The One Horse
Open Sleigh

(James Lord Pierpont, 1857)

Dashing thro’ the snow In a one horse open sleigh,

O’er the hills we go, Laughing all the way;

Bells on bob tail ring, Making spirits bright,

Oh what sport to ride and sing A sleighing song tonight.

Jingle bells, Jingle bells, Jingle all the way;

Oh! what joy it is to ride In a one horse open sleigh.

A day or two ago I thought I’d take a ride

And soon Miss Fannie Bright Was seated by my side,

The horse was lean and lank Misfortune seem’d his lot

He got into a drifted bank And we, we got up sot.

Jingle bells, Jingle bells, Jingle all the way;

Oh! what joy it is to ride In a one horse open sleigh.

A day or two ago, The story I must tell

I went out on the snow, And on my back I fell;

A gent was riding by In a one horse open sleigh,

He laughed as there I sprawling lay, But quickly drove away.

Jingle bells, Jingle bells, Jingle all the way;

Oh! what joy it is to ride In a one horse open sleigh.

Now the ground is white, go it while you’re young,

Take the girls tonight and sing this sleighing song.

Just get a bobtailed bay, two-forty for his speed,

Then hitch him to an open sleigh, and crack! You’ll take the lead.

Jingle bells, Jingle bells, Jingle all the way;

Oh! what joy it is to ride In a one horse open sleigh.

*

Ungetrübt und in voller Pracht strahlte die Sonne an diesem zweiten Adventsonntag vor Weihnachten von einem blitzblauen, wolkenlosen Himmel. Unter ihr erstreckte sich die tief verschneite Landschaft, glitzernd gleich einer Daunendecke voller Diamanten. Dort, wo sich Häuser zu Siedlungen ballten, quoll dichter Rauch aus den Schloten.

Im Süden erhoben sich majestätisch die Gipfel des Karwendels auf über zweitausend Meter Höhe, unweit davon erstreckten sich mehrere Seen. Die Oberfläche des größten unter ihnen, des Würmsee oder auch Starnberger See, wie ihn der Volksmund nannte, war zu einer dicken Eisdecke erstarrt.

Rund um den See führte eine Vielzahl von Spuren – Wildtiere, Pferde und Kufen der von ihnen gezogenen Schlitten. Ein zauberhaftes Knistern lag in der Luft, unterbrochen nur vom Knacken der Eisdecke und vom gelegentlichen Zwitschern eines Bergfinks oder eines Eichelhähers.

Auf einmal erklangen inmitten der kalten Stille Schellen, erst leise, dann immer lauter werdend. Schwere Hufe stapften mit scheinbarer Leichtigkeit durch den hohen Schnee, stoben ihn auf wie ein Schiffskiel die Wellen.

Zwei gescheckte Tinker zogen schnaubend einen Schlitten, die offene Karosserie groß wie eine Kutsche, ungefedert auf Metallkufen montiert. Im Schlitten saßen sich zwei Paare gegenüber, die alle Mitte dreißig waren. Die Herren waren in dicke teure Mäntel mit Pelzkrägen gekleidet, die beiden Damen in noch teurere Pelzmäntel und Pelzmützen.

Die vier lachten laut und hemmungslos.

»Soll uns nie schlechter gehen!«, rief Rainer von Strombeck und erhob sein Glas aus Bleikristall.

»Nie schlechter!«, stimmten die drei anderen mit ein, ließen die Gläser erklingen und tranken auf ex.

Otto Irmer nahm die offene Flasche Champagner, die neben ihm in einem Picknickkorb stand, und schenkte seiner Gemahlin Bridget sowie auch Rainers Frau Ingeborg nach. Danach seinem Freund und sich selbst.

Derweilen holte Rainer ein Zigarrenetui aus Mahagoniholz aus seinem Mantel hervor. Er öffnete den Deckel und hielt Otto die Rauchware, die dicker als sein Daumen und doppelt so lang wie sein Zeigefinger maß, präsentativ entgegen.

»Hab ich vom Kolonialwarenhändler meines Vertrauens«, sagte er mit einem Zwinkern.

Otto nahm sich grinsend eine Zigarre. »Dem mit der drallen Rothaarigen hinterm Tresen?«

»Eben diesem«, meinte Rainer und raunte zu seiner Gemahlin. »Stimmt so nicht. Ist ein kleiner dicker Glatzkopf.«

Ingeborg hob keck eine Augenbraue. »Ist schon gut, mein Schatz. Mein Lieblings-Spezereienverkäufer ist auch kein vollblütiger Italiener namens Giuseppe«, sagte sie, gefolgt von einer nickenden Kopfbewegung, die das eben gesagte konterkarierte.

