Ty hätte wohl geschworen, dass meine Loyalität Rose gegenüber ungebrochen und wahrscheinlich auch pathologisch war. Aber das stimmte nicht.
Ich konnte es nicht ertragen, einen Brief von ihr zu bekommen. Ihre Mitteilungen bestanden niemals aus mehr als einem Absatz. Sie waren freundlich und sachlich, sie hatten den leichten Unterton, mir den Kopf zurechtzusetzen, was einfach in der Natur unserer Beziehung lag. Aus ihnen ging deutlich hervor, dass sie mir noch immer, und zwar bewusst, die Definition dessen überließ, wie wir Schwestern sein würden, und dass ihre Geduld mit mir unerschöpflich war. Dass es darüber hinaus gar kein Entrinnen aus unserer Schwesternschaft gab, das steckte implizit in jedem Wort, sogar in der Adresse »Ginny Cook Smith« und dem Absender »Rose Cook Lewis«. Es lag hauptsächlich an meiner Angst vor Anrufen von Rose, dass ich nie ein Telefon installieren ließ.
Trotzdem, als sie mich wirklich wollte, erreichte sie mich. In dem Oktober nach dem April, als Ty vorbeigekommen war, klingelte während meiner Pause das Telefon im Restaurant, und es war Rose. Ich wusste das bereits, als ich zum Platz der Kassiererin ging, wo die Telefongespräche angenommen wurden, und den Hörer so drohend, so fordernd neben dem Apparat liegen sah. Sie war im Krankenhaus von Mason City. Das war eine Sache. Die Mädchen waren allein auf der Farm. Das war eine andere. Sie wollte mich sehen. Das war die dritte. Ich sagte: »Ich bin gegen drei da.«
Eileen würde mir, wie ich wusste, freigeben. Sie bedrängte mich bereits seit einem Jahr, mir mal freizunehmen. Ich behielt meine Kellnerinnentracht an, als könnte sie mich schützen, und es kam mir nicht in den Sinn, irgendetwas zu packen. Ich verließ meinen Arbeitsplatz mit nur einer Handtasche, so als wollte ich nach Hause.
Als ich Mason City erreichte, hielt ich an einer Telefonzelle und rief ihren Arzt an, der sofort ans Telefon kam. Er sagte mir, dass ihre Krankheit wieder ausgebrochen und der Krebs schon weit vorangeschritten sei. Die zweite radikale Mastektomie war im Juli während der Sommerflaute der Farmarbeit gemacht worden. Bestrahlungen und Chemotherapie bis in den August hinein hatten Rose noch eine weitere Ernte erkauft. Jetzt war die Ernte vorüber.
Sie war dünn und klein in ihrem Bett. Als ich das Zimmer betrat, hoben sich ihre Augenlider wie Samtvorhänge. Ihr Blick war ein Schauspiel, von dem man nicht wegsehen konnte. Sie schob sich in dem Bett ein oder zwei Zentimeter hoch und klopfte leicht auf eine Stelle der Bettkante, wo ich mich hinsetzen sollte. Ich setzte mich. Sie sagte: »Auf dem Höhepunkt der Ernte hab ich an einem Tag fünfzehn Ladungen zum Speicher gefahren. Wir haben drei Dollar sechs das Bushel bekommen.«
»Klingt nach ’nem guten Preis.«
»Wir hätten uns von Daddy mehr zeigen lassen sollen und uns mehr daran gewöhnen sollen zu arbeiten. Wenn ich daran gewöhnt gewesen war, das Tag für Tag zu machen, so wie Ty oder Loren, dann wär’s nicht so schwer gewesen.« Sie holte ein paar Mal tief Atem, griff dann nach einem Glas und schlürfte durch einen Strohhalm etwas Wasser. Sie sagte: »Nimm die Mädchen mit zu dir. Sie sind fertig.«
»Du meinst, sie haben gepackt?«
»Mehr oder weniger.«
Ich dachte, sie meinte, ich solle sie noch an diesem Abend von der Farm abholen und mit zurück nach St. Pauls nehmen. Ich sagte: »Rose, das ist lächerlich.«
»Sag, dass du sie nimmst.«
»Natürlich nehm ich sie.«
»Morgen reden wir darüber, wann.«
»Okay.«
Sie sprach eher in Stößen, die aus ihr herausbrachten, als dass ihre Zunge und Lippen Worte formten. Und es ermüdete sie. Das war alles, was sie für ungefähr eine Stunde sagte, und dann hoben sich ihre Augenlider wieder, und sie sagte: »Fahr nach Hause und mach ihnen was zum Abendessen. Mach ihnen Brathähnchen.«
Ich stand auf. »Rose, ich hab so lange frei, wie ich will. Ich hab seit drei Jahren keine Ferien gemacht.«
Sie nickte schwer.
