Ich lag und schlief,
da träumte mir

(Hoffmann von Fallersleben, 19. Jhd.)

Ich lag und schlief, da träumte mir

ein wunderschöner Traum;

es stand auf unserm Tisch vor mir

ein hoher Weihnachtsbaum.

Und bunte Lichter ohne Zahl,

Die brannten ringsumher,

Die Zweige waren allzumal

Von goldnen Äpfeln schwer.

Und Zuckerpuppen hingen dran:

Das war mal eine Pracht!

Da gab’s, was ich nur wünschen kann

Und was mir Freude macht.

Und als ich nach dem Baume sah

Und ganz verwundert stand,

Nach einem Apfel griff ich da,

Und alles, alles schwand.

Da wacht’ ich auf aus meinem Traum.

Und dunkel war’s um mich:

Du lieber, schöner Weihnachtsbaum,

Sag an, wo find’ ich dich?

Da war es just, als rief er mir:

»Du darfst nur artig sein,

Dann steh’ ich wiederum vor dir –

Jetzt aber schlaf nur ein!

Und wenn du folgst und artig bist,

Dann ist erfüllt dein Traum,

Dann bringet dir der Heil’ge Christ

Den schönsten Weihnachtsbaum.

*

Es heißt, dass die Seele ewige Ruhe findet, sobald der Leib beerdigt wurde. Doch manchen Seelen wohnt eine derart diabolische Bösartigkeit inne, dass sie auf ewig dazu verdammt sind, auf Erden zu wandeln …

Mit lautem »Rums!« fiel die Tür ins Schloss.

Unbewegt, beinahe andächtig, standen Alena und Jaro da, starrten auf das dunkle Holz, das den Eingang in ihre kleine Stube verschloss. Vier lange Jahre hatte das Ehepaar darauf gewartet, endlich eine Behausung zu finden, die es sich leisten konnte. Vier lange Jahre, in denen sie sich einen Raum von drei mal fünf Metern geteilt hatten, gemeinsam mit fünf weiteren Arbeitern aus Böhmen sowie zwei Schlafburschen und drei Schlafmädchen, die tagsüber ihre Bettstatt gegen geringes Entgelt nutzten. Zu mehr als dieser Unterkunft hatte der karge Lohn von Alena und Jaro nicht gereicht, obwohl beide fleißig ihren Tätigkeiten nachgingen – er als Tramwayschienenritzenkratzer, sie als Schichtarbeiterin in der Apollo-Kerzenfabrik in Wien Neubau. Als vor einem Jahr dort ein Diebstahl entdeckt worden war, zu dem sich kein Schuldiger finden ließ, statuierte man ein Exempel und warf einen Böhm hinaus – nämlich sie. Alena empfand diese ehrlose Entlassung ohne Dienstzeugnis wie einen Schlag ins Gesicht, hatte sie sich doch noch nie im Leben etwas zu Schulden kommen lassen. Seither suchte sie einen Ersatz für ihre Zehnstundenschicht, bislang vergeblich.

In dieser Schicksalsgemeinschaft aus Fremden und Schlafgängern zogen sie und ihr Gemahl ihren Sohn Jakub auf, trotzten dem Ärger der anderen Bewohner ob des Kindergeschreis, boten dem Hauseigentümer die Stirn, wenn er sie wieder einmal auf die Straße setzen wollte, und kämpften Seite an Seite gegen all das andere Unbill, das sie täglich aufs Neue herausforderte.

Am Rande ihrer Kräfte hatte Alena kürzlich von einem Lebzelter6, der am Grünmarkt einen Stand mit Naschwerk betrieb, erfahren, dass eine Stube im Dachgeschoss im Haus am Katzensteig frei sei, und nicht nur das – die Behausung war auch leistbar.

Mit lautem »Rums!« fiel die Tür ins Schloss.

Hier stand die Familie also, inmitten ihrer ersten eigenen vier Wände.

Jaro drückte die Hand seiner Frau. »Hörst du das?«

Unsicher schüttelte sie den Kopf. »Was meinst du? Ich … höre nichts.«

Er lächelte selig. »Genau. Niemand anders ist hier als wir drei. Kein schnarchender Arnošt, kein saufender Josef. Keine Hedy, die dir einmal im Monat das Laken vollblutet.«

Jaro wischte sich eine Träne von der Wange.

»Wir sind endlich in Wien angekommen.«

Alena gab ihm einen Kuss. »Das sind wir, můj milovaný, das sind wir.«

Dann drückte sie Jakub an sich, der neben ihr stand und sich still an ihrem Rockzipfel festhielt. Der Bub war der Eltern ganzer Stolz. Sein schwarzes Haar kräuselte sich in feinen Locken, seinen dunklen Augen schien eine alte Seele innezuwohnen. Er sah zu seiner Mutter hoch, machte mit der Hand eine Geste zum Mund.

»Wir werden gleich essen«, meinte Alena, gewohnt, dass ihr Kind sich mit Zeichen verständlich machte. Laute gab der vierjährige Bub wohl von sich, wenn ihn etwas drückte oder schmerzte, doch sprechen lag ihm nicht. Alena und Jaro war dies einerlei, im Gegenteil – für sie war Jakub gerade deshalb etwas Besonderes.

