Kapitel 6

 

Die Mitglieder der Landegruppe verbrachten mehrere Stunden in Puils Palast, der jetzt als Museum diente, und schließlich teilten ihnen von Noro ausgeschickte Boten mit, dass es Zeit wurde, die Besichtigung zu beenden. Sie trafen sich auf der Treppe vor dem großen Gebäude. Der Morgen war dem Nachmittag gewichen, und das Licht der beiden Sonnen brannte auf die Hauptstadt Boa herab. Drückende, schwüle Hitze herrschte.

»Nun, Captain …«, begann Spock. »Ich glaube, einen umfassenden Eindruck vom Palast gewonnen zu haben.«

»Das gilt vermutlich für uns alle«, erwiderte Kirk. »Ich schätze, in diesem Fall können wir auf individuelle Berichte verzichten.«

Auf den knochigen Rücken der Larpas ritten sie zum großen Platz, und unterwegs dachten sie über Puils Exzesse nach. Noro spürte ihre Stimmung und teilte das ernste Schweigen der Besucher. Er unternahm keinen Versuch, mit ihnen zu plaudern oder in Hinsicht auf die Lektionen des Museums zu moralisieren.

Um sie herum lebte die Stadt Boa. Viele Frauen hatten große Webstühle vor ihren Häusern aufgestellt, bewegten die Webschiffchen hin und her, schufen Stoffe und Tücher mit komplexen bunten Mustern. Die Weberinnen unterhielten sich, auch über die Straße hinweg, scherzten miteinander und lachten. Kinder zupften an den Säumen ihrer Röcke und erhielten lange Fäden, mit denen sie spielen konnten. Ältere Mädchen durften in der Nähe sitzen, sahen zu und wählten gelegentlich neue Farben aus. Manchmal bekamen sie auch die Möglichkeit, selbst am Webstuhl zu arbeiten, während schwielige Finger ihre glatten, zarten Hände lenkten.

Die komplizierten Gewebestrukturen der Röcke und Blusen entstammten ganz offensichtlich solchen Webstühlen. Die Bespannung im schrägen Holzrahmen bildete eine Art Zeltdach, und im Schatten darunter schliefen Kleinkinder, vor Insekten und der Hitze geschützt; die nahen Zehen der Mütter verliehen ihnen ein Gefühl der Sicherheit.

Kurz darauf erreichten Kirk und seine Begleiter den großen Platz. Dort stellte man sie weiteren Ministern sowie Leitern von Entwicklungsprogrammen vor, die mit einzelnen Angehörigen der Landegruppen aufbrachen, um ihnen verschiedene Aspekte der Hauptstadt zu zeigen.

Noro wandte sich an McCoy. »Ich begleite Sie, Doktor. Wie ich feststellen konnte, empfinden Sie es als unangenehm, auf einem Larpa zu reiten. Deshalb habe ich uns ein Transportmittel besorgt, das Ihnen mehr Komfort bietet.«

Er führte den Arzt zur Straße, wo ein altertümlich anmutendes Fahrzeug stand, das mit einem Verbrennungsmotor ausgestattet zu sein schien. McCoy verglich es mit einem historischen Ford Modell T. Der boacanische Kultusminister startete den Motor nicht ohne eine gewisse Mühe und lenkte den Wagen in Richtung Dschungel. Modell T?, dachte Leonard. Vielleicht basiert dieses Fahrzeug auf einem ganz anderen Automobil-Vorbild. Wenn Sulu hier wäre … Er könnte Baujahr, Hersteller und was weiß ich nennen. Für mich ist das Ding nur ein lauter Kasten, mehr nicht. Trotzdem lehnte er sich erleichtert auf dem weichen Sitz zurück.

Während der Fahrt erzählte Noro von der Alphabetisierungskampagne, die ihm offenbar besonders am Herzen lag. Jene wenigen Bewohner von Boaco Sechs, die eine Schulausbildung genossen oder zumindest schreiben und lesen konnten, erhielten eine kleine finanzielle Beihilfe von der Regierung, um ihre Kenntnisse an die Familienangehörigen und Bekannten weiterzugeben. Man schickte Lehrer aus, die in abgelegenen Dörfern unterrichten sollten. Natürlich gab es eine Menge Probleme: Es dauerte nicht mehr lange, bis die vom Rat der Jungen bereitgestellten Mittel zur Neige gingen, und dann blieben Noro und sein Kultusministerium allein auf das Engagement ehrenamtlicher Helfer angewiesen. An Ehrgeiz mangelte es ihnen nicht: In nur drei Jahren sollte das Analphabetentum von Boaco Sechs getilgt sein.