Linda war nicht überrascht, mich zu sehen, bloß überrascht, dass ich vorher angeklopft hatte. Ich aber war überrascht, sie zu sehen. In den letzten drei Jahren hatte ich zu Weihnachten und den Geburtstagen Geschenke geschickt, aber ich hatte, ehrlich gesagt, ihre Dankesbriefe ungeöffnet weggeworfen, aus Angst, mich der Tatsache, dass ich sie und alles andere verloren hatte, stellen zu müssen. Ich fasste mich auf der Veranda und ging hinein. Tys Schnappschuss hatte mich nicht auf ihre Größe, ihren Körper, ihr fünfzehnjähriges selbstsicheres Auftreten vorbereitet, auf ihre tiefe Stimme, als sie rief: »Pam! Tante Ginny ist hier!« Ich trat über die Türschwelle, und sie umarmte mich fest. Pammy kam aus der Küche herein und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie sagte: »Oh, Tante Ginny! Du hättest fünf Minuten später kommen sollen, dann war ich mit dem Abwasch fertig gewesen!«
Das Haus sah weniger kahl aus als zu Daddys Zeiten, und das weiße Brokatsofa stellte das Herzstück einer Wohnzimmereinrichtung dar, zu der ein neuer Ohrensessel und ein Beistelltisch aus Eiche gehörten. Eine Lampe mit einem weißen plissierten Schirm und einem Kristallglasfuß vervollständigte das Bild. Daddys alter Lehnstuhl war nirgends zu sehen. Petes Klavier stand in der Ecke. Es waren keine Bilder darauf. Möbel füllten den Raum ganz aus, luden zum Eintreten ein, er war endlich zivilisiert.
Ich setzte mich auf den neuen Sessel und sagte: »Sieht schön aus, hier. Euer Großvater hat immer geglaubt, sein Stuhl am Fenster und ein Stapel Zeitschriften griffbereit daneben reichten als Dekoration völlig aus.«
Sie setzten sich nebeneinander auf das Sofa. Sie lächelten über meine Bemerkung. Pammy griff nach einer Fernbedienung, stellte den Fernseher aus. Sie sagte: »Ist nur ›Schicksalsrad.‹[12]«
Ich sagte: »Ich war bei eurer Mom.«
Linda sagte: »Sie hat uns angerufen.«
»Ich schätz, ich werd ’ne Weile bleiben.«
Pammy sagte: »Du könntest näher am Krankenhaus bleiben, wenn du willst. Wir sind alt genug und kommen alleine zurecht.«
»Kommt mir ’n bisschen einsam vor.«
Linda nickte dazu. Pammy sagte: »Für dich oder für uns?«
»Ich schätze, für alle.«
Nach einer Weile sagte Linda: »Lassen sie sie bald nach Hause? Sie denkt ja, aber ich glaub ihr nicht wirklich.«
Ich zuckte die Achseln. »Sie hat mir nur gesagt, ich sollte kommen und euch Brathähnchen machen. Ich hab unterwegs ein Hähnchen besorgt.«
Pammy sagte: »Wir sind seit drei Jahren Vegetarier.«
»Glaubt ihr, ihr könnt jetzt kein Fleisch mehr verdauen?«
Linda kicherte. Sie sahen sich an, und schließlich sagte sie: »Wir essen in der Schule Fleisch. Wir gehen sogar manchmal zu Kentucky Fried Chicken. Machst du uns Kartoffelbrei und Sahnesoße?«
»Soll ich?«
Sie nickten beide.