»Solange man zu Hause speist, ist nichts dagegen einzuwenden, sich ab und an Appetit zu holen«, verlautbarte Bridget voller Inbrunst, mit immer noch hörbarem Akzent ihrer amerikanischen Herkunft, und leerte sogleich die Hälfte ihres Glases.

Otto rempelte sie möglichst unauffällig an. »Die Runde um den See ist noch ordentlich lang, Liebes.«

Seine Frau sah ihn gespielt irritiert an. »Du willst also bei der Trunkenheit auch Erster sein – so wie im Bett, Sweetheart?«

Ein Hauch von Kränkung huschte über Ottos Gesicht. Doch Bridget drückte ihm sogleich einen dicken Kuss auf die Wange und kuschelte sich an ihn. »Mumpitz! Ich habe den besten Mann der Welt neben mir!«

Otto erwiderte den Kuss.

»Ihr und euer Herumgeturtel«, kommentierte Rainer, ohne erkennen zu lassen, ob er es abfällig oder anerkennend meinte. Vermutlich ein wenig von beidem.

Er kappte seine Zigarre. Dann entzündete er erst die Zigarette seiner Frau, danach seine eigene Rauchware.

»Hab mich schon gefragt, ob eure schamlose Zurschaustellung von Zuneigung nach der ersten oder der zweiten Flasche Schampus beginnt«, stichelte Ingeborg weiter.

Bridget zwinkerte ihr zu. »Na, Hauptsache, sie beginnt überhaupt. Ich bin jeden Tag froh, meinen Rainer aus dem großen Krieg unversehrt wiederzuhaben.«

»Sind wir doch alle.«

Ingeborg zog sich die Decke aus Lammfell bis zu ihrer üppigen Brust hoch. »Überhaupt genießen wir nun alles viel intensiver. Hab ich nicht recht, mein Schatz?«

Ihr Gemahl nickte und zog dabei so heftig an seiner Zigarre, als wollte er sie aussaugen. Anschließend stieß er einen nicht enden wollenden Schwall an Rauchwolken aus, gleich eines Dampfschiffs, das Fahrt aufnahm.

»Trotzdem war nicht alles schlecht am Krieg, oder, mein Freund?«, warf Otto ein. »Wer mutig genug war, zum richtigen Zeitpunkt in das Richtige zu investieren –« Er machte eine prahlerische Handbewegung. »Der wurde auch reichlich belohnt.«

»Besonders wenn er auf die Investment-Ratschläge seines Schwiegervaters aus Amerika gehört hat«, murmelte Bridget ein wenig pikiert. »Du weißt, ich mag solche Angebereien nicht, Sweetheart.«

Otto verkniff sich einen Konter. Natürlich wusste er, wie viel er seiner Gemahlin und ihrer Familie in Übersee zu verdanken hatte. Und doch war es sein Geld gewesen, das er zu Beginn des europäischen Konflikts in die Hand genommen hatte, wenn auch auf Anraten von Bridgets Vater. Der hatte vorausgesehen, dass sich die Rüstungskonzerne eine goldene Nase verdienen würden, insbesondere mit schweren Artilleriegeschützen. Dass sein Vaterland den großen Krieg verloren hatte, schmerzte Otto zwar ein wenig, aber die Gewinne, die er durch Anleihen und Aktien gemacht hatte, sowie die Gewissheit, sein Vermögen in Dollar gesichert zu wissen, trösteten ihn ausreichend – und zwar jeden Tag aufs Neue.

Dass er nicht im Dreck der Stellungsgräben an der Front hocken und das Stahlgewitter seiner Investments über sich ergehen lassen musste, tat sein Übriges, damit Otto Irmer auf die vier Kriegsjahre mit einer gewissen Leichtigkeit zurückblicken konnte.

So gesehen könnte er trotz galoppierender Inflation und überbordender Reparationsleistungen mit unbeschwerter Leichtigkeit durchs Leben wandeln, gäbe es da nicht jenes dunkle Geheimnis, das wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte und alles zu zerstören drohte, was er sich aufgebaut hatte …

»Was für Trübsal bläst du denn gerade?« Ingeborg sah Otto mit zusammengekniffenen Brauen an.