Darauf angesprochen pflegte Alena stets zu antworten: »Er wird sprechen, wenn er etwas zu sagen hat.«

Das erste Mahl im neuen Zuhause bestand aus Erdäpfeln mit Kraut, dazu die Reste eines alten Brots. Am wackelnden Tische sitzend, auf knarrenden Sesseln kam es der Familie dennoch vor wie ein Festmahl, das sie in einer herrschaftlichen Residenz zu sich nahmen. Nach dem Essen legten sich die Eltern neben dem Tisch auf Strohsäcke, die ihre Bettstatt bildeten, nahmen Jakub zwischen sich und deckten sich mit einer Decke aus Filz zu.

»Schlaf gut, můj milovaný«, flüsterte Alena.

»Du auch«, erwiderte Jaro.

Doch obwohl Jaro beinahe augenblicklich in tiefen Schlaf fiel und auch Jakub leise schnarchte, war die bleierne Müdigkeit, die Alena jeden Abend verspürte, wie weggeblasen. Vielleicht war es die Aufregung ob der ersten eigenen Stube? Vielleicht lag es am kalten Mondschein, der durchs Fenster fiel? Alena nahm sich vor, am nächsten Tag nach Lumpen zu suchen, um sie vor die Scheiben zu hängen. Doch innerlich wusste sie, was sie nicht schlafen ließ: die ungewohnte Stille. Nichts und niemand befand sich im Raum, der über Gebühr schnarchte, sprach oder raschelte. Auch keine Mäuse oder Ratten, die sich hinter Truhen und unter Strohsäcken auf Futtersuche machten.

Grabesstille.

So empfand es Alena mit einem Mal und schalt sich sogleich einen Narren – das war es doch, wovon sie all die Jahre geträumt hatte! Und nun, da es erreicht war, raubte es ihr den Schlaf?

Die Frau begann sich über sich selbst zu ärgern, blickte zu dem schmalen Fenster, sah, wie draußen ein Vorhang aus dichtem Schneetreiben vorbeizog. Während es Alena behaglich warm unter der Decke wurde, gaben sich draußen Kälte und Frost ein Stelldichein.

Sie seufzte, tief und zufrieden. Wenn der Preis für diese Glückseligkeit ein anfänglicher Mangel an Schlaf sein sollte, dann sei es eben so, bestärkte sie sich in Gedanken und begann, die Schneeflocken zu zählen –

Als plötzlich eine weiße Katze vor dem Fenster vorbeihuschte.

Alena runzelte die Stirn. Hatte sie gerade richtig gesehen? Was sollte eine Samtpfote bei so einem Wetter draußen machen? Sie würde erfrieren, daran hegte Alena keinen Zweifel.

Behutsam schlüpfte sie aus der Decke, ging zum Fenster und blickte über schneebedeckte Dächer. Dann aufs Fensterbrett. Waren das Tatzenspuren? Oder einfach nur leichte Mulden im Schnee?

Unwillkürlich zuckte Alena mit den Schultern. Selbst wenn es eine weiße Katze gewesen war, würde sie nun wohl über alle Berge sein – oder in diesem Fall über alle Giebel. Die Frau schlüpfte wieder unter die Decke, gedachte eines verängstigten, frierenden Kätzchens, während sie in Wellen immer tiefer dem Schlaf anheimfiel.

Schmerzen. Ihr Bauch verkrampfte sich, als würde ihn jemand mit ehernem Griff zusammendrücken. Alena fiel auf die Knie, versuchte, sich die Pein aus dem Leib zu schreien und blieb doch stumm wie ein Fisch. Ihre Eingeweide brannten, als stünden sie in Flammen. In ihrem Magen befand sich etwas, von dem sie wusste, dass es hi­nausmusste. Mit aller Kraft krallte sich Alena die Fingernägel in die Bauchdecke, riss sie auf, versuchte, die Quelle ihrer Schmerzen mit den Fingern zu greifen –

»Alles gut.« Jaros Stimme, sanft und beruhigend. »Du hast nur schlecht geträumt.«

Entgeistert starrte Alena ihn an, atemlos und schweißgebadet. Die schwarzen Locken klebten ihr auf Stirn und Hals.

»Es … hat sich so … so wahr angefühlt«, stammelte sie, noch immer die Bilder vor Augen und den Schmerz im Geiste.

Jaro drückte ihr ein Busserl auf die nasse Stirn. »Und ich hab so gut geschlafen wie noch nie in meinem Leben. Muss ich mich dafür schämen?«

Alena lächelte. »Natürlich musst du das.«

Nachdem die Familie Brei mit warmer Milch gefrühstückt hatte, machte Jaro sich auf, seinen Dienst bei der Wiener Tramway-Gesellschaft anzutreten. Im Winter war seine Tätigkeit besonders kräftezehrend, hieß es doch, den Gleiskörper nicht nur von Verunreinigungen zu befreien, sondern auch von Eis. Alena verabschiedete ihn mit einem Kuss und dem Versprechen, dass ihn bei seiner Rückkehr eine heiße Brühe und eine kuschelige Bettstatt erwarten würden.

Danach kümmerte sie sich um Jakub. Sie wusch den Buben in einem Lavoir7, las ihm Geschichten und sang ihm Lieder vor. Anschließend kehrte sie die Stube mit einem struppigen Besen aus Reisig, leerte die Potschamperl8 und holte zwei Kübel mit frischem Wasser aus dem Brunnen im Innenhof.

Auf dem kleinen ehernen Ofen bereitete sie die Brühe zu, sorgte sich, dass ihr Sohn anständig aß, und legte ihn zum Mittagsschlaf nieder.