Ich fand, ich machte es ganz gut. Ich stand leicht und natürlich auf und ging, ohne zu stocken, in die Küche. Ich fand den gusseisernen Bräter und einen Topf für die Kartoffeln. Das einzige Problem war, dass mir die Küche arktisch kalt vorkam. Die blaue Gasflamme flackerte frostig. Das Fett im Topf zischte kühl. Als es meine Hand bespritzte, fühlten sich die verbrannten Punkte wie gefroren an. Ich sah mich um, nahm dann Roses alten beigefarbenen Pullover vom Haken hinter der Tür. Ich kuschelte mich hinein, während ich zitternd das Hähnchen machte. Dass ich wieder in dieser Küche stand und kochte, erschien mir als eine unmögliche Niederlage. Seit meinem Treffen mit Ty hatte ich meine Bindungen an mein altes Leben noch weiter reduziert, indem ich eine Mikrowelle gekauft hatte. Sechs Monate lang hatte ich jede Mahlzeit, die ich nicht im Restaurant zu mir genommen hatte, in der Mikrowelle aufgewärmt, und meine Speisekammer war voll von ovalen Plastiktellern. Hinzu kam, dass ich mich ärgerte, nicht den geringsten Widerstand geleistet zu haben, obwohl ich wusste, dass ich bestimmt schon früher gekommen wäre, wenn Rose mir ihren Zustand mitgeteilt hätte. Das Wort »Krankenhaus« hatte gereicht. Ich drehte die Hähnchenstücke um. Draußen war es bereits dunkel wie Mitternacht – und noch nicht einmal halb sieben abends. Um diese Stunde würde sich das Restaurant füllen, jeder fröhlich erleuchtete Tisch strahlend vor Speisekarten und Papiersets. Auf der anderen Seite der schwarzen Fenster von Roses Küche aber war nichts als Raum, ein lichtloses, geräuschloses Vakuum, das sich auf diesen tausend Morgen bis auf den Boden senkte. Ich ging zur Hintertür, suchte nach dem Schalter und machte die Gartenlichter an, drei Spots auf hohen Pfählen, die den Weg zwischen Haus und Scheune zum Maschinenschuppen erleuchteten. Sie halfen, aber ich glaubte ihnen nicht wirklich.
Linda stand in der Tür zum Wohnzimmer. Sie sagte: »Pam muss für morgen eine Geschichtsarbeit fertig haben, aber ich kann dir helfen.«
»Du hast keine Hausaufgaben?«
»Ich hab Geometrie in der Schule gemacht. Ich muss ’n paar Kapitel in einem Buch lesen.«
»Welchem Buch?«
»David Copperfield.«
»Das kenn ich.«
»Ganz schön lang.«
»Das war das erste Schulbuch, das mir gefallen hat.«
»Mir hat Giganten der Erde gefallen. Das haben wir letztes Jahr gelesen. Dies ist schwer zu lesen, weil die Schrift so komisch ist.«
»Du meinst altmodisch.«
»Jaa.« Sie setzte sich an den Küchentisch und sah mir zu. Nach einer Weile sagte ich: »Ist dir kalt? Die Küche kommt mir kalt vor.«
Sie sagte: »Nein.«
Ich blickte sie lange an. Sie sah ahnungslos aus. Ich sagte so beiläufig wie nur möglich: »Hat deine Mom Eingemachtes unten im Keller oder so was?«
»Ein bisschen. Wir machen nicht mehr so viel wie früher, Bohnen oder so. Wir haben versucht, Sachen zu trocknen.«
»Hm, interessant.« Ich wartete.