Der riss sich aus seiner Gedankenwelt. »Alles bestens, meine Teure, alles bestens«, tönte er selbstbewusst und zwirbelte sich den braunen Schnurrbart. »Worüber hätte ich wohl zu klagen?«

»Das meine ich auch«, stimmte ihm Ingeborg zu und wurde schlagartig todernst. »Übrigens, die von Bleichröders sind aus dem Haus uns gegenüber ausgezogen. Vor vier Wochen.«

Bridget runzelte die Stirn. »Waren das nicht die beiden dicken Alten?«

Ingeborg nickte. »Vorgestern hab ich sie wiedergesehen. In der Schlange vor einer Suppenküche sind sie angestanden.«

»Wohl nicht mehr so dick«, scherzte Otto und merkte noch im selben Augenblick, wie deplatziert seine Worte klangen.

»Nein, nicht mehr so dick«, stieß Ingeborg tonlos nach. »Bleiche Gestalten, die in ihrem schönsten Gewand steckten, das auch gar nicht mehr so schön war.« Sie seufzte. »Versteht mich nicht falsch, meine Teuren – ich liebe es, dass wir nicht jede Mark zweimal umdrehen müssen. Aber ein gewisses Maß an Demut sollte jedem von uns eigen sein.«

Ihr Gemahl holte eine Münze aus seiner Manteltasche und klemmte sie sich, einem Monokel gleich, ins rechte Auge. Dann steckte Rainer sich die Zigarre in den Mundwinkel, erhob sein Champagnerglas und mimte den polternden Großindustriellen: »Weltwirtschaftskrise? Hören Sie mir doch auf!«

Die drei anderen im Schlitten mussten lachen.

Hätten sie jedoch Rainer beobachtet, wäre ihnen wohl kaum jener Augenblick entgangen, der zwar nur einen Herzschlag lang dauerte, in welchem dem Mann jedoch jeglicher Protz und alle Zuversicht entglitten. Ein Augenblick, in dem er wirkte, als stünde er dem Unfassbaren gegenüber – etwas, was ihn gleich darauf mit Haut und Haaren zu verschlingen drohte. Rainer von Strombeck schien am Abgrund zustehen, bereits den Schritt nach vorne ansetzend.

Noch vor wenigen Monaten hätte er solche Gemütszustände ins Reich der Fantasie geheißen. Wie sein Freund Otto war auch er dem Schicksal entgangen, von Granaten zerfetzt, von Giftgas verätzt oder von Flammenwerfern verbrannt zu werden. Vom Ende des Krieges hatte er gleichermaßen unaufgeregt erfahren wie von dessen Beginn: in einem Büro sitzend, in der Nähe eines warmen Kachelofens. Nur dass er 1918 ein gemachter Mann gewesen war, der mit Spekulationen und risikoreichen Darlehen ein kleines Vermögen hatte anhäufen können. Dieses Vermögen war zwar in den letzten drei Jahren geschwunden, mal mehr, mal weniger schnell, trotzdem hatte für ihn nie wirklich Grund zur Sorge bestanden.

So meinte er zumindest. Den Paukenschlag, der Rainer in seinen Grundfesten erschüttert hatte, den hatte er nicht kommen sehen. Nun machte er mit seiner geliebten Frau diese Schlittenfahrt und wusste nicht, wie es danach weitergehen sollte. Oder ob es überhaupt weiterging …

»Nein, im Ernst«, sagte Rainer und ließ die Münze aus seinem Auge in seine Hand fallen. »Ich möchte unsere jährliche Schlittenfahrt nie im Leben missen.«

»Oder unsere alljährliche Bootsfahrt«, ergänzte Bridget und nippte nun schmallippig an ihrem Champagner.

»Hört, hört!«, stießen die drei unisono aus und lehnten sich, ebenfalls im Gleichklang, an die Rückenpolsterung des Schlittens.

Mit einem Windhauch erlosch das Gespräch. Unter den Kufen knirschte der Schnee, vor dem Schlitten stampften die Hufe der Zugpferde, untermalt vom rhythmischen Klang der Schellen.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Ingeborg Otto und Bridget, die ihr gegenübersaßen. Die beinahe vierzig Jahre, die jeder von ihnen auf dem Buckel hatte, sah man ihnen nicht an. Vermutlich eine Mischung aus guter Vererbung und sorgenfreiem Leben, mutmaßte die Frau und musste unwillkürlich schmunzeln. Auch sich selbst sah sie die Jahre nicht an, auch wenn sie wusste, dass man selbst sein zahnlosester Kritiker war.