Nun hatte Alena zum ersten Mal an diesem Tag etwas Zeit für sich. Sie sah aus dem Fenster, vor dem der Wind Schneeflocken vor einem blitzblauen Himmel hertrieb, entrissen den Dächern und Türmen, als plötzlich ein weißes Etwas vorbeihuschte.

Alena sprang auf, stürzte zum Fenster, blickte hinaus – tatsächlich! Punktgenau am Dachfirst stand ein weißes Kätzchen, bis zum Bauch im Schnee, und neigte den Kopf, als stellte es eine Frage.

Alena öffnete das Fenster.

»Was bist denn du für eine?«, fragte sie, die Stimme verstellt, als würde sie mit einem fremden Kleinkind sprechen. »Zu wem gehörst du denn?«

Das Tier streckte sich durch, als wollte es sich das Rückgrat brechen, bis nur noch sein Hinterteil und der buschige Schwanz aus dem Schnee ragten. Dann kam es behutsam näher getapst.

»Willst du dich ein bisschen bei uns wärmen?«

Alena streckte ihre Hand aus. Nach kurzem Zögern rieb die Katze ihren Kopf daran, schnurrte, als hätte man eine Mechanik aktiviert.

»Du bist aber eine Hübsche.«

Ein Greinen im Hintergrund – Jakub schien schlecht zu träumen.

Mit einem Mal machte die Katze einen Satz zurück, stieß ein infernalisches Fauchen aus, als hätte sie ihren Todfeind erblickt. Dann wandte sie sich um und war nach drei Sätzen hinter dem nächsten Hausdach verschwunden.

Alena schloss das Fenster, setzte sich zu Jakub auf den Strohsack und streichelte ihm über den Kopf, worauf sich der Bub wieder beruhigte. Mit eigenartig verklärtem Blick verharrte die Frau am Fenster, gleich so, als hätte sie gerade etwas gesehen, was es so nicht geben konnte – etwas, gleich einem Geist.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in Alena breit. Sie legte sich auf die Bettstatt neben ihren Sohn, umarmte ihn und versuchte sich etwas vorzustellen, was sie beruhigte. Heiligabend. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie sie in drei Wochen Weihnachten feiern würden, zu dritt vor einem Christbaum, der so prachtvoll und unerschwinglich mit Zierwerk und Naschereien behangen war wie jener, der im Schaufenster eines Nobelkaufhauses am Graben stand. Wie die Kerzen ein himmlisch warmes Licht spenden würden und Jakub sein erstes Wort sprach …

»Was in Dreigottesnamen ist hier los?«

Alena fuhr aus dem Schlaf hoch. Umhüllt von der Dunkelheit des Abends verharrte ihr Gemahl in der Tür. Dicker, beißender Qualm erfüllte die Wohnung. Der Topf, in dem sie die Brühe zubereitet hatte, stand glutheiß am Ofen.

Jaro lief zum Fenster, riss es auf, griff einen Fetzen und versuchte, den Topf zu packen, ohne sich zu verbrennen. Dann schleuderte er ihn hinaus aufs Dach, wo dieser zischend im Schnee versank.

»Was ist hier los?«, schrie er seine Frau an.

Alena war gänzlich verwirrt. Was war geschehen? Sie wollte sich doch nur ein paar Minuten ausruhen.

Jaro atmete tief durch, versuchte, seinen Ärger unter Kontrolle zu halten. »Ich hackel9 den ganzen Tag wie ein Viech, und du fackelst die Stube ab?«

Tränen liefen Alena über die Wange. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so leid.«

»Nicht so leid, wie es mir tut. Bis auf einen Apfel hab ich den ganzen Tag nichts gegessen, und dann komm ich heim –«

Er brach ab, den Blick unstet wie ein gehetztes Tier. »Ich geh in das Tschocherl auf der anderen Straßenseite. Vielleicht bekomm ich ja dort einen Teller Suppe.«

»Jaro –«

Die Tür fiel ins Schloss.

Jakub weinte.

Alena tröstete das Kind. Dann rappelte sie sich auf, holte den erkalteten Topf vom Dach und setzte sich in der dunklen Wohnung auf einen Stuhl, hoffend, dass Jaro bald wieder nach Hause kommen würde und sein Zorn verflogen war.

Jaros Zorn war auch verflogen, als er zur Tür hereintorkelte, oder besser gesagt hatte er ihn in Fensterschwitz10 und Krautschnaps ertränkt. Nun lag er lautstark schnarchend neben Alena, während sie den tröstenden Schlaf nicht finden konnte, nach dem sie sich sehnte. Das ungeplante Nachmittagsschläfchen hatte wohl sein Übriges dazu beigetragen, dass sie nun putzmunter war. Auch die Vorstellung von einem idyllischen Weihnachtsfest half ihr nicht.

Da drang ein klägliches Miauen vom Treppenhaus in die Stube, zart und gebrochen. Alena setzte sich auf, lauschte. Irgendwo im Haus, so schien es, litt ein Kätzchen Qualen.

Sie rüttelte ihren Gemahl wach. »Hörst du das auch?«

Der verengte zornig die Brauen. »Was? Was soll ich hören?«

»Dieses Miauen. Ganz deutlich. Hör doch.«

Jaro wälzte sich zur Seite. »Du wirst schon echt deppat. Ich hör gar nichts.«

»Aber –«

Alena brach ab, wissend, dass es keinen Sinn hatte. Offenbar wollte Jaro nichts hören. Sie stand auf, schlüpfte in ihren geflickten Wintermantel und schritt zur Tür. Vorsichtig, um Jakub nicht zu wecken, öffnete sie diese, streckte den Kopf in das dunkle Treppenhaus hinaus.