»Im anderen Haus ist noch viel. War zu viel Arbeit, alles hier rüberzubringen.«
»Das glaub ich.« Ich begann Kartoffeln zu schälen und sie in eine Schüssel mit kaltem Wasser zu werfen. Sie sah mir aufmerksam zu. Zuerst machte es mich nervös, aber dann wurde mir klar, dass ihr Zusehen einen Grund hatte und dass es Früchte tragen würde, wenn ich geduldig blieb. Nachdem ich vier Kartoffeln geschält hatte, sagte sie: »Könntest du ’n paar mehr schälen, damit welche übrig bleiben? Mommy macht uns Kartoffelpfannkuchen zum Frühstück.« Ich schälte weiter. Es kam mir vor, als wäre Rose seit Wochen weg, aber offensichtlich stimmte das nicht. Ich sagte: »Wann ist deine Mom ins Krankenhaus gekommen?«
»Montag.«
Vor drei Tagen.
»Habt ihr sie besucht?«
»Sie will nicht, dass Pam den Pick-up fährt, und sie hat das Auto. Außerdem hat sie gesagt, sie kam bald wieder.«
Das hatte ich von Rose nicht erwartet. Ich sagte: »Wollt ihr sie besuchen?«
»Ich glaub nicht, dass sie uns lässt. Sie will nicht, dass wir sie besuchen.«
»Aber willst du sie besuchen?«
Sie dachte lange nach. »Jaa.«
»Pammy auch?«
»Jaa.«
»Also, warum sollte Rose alles bestimmen?«
Ich meinte das rhetorisch, als eine Bemerkung, die meinen Handgriff unterstrich, als ich die Tür des Kühlschranks öffnete und hineinsah, ob ich etwas Brokkoli oder sonst was Grünes finden könnte, aber Linda sagte: »Weil sie’s immer macht.«
»Diesmal nicht. Wir fahren morgen nach der Schule.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Ich sag’s Pam.«
Ich lag unbehaglich und ruhelos im Bett, nachdem die Mädchen eingeschlafen waren. Schließlich stand ich auf und ging zum Telefon und wählte die Auskunft von Vancouver. Es gab einen Jess Clark, und es war nicht zu spät für die Zeitzone dort, also wählte ich die Nummer. Mir war so kalt, dass ich mit dem Quilt um die Schultern gelegt dasaß, während es klingelte. Beim fünften Klingelzeichen antwortete die Stimme eines Amerikaners, aber als ich fragte, ob er der Jess Clark sei, der früher einmal in Iowa gelebt habe, sagte er nein. Ich glaubte, seine Stimme wieder zu erkennen. Ein Baby schrie im Hintergrund.
Es gelang mir nicht, in Roses Haus, Daddys Haus, ein Bett zu finden, in dem ich liegen konnte. Um drei Uhr morgens landete ich auf dem weißen Brokatsofa, und dann fiel der Regen draußen in meine Träume, weichte das Sofa auf, dass es sich blähte und verzog, und ich kämpfte mit jemandem, dessen Identität im Traum nicht klar war.
Am nächsten Tag fuhr ich am Vormittag ins Krankenhaus. Rose saß im Bett und aß Würfel aus Zitronengelee. Ihr Kiefer war messerscharf, und ihr Hals hatte das stängelähnliche Aussehen Verhungernder, aber es war deutlich, dass mehr Lebenskraft in ihr war als am Tag zuvor.
Ich sagte: »Die Mädchen möchten wissen, wann du nach Hause kommst.«
»Paar Tagen.«
»Ich bring sie heute nach der Schule mit.«
»Es ist ’ne lange Fahrt.«
»Sie möchten gerne.«
Sie zuckte die Achseln und aß ihre Geleewürfel auf. Schließlich sagte sie: »Ich hab alles mit ihnen besprochen. Ich hab nicht alles einfach ungesagt gelassen, so wie Mommy das mit uns gemacht hat. Ich hab ihnen keine Rätsel aufgegeben. Ich hab’s ihnen im Juli klar gemacht, als ich sah, was passierte.« Ihre Stimme war schwach, aber ihr Ton klang absolut überzeugt; sie würde in einer Verfassung vollkommener Selbstsicherheit sterben. Ich fühlte, wie ich in dem Ärger und Zorn versank, den ich so lange gehegt hatte, aber ich kämpfte mit mir, um meine Stimme weich und glatt zu machen. Ich sagte: »Freut mich zu hören.«
Sie lächelte belustigt.