Sosehr sie sich auf die Schlittenfahrt gefreut hatte, so wusste sie doch bereits im Vorhinein, wie sie sich zutragen würde. Von der überschwänglichen Begrüßung zu jenen Themen, über die sie lachten, bis hin zu denen, die sie mit gebotenem Ernst abhandeln würden. Dass Bridget die Erste sein würde, die zu lallen begann. Dass Otto immer mehr den Gönner geben würde, der er ansonsten nur selten war. Dass sich die beiden Männer irgendwann um den Hals fallen würden, ihre ewigwährende Freundschaft betonend. Und dass sie selbst, wenn sie all dem überdrüssig zu werden drohte, sich mit noch mehr Champagner und dem einen oder anderen Näschen Zauberpulver verwöhnen würde.

Trotzdem Ingeborg all das wusste, war diese Schlittenfahrt am zweiten Adventsonntag vor Weihnachten ein fester Bestandteil ihrer Jahresplanung. Beinahe wie ein Theaterstück, bei dem man Handlung und Wendungen auswendig kannte und gerade deshalb immer wieder die Vorstellung besuchte. Man bekam, wofür man gekommen war.

Ihren Ehemann zu ihrer Rechten nahm sie seit heute Morgen erneut als eher ruhelos wahr, fast schon fahrig. Eine Eigenschaft, die sie an ihm so nicht kannte. Immer war er ausgeglichen, immer der Ruhepol gewesen, selbst wenn sie schon längst aus der Haut gefahren war. Aber seit knapp zwei Wochen wirkte er gehetzt. Stand grundlos um vier Uhr früh auf, trank grundlos bereits am Tage. Würde plötzlich die Polizei in ihr Haus stürmen und ihn mit gezogener Waffe eines Kapitalverbrechens beschuldigen, so wäre Ingeborg kaum überrascht gewesen.

War doch das Gewissen das Bewusstsein des inneren Gerichtshofes im Menschen – zumindest laut Kant. Irgendetwas nagte an ihm. Auf ihr Nachfragen antwortete Rainer jedoch zumeist flapsig, immer ausweichend, immer öfter aggressiv. Selbst das Wiedersehen mit seinem ältesten und besten Freund vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es in ihm brodelte.

Doch auch wenn Ingeborg nicht wusste, was in ihrem Mann vorging, so konnte sie zumindest teilweise mit ihm fühlen. Auch in ihr schlummerte die Sehnsucht, das, was sie verschwieg, endlich in die Welt hinauszuposaunen, ungeachtet der Konsequenzen. Doch noch zögerte sie. Mögen die Schlittenfahrt und der Rest des Wochenendes so vergehen wie jedes Jahr. Dann erst würde ihre Zeit kommen …

Die vier Freunde im Schlitten wirkten matt, beinahe schläfrig. Allmählich, so schien es, kroch ihnen der Alkohol ins Unterbewusstsein.

»Ich weiß nicht, wie’s euch geht«, durchbrach Otto schließlich das Schweigen. »Aber mir knurrt der Magen. Wollen doch mal gucken, was wir für Schnittchen mitgenommen haben!«

Mit diesen Worten nahm er jenen Picknickkorb von der Bank hinter sich, der mit einem weißen Spitzendeckchen verhüllt war, und hob ihn zu sich auf den Schoß.

Spitzbübisch lugte Otto unter die Abdeckung, nur um die anderen mit großen Augen und offenem Mund anzustarren.

Bridget schnaubte über ihren Kindskopf von Mann. »Schnittchen mit Lachs und Kaviar, wie jedes Jahr, Sweetheart?«

Dessen Miene wurde miesepetrig. »Lass mir doch mein Gaudium. Hätten ja auch Schmalz und Marmelade sein können.«

Ingeborg zuckte mit den Schultern. »Also ich mag Schmalz- und Marmeladeschnittchen. Erinnern mich an meine Kindheit in –«

»Dem kleinen Dorf im Nirgendwo, wo ihr bloßfüßig zur Schule und zur Kirche gehen musstet«, unterbrach sie ihr Gemahl ruppig. »Armut ist keine Sünde, mein Schatz. Aber es nervt, wenn man sie andauernd betont.«

Ingeborg verschränkte gekränkt die Arme. »Deine Mit-einem-Goldlöffel-in-der-Schnauze-geboren-Geschichte will aber auch keiner mehr hören.«

Nun wandte Rainer sich seiner Frau zu, mit funkelnden Augen. »Zunächst einmal ist nur eine hier mit einem Goldlöffel geboren worden.«

Er wies auf Bridget, die sich sogleich empörte. »Na, hör mal! Was soll das denn heißen?«

»Und außerdem«, fuhr er unbeirrt fort, »wäre es erquicklich, wenn du zumindest dieses Wochenende deine Spitzen gegen mich sein lassen könntest. Das nervt seit Wochen!«

»Vielleicht weil du dich seit Wochen benimmst, als hättest du eine Bank ausgeraubt und dabei ein Gewissen entwickelt.«

»Na, hallöchen«, sagte Otto beschwichtigend. »Jetzt beruhigen wir uns erst einmal.«

»Dein ›Hallöchen‹ kannst du dir sonst wohin schieben«, knurrte Ingeborg und erwiderte den funkelnden Blick ihres Mannes.