Da war es wieder! Ein flehendes Maunzen wimmerte von unten herauf.

Alena holte sich eine Petroleumfunzel, stieg vier Stockwerke hinab, bis sie vor der Tür stand, die in den Keller führte. Dahinter, so war ihr, lag die Quelle des herzerweichenden Klagens.

Sie öffnete die Tür, ließ den ersten dunstigen Schwall an Moder an ihr vorbeiziehen, der aus dem Keller quoll. Dann nahm sie eine abgetretene Stufe nach der anderen, hinein in die beinahe stoffliche Finsternis.

Als würde man in einer Kathedrale wandern, hallte das Miauen durch die labyrinthartigen Kellergewölbe. Die einst roten Ziegel waren von schwarzem Schimmel und staubigen Spinnweben überzogen. Morsche Truhen stapelten sich in den Nischen, gefüllt mit Gegenständen, die niemand mehr wollte. Da der gestampfte Lehmboden Alenas Schritte schluckte, bewegte sie sich förmlich lautlos auf die Quelle des Flehens zu.

Gleich musste sie da sein, war Alena überzeugt, gleich hinter der nächsten Ecke würde sich das arme Tier befinden. Womöglich war es in eine Rattenfalle getappt, vielleicht handelte es sich sogar um die weiße Katze vom Dach.

Die Frau streckte die Funzel in einen kleinen Raum, als das Miauen mit einem Mal erlosch.

Stille.

Plötzlich ertönte ein markerschütterndes Knacken, gleich so, als würde man einem großen Hasen das Genick brechen. Danach herrschte wieder alles erdrückende Stille.

Hektisch schwenkte Alena die Funzel durch die Dunkelheit, ließ den Schein die Mauern absuchen und in alle Winkel hineinkriechen. Nichts. Hier befand sich weder eine Katze noch sonst irgendein Getier.

Alena schauderte. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Spielten ihr ihre Sinne einen garstigen Streich, hervorgerufen durch Ängste aufgrund der Veränderungen in ihrem Leben?

Da entdeckte sie etwas in einer Ecke, beinahe vollständig unter Schutt und Staub verborgen – eine kleine Schatulle aus Blech.

Sie stellte die Funzel daneben, befreite das Behältnis von der Schicht der Vergessenheit und öffnete den Deckel. Im flackernden Schein der Lampe sah Alena, was das blecherne Gehäuse beherbergte: über zwei Dutzend Zettel, vollgeschrieben mit schwarzer Tinte. Die Frau verengte die Augen, versuchte im Zwielicht der Lampe zu entziffern, was da geschrieben stand. Doch außer einzelnen Worten, die sie der hastigen Handschrift entreißen konnte, blieb der Inhalt im Ungewissen.

Entschlossen nahm Alena die Schatulle, denn sie wollte sie am nächsten Tag, ausgeruht und bei Tageslicht, erkunden. Dass sie eigentlich wegen einer Katze heruntergekommen war, hatte Alena beinahe schon wieder vergessen, als sie hinter sich ein Rascheln hörte. Sie schwenkte die Funzel in die Richtung, konnte jedoch erneut nichts erkennen. Vermutlich handelte es sich um Ratten, dachte sie und merkte, wie die Müdigkeit schlagartig von ihr Besitz ergriff.

Alena machte sich auf den Weg, die fünf Stockwerke hinaufzusteigen, und mahnte sich, zum Einschlafen nur an einen wunderschönen Christbaum zu denken.

Sie fiel auf die Knie. Erfüllt von tiefrotem Schmerz krallte sich Alena ihre Fingernägel in die Bauchdecke, drückte sie unter die Haut, hinein in die brennende Wärme ihres Leibes. Sie musste sich die Pein herausreißen, auch wenn dies ihren Tod bedeutete!

Ein flüchtiger Kuss, dann machte sich Jaro zur Tür hinaus, seinen Dienst als Tramwayschienenritzenkratzer anzutreten. Noch immer benommen von ihrem schrecklichen Traum umsorgte Alena ihren Sohn mit der gleichen Liebe, wie sie es jeden Tag tat. Dann fegte sie die Stube und kochte aus einem Krauthappel11, Erdäpfeln und Karotten einen schmackhaften Eintopf. Vorsichtshalber stellte sie diesmal den Kessel damit auf den Boden und deckte ihn zu.

Während Jakub seinen Mittagsschlaf machte, kam Alena endlich dazu, sich dem Inhalt des gefundenen Kästchens zu widmen.

Doch bereits beim ersten Zettel wurde sie daran erinnert, wie schlecht sie des Lesens mächtig war, was zur Folge hatte, dass es enorm viel Zeit verschlang, einen Satz nach dem anderen zu entziffern. Doch Alena mühte sich:

Schon wieder lässt er mich allein. Obschon ich ihn mehr liebe als alles andere auf der Welt, so vermeine ich, dass er mir die Wahrheit verschweigt. Ja, mich richtiggehend belügt. Dort, wo er sagte, dass er sei, fand ich ihn nicht, und immer schrecklicher empfinde ich die Abscheu, mit welcher er mir begegnet. Vielleicht war es ein Fehler, hier einzuziehen? Aber nun ist es zu spät.

