriebe meines Autos kaputt, also tauschte ich ihn gegen einen acht Jahre alten Toyota mit achtzigtausend Meilen auf dem Tacho. Mir gefiel die Art, wie er vor meiner Wohnung aussah, bescheiden und anonym.

Sonst verging mein Leben wie in einem Nebel, jener Segen städtischer Routine. Das Gefühl einzelner, deutlich voneinander unterschiedener Ereignisse, dem man auf einer Farm nie entkommt, wo jeder Schauer vor Geruch und Farbe und vor Bedeutung für die Ernte strotzt, wo jede Veränderung auf Omen für Wohlstand oder Ruin untersucht wird, wo jedes Detail der Welt gerade die eine Sache enthalten könnte, die man vor allen anderen wissen sollte, dieses Gefühl hob sich von mir. Vielleicht kann man es auch so ausdrücken: Ich vergaß, dass ich noch lebte.