Der Wagen rollte über jenen breiten Weg, den die Landegruppe nach dem Retransfer vergeblich gesucht hatte. Weit und breit waren keine anderen Fahrzeuge zu sehen; außer ihnen schien niemand in der Nachmittagshitze unterwegs zu sein. Nach etwa dreißig Kilometern hielt Noro an, und McCoy sah einen nicht sehr modern und zuverlässig wirkenden Gleiter am Straßenrand. Die Kufen der Maschinen steckten halb im Schlamm. Leonard konnte es wohl kaum mit Scotts technischen Kenntnissen aufnehmen, aber auf ihn wirkte der Gleiter wie ein Schrotthaufen: billiges Fluggerät, für einen alles andere als anspruchsvollen Markt bestimmt. Noro warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, als sie durch die schmale Luke kletterten.

Sie nahmen in einer zylindrischen Kammer Platz, und McCoy sah sofort, dass einige wichtige Sicherheitskomponenten fehlten. Noro betätigte mehrere Tasten, und daraufhin stieg der Gleiter auf. Der Sessel erwies sich als recht hart, und es kam immer wieder zu Erschütterungen. Die Maschine zitterte und vibrierte, so als fürchtete sie das Fliegen, als sei sie sich ihrer eigenen Schwächen bewusst. Im verlängerten Rücken spürte McCoy die gleichen Schmerzen wie zuvor auf dem Rücken des Larpa – sie erinnerten ihn daran, warum er das Leben auf der Erde oder an Bord der Enterprise Erfahrungen dieser Art vorzog.

Noro sah, wie der Arzt eine Grimasse schnitt. »Bitte entschuldigen Sie, Doktor. Leider bietet dieser Gleiter nur ein sehr begrenztes Maß an Bequemlichkeit.«

»Sie sollten es sich eine Lehre sein lassen und in Zukunft keine Technik mehr von den Klingonen kaufen«, erwiderte McCoy schroff.

»Viele von uns teilen Ihre Ansicht, Doktor«, sagte Noro. »Aber wenn man die gegenwärtige Einstellung Ihrer Produzenten sowie das Embargo der Föderation berücksichtigt … Bleibt uns eine Wahl?«

Leonard gab keine Antwort. Manchmal strichen die Kufen des Gleiters über Baumwipfel, und dann stoben Vögel und andere fliegende Geschöpfe mit lautem Gezeter davon. Tief in McCoy verkrampfte sich etwas, als ein düsteres Vorstellungsbild vor seinem inneren Auge entstand: Er sah wie sich Ranken um die Kufen wickelten, wie der Gleiter jäh den Kurs änderte und abstürzte … Gleiter, fuhr es ihm sarkastisch durch den Sinn. Eigentlich müsste dieses Ding Holperer oder so heißen. Das Licht von zwei Sonnen gleißte fast unerträglich hell durchs gewölbte Fenster.

Nach einer halben Ewigkeit steuerte Noro das Gefährt zu einer Lichtung, und dort setzte die Maschine mit einem deutlich spürbaren Ruck auf. Zwei große Bäume wuchsen im Zentrum des freien Bereichs, und zwischen ihren Stämmen war ein ausladendes Reetdach befestigt. Pfähle stützten es, und am Rand reichten Planen nach unten, formten Trennwände.

Vor dem ›Gebäude‹ bildeten Kinder und Erwachsene eine lange Schlange. Die Männer und Frauen warteten geduldig, obgleich manche von ihnen eingeschüchtert und sogar ängstlich wirkten. Ihre kleinen Söhne und Töchter offenbarten nicht die gleiche Ausgelassenheit wie in der Stadt, verbargen das Gesicht in den Röcken der Mütter oder spielten ruhig im hohen Gras.

»Im letzten Monat haben wir damit begonnen, die Struktur des neuen Gesundheitswesens in die fernen Regionen dieses Kontinents auszudehnen«, erklärte Noro. »Hier sehen Sie eine bescheidene Klinik, die uns als Koordinierungszentrum dient, als eine Ausgangsbasis für unsere Ärzte und Hygienespezialisten – im Schnitt sind sie eine Woche lang unterwegs und kehren dann zurück, um Bericht zu erstatten.«

Er rief nach dem Leiter der ›Klinik‹ und wiederholte die boacanischen Worte, als niemand reagierte.