Jakub erwachte, forderte die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Doch obwohl sie sich rührend um ihn kümmerte, drehten sich Alenas Gedanken ausschließlich um das, was sie gelesen hatte. Offenbar stammten die Notizen von einer verzweifelten Frau, vielleicht gar von einer, die hier im Hause gelebt hatte. Doch was war ihr widerfahren? Wie hatte sie ihr Schicksal gemeistert? Alena zählte in Gedanken die Stunden, bis Jaro nach Hause kam, sie gegessen hatten und er und ihr Sohn schliefen, damit sie weiterlesen konnte.

Doch Jaro kam nicht. Oder zumindest nicht zu der üblichen Zeit. Erst weit nach Anbruch der Nacht torkelte er in die Stube, stank nach dem gleichen billigen Alkohol wie am Vorabend. Dass Alena auf Nadeln gesessen und seine Ankunft herbeigesehnt hatte, schien ihm einerlei zu sein. Zu sehr schwärmte er von der fidelen Kameradschaft, die er in dem Tschocherl gefunden hatte. Niemand dort, der ihn einen »Gleisböhm« schimpfte, auf ihn hi­nunter­sah. Gleichgesinnte im Geiste und im Tun, das waren seine neuen Freunde, schwärmte er, bevor er auf die Bettstatt fiel. Dass Alena und Jaro bisher gereicht hatten, ihm das Gefühl zu vermitteln, er sei die wichtigste Person in ihrem Leben, schien er gänzlich vergessen zu haben. Alena kränkte sich und war doch gleichzeitig voll der Hoffnung, dass dies nur eine kurze Phase sein würde.

Als sich die Stille des Schlafs in der Stube breitmachte, setzte sich Alena an den Tisch, drehte die Petroleumfunzel so hell wie möglich und las weiter.

Ich höre, wie sie lachen. Wie sie über mich lachen. In meinem Kopf höre ich sie. Doch was soll ich bloß tun? Mit ihm bin ich zumindest das gehörnte Eheweib. Ohne ihn bin ich nichts. Ohne ihn habe ich nichts, für was es sich zu leben lohnt. Warum sieht er das bloß nicht? Aber neben den Stimmen, die durch meinen Kopf hallen wie eine andauernde Predigt im Steffl, schwelt in mir eine dräuende Vorahnung – sie trachten mir nach dem Leben!

Endlich bekam Alena zu fassen, was ihr solche Pein bereitete! Die Schmerzen missachtend packte sie das Etwas in ihrem Magen, umklammerte es und riss es sich aus dem Leib. Zitternd und der Ohnmacht nahe öffnete sie die Hand, betrachtete voller Entsetzen das, was dort kirschkerngroß und in Blut getunkt ruhte –

»Alena!« Jaros Worte klangen scharf und herrscherisch. »Was tust du am Tisch?«

Die Frau sah sich verschlafen um. Sie musste über ihrem Kellerfund eingeschlafen sein.

»Entschuldige, můj milovaný, ich konnte erst nicht einschlafen«, murmelte sie. »Möchtest du einen Eintopf? Du hast gestern keinen gegessen.«

Jaro schüttelte den Kopf. »Hab im Tschocherl gegessen und bin schon spät dran.«

»Aber heute Abend kommst du doch heim?«

»Natürlich.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sein Atem roch immer noch nach Alkohol und Tabak. »Bis später.«

»Ich liebe dich«, rief sie ihm nach, doch Jaro war bereits entschwunden.

Heute habe ich sie gesehen. Dieses widerwärtige Weibsbild von nebenan. Ich hab sie dabei beobachtet, wie sie eine Katze tötete. Warum sie das tat, weiß ich nicht. Aber verstörender als die Tötung selbst finde ich, dass sie das tote Tier mit in ihre Wohnung genommen hat. Wofür nur?

Alena kratzte sich am Kopf. War der armen Frau am Ende etwas zugestoßen? Und wenn ja, wer hatte die Schachtel mit ihren Notizen im Keller deponiert, und warum? Ein Schatten, der vor dem Fenster vorbeihuschte, riss Alena aus ihren Gedanken.

Ein weißes Fellknäuel, das sich an der vereisten Scheibe rieb. Alena öffnete die Läden. Die Katze ging in Abwehrposition. Langsam streckte die Frau dem Tier die Hand entgegen. Das stutzte. Dann ließ es sich, wie tags zuvor, bereitwillig am Kopf streicheln und genüsslich schnurrend unter dem Kinn kraulen. Als sich Jakub mit lautem Gähnen bemerkbar machte, fauchte die Katze und kratzte Alena mit der flinken Bewegung ihrer Pfote am Handrücken.

»Ah! Was soll das?«

Alena sah das Tier wütend an und schupfte Schnee gegen die Katze, worauf diese davonsprang.

»Dann bleib, wo du bist!«, rief sie über die Dächer und kam sich im selben Augenblick dumm vor. Die Katze hatte sich wohl einfach nur erschreckt.

Jakub auf ihrem Schoß hoppernd las Alena gebannt in den Zetteln weiter.

Ich weiß nun, wie sie mich töten wollen, da ich sie belauschen konnte. Das Mark aus den Knochen der Katze wollen sie mir in die Speise rühren, auf dass ich vor lauter Schmerzen zugrunde gehen möge.

Alena schluckte. Das Knochenmark einer Katze? Ein Bild ihres Traumes schoss ihr in den Sinn: das, was in ihrer Hand gelegen, was sie sich aus dem Leib gerissen hatte – den Wirbelknochen einer Katze.