Ich konnte nicht widerstehen. Ich rief aus: »Ich bin beeindruckt, wie du alle noch bestehenden Unklarheiten aus dem Weg räumst.« Ich gab ganz nach. »Herrisch bis zum Ende, was?«
Ihre Arme, zu beiden Seiten auf der grünen Decke, sahen sehnig aus, und ihre Hände breiteten sich wie Spinnweben auseinander, ballten sich, breiteten sich wieder aus, so als ob sie schmerzten, aber nicht, als ob sie Schmerz empfand. Ich erkannte diese Empfindung von ihrer ersten Krankheit wieder, als ich das Gefühl gehabt hatte, sie wäre so weit von ihrem Körper getrennt, dass ich ihre beiden Hälften einzeln ansprechen musste. Sie sagte: »Suchst du etwas, womit du mich verletzen kannst?«
»Wahrscheinlich.«
»Immer noch der Kampf um einen Mann, was?«
»Jess?«
»Wenn das der Mann ist, um den du kämpfst.«
»Irgendwie hat er mich mehr beeindruckt als Ty. Auf jeden einzelnen Gedanken an Ty kommen zwanzig an Jess.«
»Das kommt daher, weil du nicht oft genug mit ihm geschlafen oder praktische Sachen mit ihm gemacht hast. Am Ende hättest du die Nase voll gehabt.«
»War das so bei dir?«
»Beinahe. Es war das Licht am Ende des Tunnels. Ich hätte bis zum Sommer die Nase voll gehabt.«
»Danke.« Ich meinte, halt den Mund. Sie ignorierte mich. Sie sagte: »All diese Regeln. Nicht mehr als drei Eier die Woche, immer pochiert und auf gebräuntem, aber nie verbranntem Weizentoast. Haferflocken aus irgendeinem organischen Laden in San Francisco. Ginsengtee dreimal am Tag. Meditation bei Sonnenaufgang. Wenn wir am Tag vorher nicht in der Zeitung nachsahen und bis auf die Minute genau die Zeit des Sonnenaufgangs herausfanden, war er den ganzen Tag unruhig. Und wir mussten den Zeitunterschied zwischen dem Sonnenaufgang in der Zeitung und dem Sonnenaufgang auf der Farm berechnen. Es ging um so was wie zweidreiviertel Minuten.«
»Er war ein gutmütiger Mann. Du hättest ein paar Marotten akzeptieren können.«
»Ty war gutmütiger. Das konntest du nicht aushalten.« Sie starrte mich an. »Jess Clark war nicht so, wie du denkst, Ginny. Er war egozentrischer und berechnender, als du geglaubt hast.«
Ich äffte sie nach. »Er war nicht so, wie du denkst, er war gutmütiger und hatte mehr Zweifel, als du geglaubt hast.« Wir starrten einander eine lange Minute lang aggressiv an, dann nahm Rose eine ihrer spinnwebartigen Hände hoch und strich sich eine Haarsträhne zurück. Ihr Haar war kurz und dünn. Als sie es zurückstrich, fiel ihr ihr Zustand wieder ein, und sie sagte: »Was du in Wirklichkeit sagst, ist, dass er käme, wenn er wüsste, dass ich in der Verfassung bin, in der ich bin. Gutmütigkeit gab’s bei ihm nicht umsonst, Ginny, sie war ein Weg, ihn dahin zu bringen, wo er hin wollte.«
»Ich schätze, da sind wir verschiedener Meinung.«