Otto zog die Spitzendecke vom Korb, hielt ihn in die Wagenmitte. »Dann hätte ich aber weniger Platz für die köstlichen Schnittchen, was schade wäre«, meinte er verschmitzt. »Na kommt. Nächstes Jahr sorge ich persönlich dafür, dass es auch welche mit Schmalz und Marmelade gibt, versprochen.«

Mit dem bockigen Blick eines schmollenden Kindes griff sich Ingeborg eine Schnitte mit Kaviar.

»Darfst dann nächstes Jahr auch ruhig die Stiefel ausziehen und bloßfüßig dasitzen, wenn dies das Erlebnis abrundet«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

»Idiot«, murmelte Ingeborg, nun wieder mit schelmischem Blick. »Der Kerl an meiner Seite schafft es eben immer noch, mich auf die Palme zu bringen.«

Rainer tätschelte den Oberschenkel seiner Frau. »Solange ich dich nicht langweile, ist es ja gut.«

Nun griffen auch die anderen zur Jause. Mit den ersten Bissen schien jeglicher Groll verflogen zu sein.

»Gar nicht mal so gut«, scherzte Bridget mit vollem Mund.

»Meine Rede«, pflichtete ihr Otto bei.

Rechts an der Kutsche zog die tief verschneite Landschaft vorbei, während sich links von ihr die Eisdecke des Sees beinahe bis zum Horizont erstreckte und unter den Strahlen der Wintersonne immer wieder knackte, als würde unter ihr ein Vulkan brodeln.

Während es sich seine Fahrgäste mit Decken aus Wolle und Schaffell wohlig warm gemacht hatten, hatte sich der Kutscher nur eine Kotze aus dickem Filz über Hemd und Joppe geworfen, saß ruhig und konzentriert auf dem Bock, die Zügel in Händen. Keine seiner Regungen ließ erahnen, ob er der Freundesrunde Gehör schenkte oder nicht.

»Was zum Runterspülen!«

Otto holte eine silberne Taschenflasche aus dem Inneren seines Mantels. »Ein Korn, geschmeidiger, als es ein Weibsbild jemals sein könnte!«

Seinem schmierigen Grinsen folgte Bridgets gestrenger Blick, was Otto nicht davon abhielt, einen ordentlichen Schluck zu nehmen. Dann reichte er den Flachmann an seinen Freund weiter, der gleich doppelt so viel trank.

Ingeborg nippte kurz daran und war bemüht, den Hustenreiz zu unterdrücken, den das scharfe Gesöff in ihr hervorrief. Bridget verweigerte ganz. Ihr Mann gab sich zwar erstaunt, übernahm aber bereitwillig ihren Teil und leerte das Behältnis zur Gänze.

»Geschmeidig, oder?«

»Weltklasse«, stimmte ihm Rainer zu.

Bridget schloss die Augen. Das Schellen der Glocken am Geschirr der Pferde erinnerte sie an ihre Kindheit, damals, auf der anderen Seite des Atlantiks.

Jingle bells, Jingle bells, Jingle all the way …

Sag es, mahnte sich Bridget. Aber was könnte sie bei diesem einträchtigen Geläut schon Schlimmes sagen? Sag es doch! Sag es, dann ist es draußen! Weiß der Herrgott, warum sie sich so zierte. War es doch verwunderlich, dass es ihr noch nie widerfahren war. Auch wenn sie wusste, dass sich ihr Leben dadurch ändern würde, so bedeutete es doch nicht das Ende der Welt! Otto würde es schon verstehen. Würde sich womöglich sogar darüber freuen. Ja, wenn er es geschickt anstellte – und Bridget war überzeugt davon, dass er das könnte – würde man ihm dafür auf die Schulter klopfen und das eine oder andere Pils spendieren.