Aber wie konnte sie gestern von etwas geträumt haben, worüber sie gerade eben erst las? Um Alena schien sich alles zu drehen, ihr wurde übel. Hatte das alles gar mit ihr zu tun?

Wie in Trance stieg sie die Treppen hinab, um sich mit Brunnenwasser zu erfrischen.

»Grüßi!«, schallte es ihr entgegen. Eine ältere, dralle Frau in einem schmutzigen Kittel stand in der halb geöffneten Tür ihrer Wohnung im Parterre. »Sind Sie die Neue?«

Alena nickte. »Ich und mein Mann und unser Sohn. Wir wohnen im Dachgeschoss.«

»Aha. Ich bin die Hausbesorgerin.« Die Frau rümpfte die Nase. »Wo kommt’s denn her?«

»Aus Senftenberg.«

»Na bravo! Genau das, was unser Wien braucht: noch mehr Böhmen.«

Alena wollte etwas Ruppiges entgegnen, besann sich dann jedoch eines Besseren. »Wissen Sie vielleicht, wem eine weiße Katze gehört, die hier herumstreunt?«

Der Blick der Hausbesorgerin wurde ernst. »Was reden S’ denn da? Bei uns streunt kein Katzenviech herum.« Dann erblühte ein hämisches Grinsen in ihrem Gesicht. »Hat’s Ihnen der Zinsherr nicht erzählt?«

»Was denn?«

»Ach, nichts. So, ich muss mich jetzt um meine Gschrappen12 kümmern. Wiederschaun.« Die Hausbesorgerin ließ ihre Tür ins Schloss fallen.

»Ebenfalls Wiederschaun«, äffte Alena die Frau nach und sah das Stiegenhaus hoch. Vielleicht würde sie in den anderen Zetteln eine Antwort auf ihre Fragen finden.

Doch dazu kam Alena nicht. Jakub beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit, und als sie ihn endlich schlafen gelegt hatte, kam Jaro nach Hause, erneut trunken. Sie verkniff sich jeglichen Tadel, wartete nur, bis er eingeschlafen war.

Wieder widmete sie sich im Schein der Funzel den Zetteln, doch was folgte, waren nur wirre Gedankenkonstrukte, Vermutungen und Anschuldigungen. Immer wieder bemitleidete sich die Schreiberin selbst, gab allen anderen die Schuld für ihre Misere. Mit fortlaufenden Worten vermittelte sie den Eindruck, als wäre sie irrsinnig geworden.

Schließlich, auf dem letzten Zettel, der in der blechernen Schatulle lag, standen nur drei Worte.

Ich bin frei.

Alena atmete tief durch. Eine Erklärung, wie sie gehofft hatte, stellte dies nicht dar. Im Gegenteil. Der letzte Zettel warf noch mehr Fragen auf.

Erneut drang von draußen ein klägliches Miauen herein.

Alena raufte sich die Haare. Was wollte das Vieh von ihr? Oder bildete sie sich das doch nur ein? Verfiel sie ebenso dem Wahnsinn wie die Verfasserin der Zettel? War es das, was ihr der Zinsherr verschwiegen hatte? Dass einen die Wohnung in den Wahnsinn trieb?

Das Miauen wurde immer ohrenbetäubender.

Unsanft rüttelte Alena ihren Gemahl wach.

»Hörst du es auch?«, flehte sie. »Bitte, du musst es doch hören.«

Jaro knurrte unwirsch. »Alles, was ich höre, ist mein zänkisches Weib. Lass mich gefälligst schlafen, oder es setzt was!«

Alena wich zurück. Noch nie hatte Jaro in solch einem Ton mit ihr gesprochen. Immer war er sanft gewesen, selbst wenn er sich ärgerte. Aber seitdem sie hier eingezogen waren, da –

Mit einem Mal wusste sie, was sie tun musste. Die Stunden bis dahin wollte sie sich jedoch Ruhe gönnen. Alena legte sich so nah an den Rand der Bettstatt, dass sie beinahe von ihrem Strohsack herunterrutschte, schloss die Augen und zwang sich, an den schönen Christbaum im Schaufenster des Kaufhauses zu denken, an einen besinnlichen Abend im Kreis ihrer Lieben, an dem es nach Zimt und Nelken duftete …

Jaro war gegangen.

Jakub war versorgt.

Alena klopfte an die marode Eingangstür im Parterre.

»Was wollen S’ denn?« Die Hausbesorgerin machte aus ihrem Zwider13 keinen Hehl.

»Was wollten Sie mir gestern erzählen? Dass in unserer Wohnung eine Wahnsinnige gehaust hat?«

Die Hausbesorgerin stutzte.

»Ich weiß davon«, fuhr Alena unbeirrt fort. »Ich weiß, dass hier im Haus eine Frau gewohnt hat, deren Mann sie mit der Nachbarin betrogen und sogar ein Mordkomplott gegen sie geschmiedet hat.«

»Na, nicht schlecht, Frau Inspektor«, meinte die Hausbesorgerin abfällig. »Aber so stimmt das nicht ganz. Und vor allem fehlt noch was. Wie es geendet hat.«

Alena verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust.