Während sie warteten, bemerkte McCoy drei Personen am Rand der Lichtung: zwei Männer und eine junge Frau. Einer der beiden Männer schien kein Boacaner zu sein, und die Frau war auf den ersten Blick als Außenweltlerin zu erkennen. Sie trug einen malvenfarbenen Overall und dünne Stiefel mit hohen Absätzen – alles andere als praktisch in einem so sumpfigen Gebiet. Ein aus Kristallschlaufen bestehender Gürtel glänzte an der schmalen Taille. Langes blondes Haar reichte weit den Rücken hinab und bildete tief unten einen kleinen Zopf.

Noro sah die Verwirrung in McCoys Zügen. »Touristen aus der Föderation«, sagte er. »Sie baten darum, unsere Welt kennenzulernen. Der Boacaner begleitet sie und erläutert ihnen alles. Vielleicht bekommen Sie später Gelegenheit, mit den Leuten zu reden.«

»Touristen?«, entfuhr es McCoy ungläubig. »Die Föderation ›empfiehlt‹ allen Zivilisten, diesen Planeten zu meiden. Es gibt kein ausdrückliches Verbot, Boaco Sechs zu besuchen, aber …«

»Ja, ich weiß. Nun, einige Bürger der Föderation sind trotzdem bereit, unsere Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Das gilt insbesondere für Menschen und Vulkanier. Sie helfen uns zum Beispiel bei Bauarbeiten und in der Landwirtschaft. Zwei der besten Ärzte in dieser Klinik stammen von der Erde.«

McCoy dachte darüber nach. Auch dieser Umstand blieb in den offiziellen Starfleet-Berichten unerwähnt – vielleicht deshalb, weil er einigen Lamettaträgern gegen den Strich geht, überlegte Leonard.

»Natürlich erhalten wir auch Besuch von selbsternannten Missionaren aus verschiedenen Sekten«, fügte Noro hinzu und lächelte. »Solche Personen sind uns weniger willkommen. Wir raten ihnen davon ab, länger zu bleiben. Glücklicherweise ist unser Volk kaum empfänglich für Heilslehren von Außenwelt.«

»Und die Touristen?« McCoy deutete in die entsprechende Richtung.

Noro zögerte kurz und schien nach einer taktvollen Antwort zu suchen. »Dabei handelt es sich um eine ganz besondere Art von Besuchern. Oh, sie meinen es gut, aber für sie kommt es einem Spiel gleich, die ›Empfehlungen‹ der Föderation zu missachten. Eine Reise ins Abenteuer. Eine Safari in die Rebellion.«

»Hmm«, brummte McCoy. »Reiche, verwöhnte Kinder, die nach einer Abwechslung suchen.«

Noro rief einmal mehr nach dem Leiter des Dschungel-Krankenhauses, und schließlich erschien eine Frau. Sie schlug einen Teil der Plane beiseite, trat unter dem Reetdach hervor und rollte die Ärmel herunter. »Heute wird keine Besichtigungstour durch die Klinik veranstaltet«, sagte sie scharf. »Wir haben auch so schon genug zu tun …« Sie musterte die beiden Neuankömmlinge, und die Strenge wich aus ihren Zügen.

»Ich bin Starfleet-Arzt, Ma'am«, stellte sich McCoy vor. »Und ich kann mir denken, dass Sie hier viel Arbeit haben. Trotzdem würde ich mich gern in Ihrem Hospital umsehen, wenn Sie gestatten. Und ich bin bereit, Ihnen zu helfen, zumindest für heute.«

»Man hat uns darauf hingewiesen, dass Sie kommen, Doktor.« Die Boacanerin streckte die Hand aus, und Leonard ergriff sie. »Ich heiße Ona und leite die Klinik während des gegenwärtigen Turnus.«

»Derzeit ist unser Gesundheitsminister auf dem anderen Kontinent«, fügte Noro hinzu. »Aber Ona kann Ihnen hier alles zeigen. In fünf Stunden kehre ich zurück, um Sie abzuholen und nach Boa zu fliegen. Auf Wiedersehen.« Er ging in Richtung des Gleiters, und nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um. »Ich bringe ein Kissen für Ihren harten Sessel mit, Doktor«, sagte er, lächelte und ging weiter.

McCoy verdrängte alle Gedanken an die unbequeme Reise, als er sich unter der Plane hinwegduckte und das Hospital betrat. Hier setzte sich die Schlange der Wartenden fort; manche Boacaner saßen auf hölzernen Bänken oder auf dem Boden. Krankenpfleger eilten hin und her, stellten Fragen und behandelten.