Oh! what joy it is to ride …

Unwillkürlich sah Bridget an sich herunter, unwillkürlich führte sie die rechte Hand zu ihrem Bauch. Nicht, dass dieser merklich größer geworden war, aber sie wusste, was sie in sich trug.

Ich habe den besten Mann der Welt neben mir! Das hatte sich doch vor Kurzem erst verlautbart. Dann finde heraus, ob dem auch so ist, befahl sie sich innerlich. Stehe deine Frau, feuerte sie sich an, sag es, und du wirst dich frei fühlen!

Bridget atmete tief durch.

Ließ den Blick zu ihrem Mann schweifen, weiter zu Ingeborg, dann zu Rainer.

In a one horse open sleigh. Hey!

Sie stutzte –

Verhielten sich gerade alle so wie sie selbst? Jeder in diesem Schlitten schien es zu spüren, schien nur darauf zu warten, ihr zuvorzukommen. Jeder, so kam es Bridget vor, wollte seinen Ballast loswerden.

Immer schneller wechselten die Blicke.

Otto, dessen Finger sich um den Flachmann krampften wie um einen Rettungsanker.

Ingeborg, die sich an der Lammfelldecke festklammerte, als hinge ihr Leben daran.

Rainer, die Arme vor der Brust verschränkt, die flache Hand auf den Mantel über seine linke Brust gepresst, als wollte er seinen Herzschlag durch den Stoff spüren.

Mit einem Mal brach es aus allen heraus, gleichzeitig, emotional – und gänzlich unverständlich.

Und ebenso gleichzeitig erkannten alle, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für das war, was jeder von ihnen zu sagen hatte.

Ein metallener Aufprall. Otto war die Taschenflasche aus der Hand gerutscht und am Boden des Schlittens aufgeprallt.

Instinktiv beugte Rainer sich vornüber, hob das Behältnis auf und reichte es seinem verdattert dreinblickenden Freund.

»Was … hast du da unter dem Mantel?« Ingeborg hatte die Worte mehr gehaucht als gesprochen.

Rainers Kopf, vom Alkohol und der frischen Luft schon leicht gerötet, wurde nun hochrot. Mit schnellem Griff zog er seinen Mantel wieder zu, der sich beim Vornüberbeugen geöffnet haben musste.

»Nichts, Schatz«, stammelte er. »Gar nichts.«

Den schnellen Griff seiner Frau hatte er nicht kommen sehen.

Einen Atemzug später saß Ingeborg da, starrte ungläubig auf das, was sie aus dem Mantel ihres Mannes gezogen hatte – einen Revolver.

»Wofür … hast du eine Waffe?«, stotterte sie.

Otto und Bridget wirkten wie versteinert.

Rainer rang nach Worten, ohne dass ihm ein Laut entfuhr.

»Warum nimmst du ein verdammtes Schießeisen zu unserer Schlittenfahrt mit?« Ingeborgs Worte klangen tonlos und schal.

Rainer versuchte zu antworten. Vergebens.

»Den ganzen verfluchten Großen Krieg hast du keine Waffe angefasst.« Ingeborg schluckte. »Und plötzlich bist du – was? Mein bewaffneter Beschützer?«

»Ich bin nicht dein Beschützer«, gab Rainer nun kleinlaut von sich. »Ich konnte ja nicht einmal unser Hab und Gut beschützen, als letztes Jahr eingebrochen wurde.«

Er senkte den Kopf.

Ingeborg blickte hilfesuchend um sich. »Also, ich wollte nicht –«

Mit einem Mal sah ihr Gemahl ihr in die Augen, der Blick klar, die Haltung gefasst. »Wir sind pleite, mein Schatz, bankrott. Ruiniert. Wir haben alles verloren, verstehst du, alles. Ich habe alles verloren.«

Ingeborg verstand nicht. Auch Bridget und Otto konnten nicht recht begreifen, was ihr Freund mitzuteilen versuchte.

»Aber deine ganzen Anteile …«, warf Otto ein. »Die Streuung, die ich dir empfohlen hatte …«

Rainer schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich könnte noch mehr herausholen. Hab alles auf ein Pferd gesetzt.«

»Beim Pferderennen?«, stieß Bridget spitz hervor.

»Schwachsinn! Natürlich nur sprichwörtlich. Aber es ist alles weg.« Rainer atmete tief durch. »Nach dieser Schlittenfahrt, nach diesem Wochenende, stehen wir vor dem Nichts.«

Ingeborg nickte, offenbar selbst über ihre gefasste Reaktion überrascht. »Was … was wolltest du dann mit dem –«

Ihr Blick fiel auf den Revolver.