»Na, von mir aus«, gab sich die Hausbesorgerin bemüht jovial. »Also die Frau, von der Sie da grad gesprochen haben, hat nicht irgendwo im Haus gewohnt, sondern in der gleichen Stube, wo Sie und Ihre Familie jetzt auch hausen. Ist schon über zehn Jahre her. Auch stimmt, dass ihr der Göttergatte fremdgegangen ist. Verscharmiert hat er sich in die frivole Nachbarin und sie sich wohl in ihn. Gemeinsam haben die beiden nur Unfug im Kopf gehabt, haben gesoffen, als gäb’s kein Morgen. Nur die Gemahlin stand ihrem gemeinsamen Glück im Wege, eine redliche Frau übrigens. Also wollten sie sie vergiften.«

»Mit dem Mark aus Katzenknochen.«

»Sie sollten echt bei der Polizei anfangen«, meinte die Hausbesorgerin mit schiefem Grinsen. »Ja, so war’s. Aber durch eine deppate Verwechslung, wie sie im Leben halt mal passiert, aß die vergiftete Suppe nicht die arme Gemahlin, sondern die frivole Giftmischerin. Es hat nicht lange gedauert, da fing diese an, sich äußerst seltsam zu verhalten. Komische Laute hat sie von sich gegeben, ihre Bewegungen waren, na ja, immer ähnlicher der einer Katze. Das Gift hat ihr Hirn zersetzt, hieß es später. Sie glaubte tatsächlich, sie sei ein Katzenviech. Durchs ganze Haus ist sie gewetzt, bis runter in den Keller. Miaut und gefaucht hat sie auch. Das Weib war reif für den Gugelhupf14

Alena bekreuzigte sich.

»Keine Sorge«, beruhigte die Hausbesorgerin sie. »Hat nicht lang gedauert. Denn was so einem pelzigen Viecherl eigen ist – der elegante Gang, die Sprungkraft, der Gleichgewichtssinn –, das fehlt uns Menschen halt. Die frivole Giftmischerin hätte das alles umso dringender gebraucht, denn sie ist auf allen vieren auf dem Dach herumspaziert. Und dann –«

»Sie ist also –«

Die Hausbesorgerin klatschte in die Hände.

»So hat’s geklungen, als sie auf dem Straßenpflaster aufgeschlagen ist. Das Gnack15 hat sie sich gebrochen. Damit war der Spuk vorbei. Na ja, beinahe. Manch einer der Hausbewohner vermeinte danach eine geisterhafte Katze zu sehen, die auf den Dächern herumflanierte. Aber die Leut sind ja alle ein wengerl deppat im Schädel.«

»Was wurde aus der betrogenen Frau?«

»Weggezogen ist sie, gleich darauf. Ihr Göttergatte war da schon über alle Berge. So. Sind S’ jetzt zufrieden?«

Alena nickte. »Ein bisschen erleichtert bin ich, dass das alles schon so lang her ist. Danke.«

»Keine Ursache. Also, wiederschaun, Frau Inspektor.«

»Auf Wiederschaun, nochmals danke.«

Während Alena ins Dachgeschoss stieg, ratterten die Gedanken in ihrem Kopf. War es purer Zufall, dass sie von den Schmerzen im Bauch geträumt hatte? Oder verband sie gar etwas mit der Giftmischerin?

Ihr Göttergatte war da schon über alle Berge.

Eine schreckliche Erkenntnis ergriff von Alena Besitz. Wie von Sinnen kehrte sie um, lief so schnell sie konnte die abgetretenen Stufen im Stiegenhaus hinab. An der Tür der Hausbesorgerin vorbei. Weiter in den Keller.

Karges Tageslicht fiel durch die schmutzigen, halb runden Kellerfenster, erhellte das Gewölbe gerade ausreichend, dass sich Alena zurechtfand.

Schließlich stand sie vor jener Ecke, an deren Fuß sie die Schatulle gefunden hatte. Sie kniete sich auf den Lehmboden, griff sich einen abgebrochenen Ziegel und begann, den Boden aufzugraben.

Die plötzliche Anstrengung raubte Alena beinahe den Atem, Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht. Sie kicherte hysterisch, wissend, was folgen würde –

Da! Inmitten des freigelegten Erdreichs lag er, der Schädel eines Menschen.

Der abtrünnige Göttergatte.

Ich bin frei.

Hier hatte ihn die Frau verscharrt und damit ihre Fesseln gelöst.

Das faustgroße Loch im Totenschädel erklärte, wie sie sich befreit hatte.

Mit eigenartiger Erleichterung sank Alena in sich zusammen. Zumindest den Teil des Rätsels hatte sie gelöst. Die Giftmischerin war zu Tode gestürzt und die Verfasserin hatte sich ihres Gemahls entledigt. Wohl um endgültig abzuschließen, ließ sie ihre Notizen hier bei ihm zurück.

Blieb nur noch eins – die weiße Katze vor dem Fenster. War sie wirklich oder nur eine Einbildung? Oder gar jene Geisterkatze, die die Seele der Giftmischerin gefangen hielt?

Alena musste ob ihrer Gedanken schmunzeln. An Engel glaubte sie, an Geister nun wahrhaftig nicht. Ein Stein fiel ihr vom Herzen.

Sie raffte sich auf und freute sich darauf, das Ganze Jaro zu erzählen. Dann würde er erkennen, dass sie nicht irrsinnig geworden war, sich nichts zusammensponn.

Doch es kam anders.