»Diese Klinik ist Teil eines wesentlich größeren Programms«, begann Ona. »Wir nennen es ›Krankenhaus ohne Wände‹. Wir gehen dabei von folgendem Konzept aus: Unsere Ärzte besuchen die Familien und Arbeiter im Urwald, untersuchen die Kranken im Dschungel ebenso regelmäßig wie Patienten in einem Hospital. Ein solches Ziel haben wir uns gesetzt.«

»Und die hiesigen Leute?«

»Sie kommen mit neuen Problemen zu uns. Oder es geht ihnen schlicht und einfach darum, unseren Rat einzuholen.«

McCoy beobachtete, wie ein etwa fünfzehn Jahre alter Junge aus Onas Mitarbeiterstab einen siebenjährigen Knaben aus den Armen der Mutter löste. Die Frau beschrieb das Leiden ihres Sohns, und der junge Krankenpfleger nickte.

»Der Knabe leidet an akuter Dehydration«, erwiderte er. »Ich bereite eine Salzlösung für ihn vor.«

Die Frau erkundigte sich nach der Lösung und fragte anschließend, ob Meerwasser den gleichen Zweck erfüllte. Sie und ihre Familie wohnten unweit der Küste, und der Sohn zeigte diese Symptome nicht zum ersten Mal.

Ona trat vor. »Nein, Meerwasser erfüllt nicht den gleichen Zweck«, sagte sie fest. »Wenn du dem Jungen so etwas zu trinken gibst, bringst du ihn in Lebensgefahr. Morgen schicke ich jemanden zu dir, um festzustellen, ob ihr salinische Mittel benötigt.«

Der Knabe wurde behandelt, und Ona wandte sich wieder McCoy zu. »Darin besteht unsere größte Herausforderung – wir müssen der Bevölkerung grundlegende Kenntnisse vermitteln. Wir hoffen, dass wir in Kliniken wie dieser hier weniger Patienten haben, sobald unsere Ärzte und Hygienespezialisten den im Dschungel lebenden Boacanern beigebracht haben, wie man Krankheiten vorbeugt.«

»Soll das heißen, hier sind selbst die elementaren Regeln der Sauberkeit unbekannt?«

»Ja«, antwortete Ona. »In diesem Fall dürfen Sie nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie in der Hauptstadt Boa.« Sie zögerte kurz. »Früher hat man hier in der Föderation hergestellte Nahrungspakete gekauft. Die Anbieter meinten, synthetische Lebensmittel seien besser als eine natürliche Diät. Und sie fügten dieser Behauptung weitere Lügen hinzu.«

»Derartige Unternehmen gelten auch bei uns als verantwortungslos«, sagte McCoy ernst. »Falls solche Verkaufsmethoden bekannt werden, so üben die Medien heftige Kritik daran.«

»Mag sein. Nun, die hiesigen Frauen erwarben entsprechende Pakete und fütterten ihre kleinen Kinder mit Pulver, Vitaminkapseln und dergleichen – bis sie sich solche Nahrung plötzlich nicht mehr leisten konnten. Daraufhin verdünnten sie die Breie oder gaben ihren Sprösslingen nicht mehr regelmäßig zu essen. Sowohl die Mütter als auch ihre Kinder entwickelten eine regelrechte Phobie normalen Speisen gegenüber.«

Ona griff nach einem blutverschmierten Tablett, tauchte es in schwarzes boacanisches Wasser und rieb mit einer Drahtbürste. »Dadurch sind viele Kinder gestorben. Inzwischen treiben sich hier keine Verkäufer jener Unternehmen mehr herum – ein positiver Aspekt des von der Föderation beschlossenen Embargos.«

McCoy sah den allgemeinen Aktivitäten im Lazarett zu, hielt gelegentlich ein Baby in den Armen oder bot Rat an. Onas Gebaren und Ausdrucksweise ließen vermuten, dass sie vor der Revolution an einer Föderationsuniversität studiert hatte. Er bekam jedoch nicht die Chance, sie auf ihre Vergangenheit anzusprechen, denn sie hatte zuviel zu tun: Es ging darum, Verbände zu wechseln, Wunden zu kauterisieren und den Schock eines Patienten zu behandeln, der Verbrennungen erlitten hatte.