Plötzlich versuchte Rainer, die Waffe an sich zu reißen, blitzschnell, wie es auch seine Frau getan hatte. Nur, dass er nicht mehr dieselbe Reaktionsfähigkeit besaß wie sie. Ingeborg riss die Waffe hoch, Rainer fasste nach –

Ein Schuss peitschte durch die Luft.

Mit einem Wiehern bäumten sich die Zugpferde auf, galoppierten panisch los.

Der Kutscher wurde nach hinten geworfen, verlor den Halt und stürzte vom Bock in die offene Karosserie. Die vier Insassen darin schrien auf.

In halsbrecherischer Geschwindigkeit glitt der Schlitten nun durch den Schnee. Links und rechts stob die weiße Pracht auf, als würden Granaten einschlagen. Das Schnauben und Wiehern der Pferde dröhnte ohrenbetäubend, wie auch das metallene Knarzen des Gefährts selbst.

Als die Pferde die erste Kurve nahmen, neigte sich die Kutsche gefährlich zur Seite. Bei der zweiten Kurve verlor eine der Kufen die Bodenhaftung.

Erneut schrien die Fahrgäste auf.

Otto versuchte auf den Bock zu klettern, wurde jedoch durch das heftige Holpern des Schlittens immer wieder zurückgeworfen.

Das Gefährt schlingerte, drohte umzukippen – brach schließlich aus und schlitterte aufs Eis des Sees hinaus. Es riss die Pferde mit sich, kam nach einer gefühlten Ewigkeit endlich zum Stehen.

Stille.

Dann das Knacken der Eisdecke.

»Bist du noch ganz bei Sinnen?«, entfuhr es Ingeborg, während sie mit dem Revolver vor dem Gesicht ihres Mannes herumfuchtelte. »Willst du uns alle umbringen?«

Der schüttelte seinen Kopf, wie in Trance.

»Nein.« Mit einem Mal verstand Ingeborg. »Du wolltest nur dich umbringen.« Tränen schossen ihr in die Augen. »Wie kannst du nur –«

»Ich habe versagt«, flüsterte Rainer, mehr zu sich selbst. »Wer möchte schon mit einem Versager verheiratet sein? Das hast du nicht verdient. So kannst du dir jemanden suchen, der dir wieder all das bietet, was du so sehr genießt.«

Ingeborg rang nach Luft. »Weil ich all das mit dir genießen kann, du Hornochse.«

Sie senkte die Waffe, begann zu schluchzen. »Ich will ein Leben mit dir, auch wenn wir bettelarm sind.«

Schweigen breitete sich aus.

»Verzeihung, die Herrschaften«, sprach der Kutscher und versuchte, wieder auf den Bock zu klettern. »Aber wir sollten uns beeilen.«

Rainer nutzte die Ablenkung. Er riss den Revolver an sich, hielt ihn unter sein Kinn. Spürte das kalte Metall auf seiner Haut. Sehnte sich nach der Erlösung, die ihm sein Zeigefinger sogleich bringen würde.

»Ich bin schwanger!«

Alle Blicke schnellten zu Bridget.

Ottos Faust schnellte jedoch ebenfalls, und zwar nach vorn, schlug Rainer die Waffe aus der Hand, die in hohem Bogen wegflog und auf die Eisdecke krachte. Dann wandte sich der Mann wieder seiner Frau zu.

»Du bist schwanger? Von wem?«

Die traf die Frage, als wäre sie es gewesen, die seine Faust getroffen hatte.

»Von wem? Natürlich von dir!«

Otto schluckte schwer. Lehnte sich zurück. Blickte zu Rainer, der noch immer nicht verstanden zu haben schien, dass ihm die Waffe erneut geraubt worden war. Sah zu Ingeborg, deren Augen zwischen Bridget und Rainer hin und her schnellten. Atmete tief aus.

»Ihr seid meine besten Freunde, das wisst ihr«, sagte Otto mit gefasster Stimme. »Und ich bin des Versteckens so müde.«

Ein Seufzen.

»Also … ich liebe Männer.«

Erneutes Schweigen.

Dann markerschütterndes Knacken und Knirschen, gefolgt vom plötzlichen Einsinken des Schlittens und dem Einbrechen eiskalten Wassers.

Die beiden Frauen schrien auf, die beiden Männer fluchten. Ein dritter ließ die Zügel schnalzen …

Wer wem geholfen hatte, wusste niemand mehr so genau. Aber dass es der Kutscher war, der sie alle gerettet hatte, stand außer Frage. Seiner Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass die Pferde das Gefährt gerade noch rechtzeitig aus dem brechenden Eis ziehen konnten.