Noch bevor Alena ihren Mann begrüßen konnte, begann der ihr mit Bier im Atem eine Tirade zu halten, wie sehr sie sich doch in den wenigen Tagen, seit sie hier eingezogen waren, verändert hatte. Dass sie es offenbar vorzog, die Nacht zum Tag zu machen. Dass sie nicht für ihn da war, wenn er nach getanem Tagwerk nach Hause kam. Ja, sogar, dass sie Jakub vernachlässige, was Alena heftig bestritt.

In diesem Augenblick durchfuhr die beiden Streitenden ein kalter Schauder. Sie hielten inne. Stumm wandten sie sich um, suchten die Stube ab.

Sahen das geöffnete Fenster …

Hektisch stürzten sie hin, erblickten gemeinsam, was drohte: Jakub krabbelte über das Dach, dem First entgegen, auf dem die weiße Katze saß.

Jaro stieß Alena zur Seite, wollte gerade hinausklettern, als sie ihn zurückhielt.

»Můj milovaný«, sagte sie überraschend sanft. »Du hast getrunken. Ich würde euch beide verlieren.«

Jaro zögerte.

»Lass mich gehen.«

Ohne auf Antwort zu warten, kletterte Alena durchs Fenster, hinaus in die Kälte und den Schnee, der dick die Dachschindeln bedeckte.

»Jakub!«, rief sie ihren Sohn mit weicher Stimme, bemüht, ihn nicht die Angst spüren zu lassen, dass er abrutschen könnte.

Der krabbelte jedoch unbeirrt auf das Tier zu, das sich allerdings nicht von der Stelle rührte, sondern ihn beinahe herausfordernd anstarrte.

Auf allen vieren kroch Alena durch den Schnee voran, wünschte sich, die Geschmeidigkeit einer Katze zu haben und nicht jene plumpe Schwerfälligkeit, die ihr innewohnte.

Nur noch ein paar Fuß, mahnte sie sich zur Vorsicht. Eine unbedachte Bewegung und es wäre ihr Genick, das auf den Pflastersteinen brechen würde.

Der Bub streckte die rechte Hand nach dem Kätzchen aus.

Alena griff nach ihrem Sohn.

Er zog das Tier mit schierer Leichtigkeit zu sich.

Sie bekam ihn am Nachtkleid zu fassen.

Mutter, Sohn und Katze traten den Weg zurück in die warme Stube an.

»Kommt zu mir!«, rief ihnen Jaro entgegen. Der schwere Zungenschlag, den er bei seinem Eintreffen nicht zu verbergen vermocht hatte, war einer festen Stimme gewichen. Den Blick klar, streckte er beide Hände aus dem Fenster.

Alena griff nach seiner Hand – und rutschte ab.

Der Bruchteil einer Sekunde erschien mit einem Mal wie eine Ewigkeit. Vor ihrem geistigen Auge sah die Mutter, wie sie am Trottoir zerschellte. Wie ihr Sohn ihr in den Tod folgte. Wie die Katze auf allen vieren landete und nonchalant unversehrt ihren Weg fortsetzte.

Ein fester Griff, und Alena befand sich wieder im Hier und Jetzt. Jaro hatte sie gepackt, zog sie und seinen Sohn zu sich, hinein in die Stube, hinein in Sicherheit.

Drei Menschen und ein Stubentiger lagen auf dem Dielenboden, hielten sich so fest umklammert, als würde immer noch ihr Leben davon abhängen.

»Ich liebe dich«, flüsterte Jaro.

»Ich liebe dich auch«, sagte Alena.

»Gatze«, sprach Jakub. Sein erstes Wort.

Zum Christbaum, wie ihn sich Alena in ihren Träumen vorgestellt hatte, hatte es natürlich nicht gereicht. Aber den dicken Tannenzweig, den Jaro mitgebracht hatte und den sie mit einigen Kerzen und Figuren aus Papier verziert hatten, empfand die Familie als mindestens ebenso schön.

In der Stube duftete es nach Zimt und Nelken.

Zu dritt saßen sie rund um den Zweig und tranken heißen Kakao.

Das Tschocherl hatte Jaro seit jener Schreckensnacht nicht mehr besucht. Alena träumte nicht mehr schlecht und hörte auch kein Gemaunze mehr. Und auch wenn Jakub seither nichts anderes als »Gatze« gesprochen hatte, so waren seine Eltern doch überglücklich, denn sie wussten, dass er mehr reden würde, wenn er wieder etwas zu sagen hatte.

Auf dem Schoß des Jungen schlief das weiße Pelzgetier, eingeringelt murmelte es eigenartige Laute, als würde es im Schlaf sprechen.

Dass die Samtpfote noch die Seele der Giftmischerin in sich tragen könnte, das bezweifelte Alena. Denn die Liebe, die ihr Sohn dem Tier entgegenbrachte, würde jeden aus seiner Verdammnis erretten.

Es heißt, dass die Seele ewige Ruhe findet, sobald der Leib beerdigt wird. Doch manchen Seelen wohnt eine derart diabolische Bösartigkeit inne, dass sie auf ewig dazu verdammt sind, auf Erden zu wandeln.

Bis die Liebe einer reinen Seele sie erlöst.

6 Lebkuchenbäcker

7 Waschschüssel

8 Nachttopf

9 Wienerisch »hackeln«: schwer arbeiten

10 Volkstümlich für billigstes, abgestandenes Dünnbier

11 Kohlkopf

12 Kleine Kinder

13 Schlechte Laune

14 Irrenhaus in Wien, vom Volksmund ob seiner Form so getauft.

15 Genick