»Der Unterschied ist der, dass ich ihn geliebt hab, ohne mich darum zu kümmern, ob er gut war. Er war gut genug, und ich wollte ihn, und er hat sich davongemacht. Weißt du was? Am Ende war er zu gut! Als es darauf hinauslief, dass wir auf dem, was wir hatten, aufbauen mussten, bekam er Angst davor, auf Tod und Unglück und Zorn und Zerstörung aufzubauen. Lass mich dir was erzählen. Eines Abends kam er zu spät zum Essen. Es war eine komplizierte Kürbissuppe, die wir zusammen gemacht hatten, und er kam erst um acht nach Hause, und ich war verärgert, aber ich nahm’s nicht so wichtig, bis er anfing, sich verlegen und schuldbewusst aufzuführen. Na ja, dann kam heraus, dass er bei Harold gewesen war! Diese alten Damen hatten eine große Sache daraus gemacht, und Harold war nett zu ihm gewesen, und danach war es einfach so, als wenn man zusieht, wie der eigene Liebhaber zu seiner Frau zurückgeht. Was auch immer man hat, wie leidenschaftlich auch immer man es will und er es auch zu wollen scheint, was er mehr und mehr will, ist, dazugehören und ein guter Junge sein. Dann fühlt sich alles, was er für dich empfindet, falsch an. Je stärker er es empfindet, umso falscher fühlt es sich an, und er fängt an, es zurückzuweisen. Eine Weile später hatten wir dieses Informationsmaterial über Naturdünger in der Post, und er kam rein und sah es und machte es nicht auf, und ich wusste, das war’s, und so war es. Er packte zehn Tage später und ging, ohne genau zu sagen, wohin, und es stellte sich raus, dass er eine Woche bei Harold gewesen war, bevor er nach Seattle zurückging. Ich bin sicher, Vancouver ist der ideale Ort für ihn. Er hat sich da so rein wie frisch gefallener Schnee gefühlt, als er vorher da war.« Sie zog hoch, fing dann meinen Blick. »Ich hätte ihn vielleicht umgebracht, wenn ich von seinen Plänen gewusst hätte.«
Sie sagte den letzten Satz mit nüchterner Überzeugung. Ich glaubte ihr. Oder zumindest glaubte ich, dass sie sich, so wie ich, vorübergehend im Land des Unvorstellbaren aufgehalten hatte. Jetzt legte sie sich zurück, grau und müde, und ließ ihre Lider über ihre großen Augen fallen. Ich sagte: »Hörst du manchmal von ihm?« Aber sie winkte ab oder war vielleicht einfach zu erschöpft, um zu antworten. Ich dachte darüber nach, ob ich ihr von dem Anruf am Abend zuvor erzählen sollte, aber stattdessen griff ich zum Lady’s Home Journal, das neben ihrem Bett lag. Ich las einen Artikel über einjährige Pflanzen in Blumenkästen und Töpfen, dann einen Artikel über Wege und Möglichkeiten, wie man eine Diät ohne Fett machte und das Essen trotzdem schmeckte. Sie würde es vielleicht auf der nächsten Telefonrechnung sehen. Sie schlief ein. Außerdem war er jetzt viel zu jung für sie. Wir alle waren es.
Ich ging auf dem Krankenhausparkplatz spazieren, wo viel los war und ich in dem Durcheinander zusammenlaufender und auseinander laufender menschlicher Absichten auf andere Gedanken kam, auch wenn einigen hier anzusehen war, dass sie krank oder verletzt waren. Als ich zurückkam, hatte Rose ihr Mittagessen vor sich, das sie nicht aß.
Ich sagte: »Du könntest die eingemachten Birnen essen. Die rutschen leicht runter.«
»Ich bin so weit, dass ich es hasse, wenn ich den Dingen ansehe, was sie sind oder mal waren. Krankenhäuser sollten eine Art Schrotfutter machen.« Sie gab dem Tablett einen Stoß, und es rotierte auf mich zu.