Nun glitt der Schlitten wieder durch den Schnee, gleich so, als wäre nie etwas geschehen. Doch die beiden Paare saßen sich stumm gegenüber, zitterten, drückten sich aneinander, die Kleidung bis zur Hüfte durchnässt.

»Warum hast du nie etwas gesagt?«, fragte Rainer schließlich seinen Freund. »Mir musst du doch nichts vormachen.«

»Uns«, korrigierte Ingeborg. »Wir wissen, dass das strafbar ist, aber wen interessieren schon Gesetze, wenn sie idiotisch sind? Uns ist es herzlich einerlei, wen du liebst, solange es für dich und Bridget passt und ihr beide glücklich seid.«

»Das sind wir«, meinte diese. »Ich habe es heute ernst gemeint. Ich könnte mir keinen besseren Mann als Otto wünschen. Und gewisse Dinge holen wir uns eben anderweitig.«

»Aber das Kind –«

Bridget sah Otto liebevoll in die Augen. »Auch wenn du nicht der Erzeuger bist – du wirst Vater. Du und niemand sonst.«

Der begann übers ganze Gesicht zu strahlen, drückte seiner Frau einen dicken Kuss auf den Mund.

»Und du nimm’s nicht zu schwer«, meinte er in Richtung seines Freundes, der bar jeder Hoffnung zum Horizont starrte.

Otto wandte sich an Ingeborg. »Sagst du es ihm endlich, oder soll ich?«

Die schüttelte den Kopf, griff energisch Rainers Hand. »Schatz, du weißt doch noch, als man bei uns eingebrochen hat?«

Rainer runzelte die Stirn.

»Streng genommen handelte es sich nicht um einen Einbruch.«

»Streng genommen?«

Ingeborg räusperte sich. »Vor einiger Zeit hatte ich dich doch gebeten, mir einen kleineren Teil an Bargeld zu überlassen, damit ich auch investieren kann. Erinnerst du dich, was du damals gesagt hast?«

»Dass Frauen das nicht vermögen«, antwortete Rainer ohne Umschweife. »Geschweige denn derlei Geschäfte an der Börse tätigen dürfen.«

Ingeborg nickte. »Aber wir leben in den Zwanzigerjahren. In den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, wohlgemerkt, nicht des Neunzehnten. Also habe ich den Einbruch vorgetäuscht und mir genommen, was sowieso auch mein war.«

Ihr Gemahl verstand nicht.

»Da Frauen nicht an der Börse handeln, suchte ich mir eben einen vertrauenswürdigen Mann, der dies in meinem Namen tat.«

Sie blickte zu Otto.

Rainer blickte zu Otto.

Der zuckte mit den Schultern, vermochte ein Grinsen kaum zu unterdrücken. »Was soll ich dir sagen, mein Freund? Deine Frau hat ein Händchen dafür.«

»Du hast also unser Geld –«

»Ganz recht«, unterbrach ihn Ingeborg. »Gewinnbringend vermehrt. Äußerst gewinnbringend sogar. Der Schuldturm muss also noch ein Weilchen auf uns warten. Frohe Weihnachten, mein Schatz.«

Den Rest der Fahrt bewältigten die vier Freunde schweigend. Zu sehr war jeder damit beschäftigt zu verarbeiten, was er erfahren und gelernt hatte. Über sich, über seinen Ehepartner, über seine Freunde.

Der eine ein selbstmordgefährdeter Pleitier, der andere heimlich homosexuell.

Die eine schwanger von einem Unbekannten, die andere mit kriminellem Börsengespür.

Und doch stiegen alle vier glücklicher und hoffnungsvoller aus dem Schlitten, als sie eingestiegen waren. Sie standen mit sich im Reinen und hatten die Gewissheit, von ihren Freunden so akzeptiert zu werden, wie sie waren.

»Ich gratuliere dir ganz herzlich zum Nachwuchs«, sagte Ingeborg schließlich zu Bridget. »Aber wenn Otto nicht der leibliche Vater ist, wer ist es dann?«

»Einer, der zu seinem Wort steht«, antwortete die werdende Mutter und lächelte geheimnisvoll.

Dann machten sich die vier ins Hotel auf, um sich für das Dinner umzuziehen.

Als Letzte im Bunde drückte Bridget dem Kutscher inniglich die Hand, schenkte ihm einen Augenaufschlag und raunte ein süßes »Danke«.