Der Umstand, dass man schwarzes Wasser für die Reinigung verwendete, weckte Unbehagen in McCoy. Er musste sich ganz bewusst ins Gedächtnis zurückrufen, dass die Flüssigkeit sauber und steril war.

Im Dschungelkrankenhaus fehlte es nicht nur an Personal, sondern auch an Instrumenten und Arzneien. In vielen Fällen beschränkte sich die Behandlung darauf, Wunden zu säubern und schmerzstillende Mittel zu verabreichen. Andererseits: McCoy bemerkte Beispiele dafür, dass sich erste Erfolge des Bildungsprogramms abzeichneten. Eine Familie brachte einen Mann, an einer Bahre festgebunden: Er sorgte für den Lebensunterhalt von Frau und Kindern, indem er bestimmte Vogeleier sammelte, und dabei war er von einem hohen Ast gefallen. Er musste in Boa behandelt werden; Noro und McCoy sollten ihn bei ihrer Rückkehr mitnehmen.

Leonard verzog das Gesicht, als er daran dachte, dass jemand mit Knochenbrüchen und inneren Verletzungen im Gleiter durchgeschüttelt wurde. Er vermutete Frakturen im Bereich der Wirbelsäule – eine kurze Untersuchung mit dem Medo-Scanner bestätigte diese Befürchtung.

Ona lobte die Familie für die Verwendung der Bahre. McCoy hörte kaum zu und rang mit sich selbst. Die Patienten hier im Hospital, die vielen wartenden Boacaner … An Bord der Enterprise hätte man ihnen weitaus besser und schneller helfen können. Selbst ich allein könnte eine Menge leisten, wenn mir die richtigen Instrumente und Medikamente zur Verfügung stünden, überlegte der Arzt.

Du bist als Beobachter hier, erinnerte er sich. Du sollst nur feststellen, wie gut oder schlecht das hiesige Medo-Personal zurechtkommt. Mit einem solchen Dilemma hatte er es nicht zum ersten Mal zu tun. Er wurde immer dann damit konfrontiert, wenn er die medizinischen Einrichtungen auf einer vergleichsweise primitiven Welt sah. Bei solchen Gelegenheiten drängte alles in ihm danach, sofort aktiv zu werden. Denk an das Nichteinmischungsprinzip der Ersten Direktive, ermahnte er sich.

Man brachte ein kleines Mädchen, und es litt ganz offensichtlich an einer Tollwutinfektion. Onas Gesicht brachte Anteilnahme zum Ausdruck, als sie die kleine Patientin musterte, den Schaum auf ihren Lippen betrachtete. Irgend etwas in den Zügen der boacanischen Ärztin wies darauf hin, dass sie diese Symptome nicht zum ersten Mal sah.

»Ich dachte, Sie hätten ein Impfungsprogramm eingeleitet«, sagte McCoy.

Ona drehte sich ruckartig um. »Ja, das stimmt. Aber es ist unmöglich, alle Bewohner dieses Planeten zu erreichen. Als Markor und Puil an der Macht waren, flohen viele Familien in die Berge und in den Dschungel, um sich in der Isolation Freiheit zu bewahren. Sie verstecken sich nach wie vor, weil sie allen Regierungen misstrauen, auch der neuen revolutionären. Wie sollen wir mit unseren begrenzten Mitteln Leute finden, die nicht gefunden werden wollen, Doktor?«

Kummer erklang in Onas Stimme. Sanft griff sie nach dem Kinn des Mädchens und drehte den Kopf der Infizierten, um sich die Bisswunde in der Wange anzusehen. Das Kind wimmerte leise und berichtete mit zittriger Stimme, dass sich die Verletzung seltsam anfühlte – von dem roten Striemen ging ein sonderbares Prickeln aus.

Die Großmutter schilderte den Zwischenfall und seine Folgen: Vor zwanzig Tagen war das Mädchen von einem kleinen Tier aus dem Dschungel gebissen worden, von einem sogenannten Wuhker.

Jim kann von Glück sagen, dass er den Angriff jenes Geschöpfs ohne einen Kratzer überstand.

Bis vor einigen Tagen schien mit dem Mädchen alles in bester Ordnung gewesen zu sein. Dann bekam es Fieber und klagte über Schwindelanfälle. Die Mutter gab ihrer Tochter Suppe mit traditionellen Heilkräutern, in der Hoffnung, ihr damit zu helfen. Doch unmittelbar nach dem ersten Schluck begannen heftige Krämpfe, die zum Erbrechen führten und stundenlang andauerten. Inzwischen genügte allein die Präsenz von Flüssigkeit, um bei dem Mädchen Entsetzen zu bewirken. Außerdem: Selbst ein geringer Luftzug führte dazu, dass es schrie und an Erstickungsanfällen litt.