Ich sagte: »Ich fahr bald, in einer Stunde, und hol die Mädchen. Es ist beinahe Nachmittag.«
»Ich will dir vorher noch ’n paar Dinge sagen. Praktische Dinge.«
»Okay.« Ich trug noch immer mein Kostüm. Ich zog den Rock über die Knie.
Sie sagte: »Ich vermach die Farm dir und Caroline, nicht den Mädchen.«
»Wieso?«
»Ich will nicht, dass die Farm sie belastet. Ich will, dass dies alles mit unserer Generation aufhört.«
»Ich will die Farm nicht bewirtschaften. Ty ist in Texas. Caroline will sie auch nicht bewirtschaften.«
»Vor drei Jahren hätte ich gesagt, verpachte sie. Du könntest neunzig Dollar pro Morgen bekommen. Aber wenn ich entscheiden könnte, würde ich das jetzt nicht tun. Es liegen zu viele Schulden drauf.« Sie sah mich an, dann aus dem Fenster. »Wie auch immer, Marv Carson wird dich zwingen, zu verkaufen. Ich weiß nicht, was unterm Strich bleibt, wenn Schulden und Steuern abgezogen sind. Ich weiß es einfach nicht. Es ist ’ne schlechte Zeit zum Verkaufen.« Sie seufzte.
Nach einer Weile sagte ich: »Was, wenn nichts übrig bleibt? Wie denkst du darüber?«
»Pam und Linda wissen, dass sie eventuell arbeiten müssen, und wenn sie aufs College wollen, brauchen sie ein Stipendium von irgendjemand. Ich hab ihnen das erklärt.«
Ich wartete.
»Ginny, du hast es nicht gerne, wenn ich sage, was ich wirklich denke. Ich brauch dich. Ich will keinen Ärger mit dir. Ich hab meine Meinung nicht geändert über Daddy oder die Farm oder das, was er uns angetan hat, aber wenn ich mich wiederhole, gehst du vielleicht einfach. Ich trau dir nicht.«
»Ich trau dir nicht.«
»Na also. Bloß was gibt’s noch an mir, dem du nicht trauen kannst? Ich sitz hier fest.« Sie streckte ihre Spinnwebhände aus und breitete ihre mageren Arme aus. Tränen brannten mir in den Augen. Ich sagte: »Ich glaub, ich war darauf vorbereitet, den Kampf länger zu führen.«
»Jaa. Ich bin siebenunddreißig. Scheiße, nicht?«
Ich sagte: »Es ist schwer zu ertragen.« In dem Augenblick erschien es fast unmöglich zu ertragen. Ich rief aus: »Oh, Rose.«
Sie schniefte und wies damit diese Aufwallung zurück. Nach einer Weile sagte sie: »Tu mir das nicht an. Wir werden nicht traurig sein. Wir werden wütend sein, bis wir sterben. Das ist die einzige Hoffnung.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaff. Erst recht nicht, wenn ich dich nicht als Ansporn habe. Ich fall einfach zurück in diesen Wirrwarr. Bei der Verhandlung war ich so schockiert. Ich mein, er war so verloren und klein geworden. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mich nicht an das erinnern, was wir so gefürchtet hatten, nur dass du es konntest, also konnte ich es. Und dann konnte ich dich die ganzen letzten drei Jahre so deutlich sehen, wie du dich immer auf meine Kosten durchgesetzt hast und dein Leben lang selbstsüchtig gewesen warst. Ich sah die Worte vor mir, in roten Buchstaben, ›Rose ist selbstsüchtige und ich hatte keine Schwierigkeiten, hart zu sein und alles, was du getan und gesagt hast und früher je getan und gesagt hattest, als Beweis zu nehmen, dass du unerschütterlich selbstsüchtig warst, und das ist schlecht. Ich mein, wenn wir nicht wissen, dass selbstsüchtig sein schlecht ist, was haben wir dann als Kinder gelernt?«