Ona schüttelte den Kopf. »Tollwut, kein Zweifel. Und in diesem fortgeschrittenen Stadium können wir nichts mehr dagegen ausrichten. In der Hauptstadt gibt es einige Arzneien, mit denen es möglich ist, das Leben des Mädchens ein wenig zu verlängern, aber mehr als einige Tage bleiben ihm nicht.«

Die Infizierte schien Ona weder gehört noch verstanden zu haben. Der Blick ihrer kastanienbraunen Augen hatte sich getrübt; sie starrte ins Leere, tastete nach der Hand ihrer Großmutter.

»Ich gebe dir schmerzstillende Mittel und Sedative«, wandte sich Ona an die Begleiterin des Mädchens. »Zu mehr sehe ich mich außerstande. Für eine Heilung ist es zu spät.« Die Boacanerin seufzte. »Mein Assistent erklärt dir, worauf es ankommt, um weitere Infektionen in der Familie zu verhindern.« Traurig fügte sie hinzu: »Das Mädchen könnte gewalttätig werden, beißen und kratzen.«

McCoys innerer Kampf gewann an Intensität. Was kann die Erste Direktive hier und unter solchen Umständen für eine Rolle spielen? Wir haben sie ignoriert, als es um den Einsatz von Transportern und Phasern ging. Unser Befehl lautet, den Boacanern keine neue Technologie zur Verfügung zu stellen – aber damit meinte Starfleet Command in erster Linie Waffen. Die Föderation hat Boaco Sechs nicht als eine kontaminationsfreie Kultur klassifiziert, deren Entwicklung geschützt werden muss.

Leonard entsann sich daran, dass dieser Planet von Menschen besucht worden war, lange bevor der Rat des interstellaren Völkerbunds die Erste Direktive verabschiedete. Alle Boacaner wussten von der Existenz anderer Kulturen, die zum Teil eine wesentlich höhere Entwicklungsstufe erreicht hatten. Boaco Sechs war nie in dem Sinne abgeschirmt und isoliert gewesen – offizielle Repräsentanten der Föderation hatten Puil beraten. Die Tollwut stellte ein frühes und unerwünschtes Geschenk der Erde dar: Damals unterlag der Transport von Tieren überhaupt keinen Beschränkungen. Unterdessen war diese Krankheit zu einem ernsten Problem für die Boacaner geworden.

McCoy traf eine Entscheidung und sah Ona an. »Das Kind wird nicht sterben. An Bord der Enterprise haben wir Medikamente, die selbst in dieser späten Phase eine Heilung ermöglichen. Und der Mann dort …« Er deutete zur Gestalt auf der Bahre. »Ein Transport nach Boa erübrigt sich.« Leonard holte tief Luft. »Weil wir ihn an Bord des Raumschiffs im Orbit dieses Planeten beamen, um ihn in meiner Krankenstation zu behandeln.«

Langsam wich die Sorge aus Onas Gesicht, und dadurch glätteten sich ihre Züge. Manchen Ärzten gefiel es nicht, ihre Patienten anderen Doktoren zu überlassen, aber diese Boacanerin hatte eine Ausbildung an einer Föderationsuniversität hinter sich und wusste daher, dass McCoy die denkbar beste Hilfe anbot. »Damit ist das Embargo wenigstens in Bezug auf die Nächstenliebe aufgehoben«, kommentierte sie. »Danke, Doktor.«

Die Großmutter hatte bisher hingebungsvoll geschluchzt, und ein Krankenpfleger sprach leise auf sie ein. Nach einigen Sekunden sah sie erstaunt zu McCoy, und neue Hoffnung erstrahlte wie ein besonderes Licht in ihrer faltigen Miene. Der Starfleet-Arzt aktivierte seinen Kommunikator und beauftragte eine Medo-Gruppe an Bord, Patienten im Transporterraum in Empfang zu nehmen. Christine Chapel sollte verschiedene Seren vorbereiten und sich dann auf den Planeten transferieren, um Leonard im Dschungel-Hospital zu assistieren.

»Ich weiß, dass es nicht den Vorschriften entspricht«, teilte McCoy dem Lieutenant im Transporterraum mit. »Aber das ist mir völlig gleich. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich an meine Anweisungen halten.«