Rose lachte. In dem trüben Krankenhauszimmer war das ein lustiger Klang. Mir gefiel das, und gleichzeitig war ich gekränkt, also beichtete ich, vielleicht einfach, um sie zu beeindrucken, sie wieder ernst zu machen. Ich sagte: »Ich dachte, ich würde immer böse auf dich bleiben, aber jetzt bin ich’s nicht! Ich mein, ich wollte dich umbringen!«
»Na und? Ich will die ganze Zeit Leute umbringen.«
»Nein! Ich will damit nicht so was sagen wie ›Mann, ich könnte den Kerl umbringen‹. Ich mein, ich hatte vor, dich umzubringen. Ich hab vergiftete Wurst für dich zubereitet und sie eingemacht und daraufgewartet, dass du sie isst.«
Sie sah mich an, endlich überrascht. Schließlich sagte sie: »Tja, muss ja wohl geklappt haben, was?«
»Weißt du nicht mehr? Die Leberwurst mit Sauerkraut, die ich dir rübergebracht habe?« Sie schüttelte den Kopf. »Zum Mittagessen, im Spätsommer?«
»Vage. War so viel los, dass ich’s vergessen haben muss. Und dann war ich natürlich schon Vegetarierin im Jess-Clark-Stil, also hätt ich Leberwurst nie gegessen, selbst wenn ich dran gedacht hätte.«
Sie trank etwas Wasser durch den Strohhalm.
Ich sagte: »Bist du noch nicht mal beeindruckt?«
»Ich glaub, ich denke, wenn du mich wirklich hättest umbringen wollen, hättest du mich erschossen oder so was. Ty hatte ein Gewehr. Daddy auch, Pete auch. Aber du hättest dir gar nicht die Mühe machen müssen. Unser Trinkwasser hat das schon erledigt.«
Ich nickte. Kraftlos nach meiner Beichte, sackte ich in meinem grünen Stuhl zusammen, feucht vor Schweiß. Rose dagegen sah gestärkt aus. Ich sagte: »Muss also noch in deinem Keller stehen.«
»Alles andere auch. Aber das Haus ist vernagelt, seitdem ich rüber auf die andere Straßenseite gezogen bin.«
Ich spürte eine überraschende Welle der Erleichterung. Wir tauschten unser erstes richtiges Lächeln, seitdem ich gekommen war.
»Ich sollte fahren, wenn ich vor den Mädchen zu Hause sein will. Sie wollen heute Nachmittag kommen.« Dann sagte ich: »Was soll ich ohne dich anfangen?«
»Übe dich in Vorsicht, wie immer.«
Ich stand auf. »Ich sollte fahren, ich hab’s ihnen versprochen.«
Sie streckte die Hand nach mir aus. Ihre war kühl, und ihr Daumennagel grub sich in meine Handfläche. Sie zog mich näher heran. Sie sagte: »Ich hab nichts zustande gebracht. Ich hab nicht lange genug unterrichtet, um zu wissen, was ich tat. Ich hab das Leben mit Pete nicht gut hingekriegt. Ich hab meine Töchter nicht ins Erwachsenenleben geleitet. Ich hab Jess Clark nicht gewonnen. Ich hab die Farm nicht gut geführt. Ich war genauso ein Nichts wie Mommy oder Grandma Edith. Ich hab es noch nicht mal geschafft, dass Daddy sah, was er getan hatte oder was es bedeutete. Die Leute in der Stadt reden darüber, dass ich alles ruiniert habe. Drei Generationen auf derselben Farm, großartiges Land, Daddy ein wunderbarer Farmer und auch noch ein Heiliger.« Sie zog sich an meiner Hand im Bett hoch. »Also ist alles, was mir bleibt, das Wissen, dass ich gesehen habe! Dass ich ohne Angst gesehen habe und ohne mich abzuwenden und dass ich das Unverzeihliche nicht verziehen habe. Verzeihen ist ein Reflex, wenn man das, was man weiß, nicht erträgt. Ich hab diesem Reflex widerstanden. Das ist das einzige, alleinige, einsame Werk, das ich zustande gebracht hab.«
Ich machte meine Hand los.
Rose schloss die Augen und winkte mich aus der Tür.