Kapitel 11

 

Es war ein guter Flügel, ein perfekter Steinway, der über viele Jahrhunderte hinweg musikalischen Genuss ermöglicht hatte. Viele Reisen per Schiff und mit dem Flugzeug hatten ihn auf jeden Kontinent und in jedes Klima des Planeten Erde gebracht. Doch damit noch nicht genug: Später verließ er den dritten Trabanten eines Sterns namens Sol, um andere Sonnensysteme zu erreichen. Die Tasten waren mehrmals ausgetauscht worden. Trotzdem glänzten sie nicht mehr in einem reinen Weiß, sondern trugen die gelbe Patina des Alters. Abgesehen davon hatte das Instrument seine Integrität und Qualität bewahrt. Noch immer bot es perfekten Klang.

In der ganzen Galaxis gab es keinen anderen so gut erhaltenen Flügel dieser Art. Sein Eigentümer hatte neue Methoden und Chemikalien entwickelt, um das Holz zu schützen, um die Saiten, Verbindungsstellen und Messingpedale zu behandeln. Und jetzt … Das Instrument würde ihn überdauern, denn seine Tage waren gezählt.

Flint saß mit geschlossenen Augen, und seine Hände glitten wie eigenständige Wesen über die Klaviatur. Die Gedanken des Mannes wanderten nicht durch die unendliche Sphäre der Zeit und Existenz, konzentrierten sich statt dessen auf eins seiner vielen individuellen Leben, auf eine ganz bestimmte Identität. Jenes Selbst benötigte er nun, um viele Lichtjahre von der ursprünglichen Heimat entfernt neue Musik zu erschaffen.

Er komponierte als Johannes Brahms. Erneut dachte er auf deutsch, und seine Erlebnisse als entsprechende Person rückten in den geistigen Fokus, beeinflussten Takte und Rhythmen.

Er hatte nicht komponiert, bevor er zu Brahms wurde. Auch vorher empfand er die Musik als faszinierend und herausfordernd, aber er nahm sich nicht die Zeit, um sich mit ihren Prinzipien zu befassen, um die Regeln der Harmonik und Tonart zu erlernen, um eine Vorstellung vom akustischen Potenzial aller in der westlichen Kultur gebräuchlichen Musikinstrumente zu gewinnen.

Im neunzehnten Jahrhundert besann er sich darauf, weil er die klassischen europäischen Traditionen liebte und sie durch Experimente bedroht sah. Während der vergangenen hundert Jahre hatte er von Komponisten gehört, denen es nie gelungen war, Ruhm zu erwerben, und jene Künstler wollte er für die Welt neu entdecken, durch Variationen ihrer Musik. Er kannte uralte und längst vergessene Melodien, die er als Grundlage für sein eigenes Werk benutzen konnte. Es gab moderne Meister, denen er Tribut zollen wollte … Hinzu kam das Bestreben, einen eigenen Beitrag zu leisten, aus sich heraus etwas Neues zu schaffen, die Musik als Sprache ganz besonderer Art zu benutzen, um eine Botschaft zu vermitteln.

Eine andere Herausforderung bestand darin, zu einer neuen Person zu werden, zu einem Individuum, das reifen, altern und schließlich ›sterben‹ musste, zumindest aus dem Blickwinkel anderer Menschen gesehen – das wahre Selbst existierte auch weiterhin, begab sich in ein anderes Land, nahm eine neue Identität an. Dieser Vorgang hatte sich schon oft wiederholt. Inzwischen verstand er es ausgezeichnet, sich zu tarnen, indem er sich eine erfundene Vergangenheit gab und den Anschein erweckte, wie alle anderen zu altern. Er organisierte auch sein ›Ableben‹ – ohne jemals zu sterben. Nun, auf diese Weise erschien schließlich Brahms, ein junger Mann, der in Kneipen Klavier spielte und dabei musikalische Sensibilität entwickelte, während das andere, viel ältere Ich in ihm die Kunst der Musik erlernte.

Als ›Zwanzigjähriger‹ zeigte er Schumann einige seiner Arbeiten, in denen auf schon gespenstische Weise die Essenz von mehreren Jahrhunderten Niederschlag fand. Schumann bezeichnete ihn als einen »Musiker, der dazu bestimmt ist, den idealisierten Geist seiner Zeit zum Ausdruck zu bringen, der seine Kunst nicht nach und nach entfaltet, sondern wie Athena erscheint, die mit Helm und Brustpanzer dem väterlichen Haupt des Zeus entsprang … ein junger Mann, an dessen Wiege die Grazien und Helden wachten. Er heißt Johannes Brahms …«

Eindrucksvolle Worte – und sie betrafen einen jungen Mann, dem es seltsamerweise an Jugend mangelte, der in voller Blüte aus dem Nichts kam. Schumann wurde zu seinem Förderer, und nach dem Tod des Gönners blieb Brahms mit der Witwe Clara befreundet.

Als Brahms verzichtete Flint darauf, zu heiraten und Kinder zu haben. Er nahm die neue Identität während einer Phase an, die von Verbitterung Frauen gegenüber und Zorn angesichts der Vergänglichkeit bestimmt wurde. Seine Junggesellenabende verbrachte er damit, in der Taverne ›Zum roten Igel‹ zu trinken. Auf Annäherungsversuche reagierte er mit schroffer Ablehnung. Er wollte keine engeren persönlichen Beziehungen eingehen, weil er den später unvermeidlich werdenden Trennungsschmerz fürchtete.

Die Hände auf der Klaviatur verharrten kurz, spielten eine Kadenz und griffen nach einem Stift neben dem Flügel. Es handelte sich um ein modernes Schreibwerkzeug, doch sein Erscheinungsbild entsprach dem eines Federkiels. Der Halter erinnerte an ein Tintenfass. Von Kugelschreibern und dergleichen hielt Flint nichts.

Papier knisterte, als er schrieb, Noten miteinander verband. Langsam entstand eine Sonate. Doch die Finger offenbarten eine seltsame, unvertraute Steifheit, als sie den Stift führten und über die Tasten wanderten. Jetzt enthüllte sich ihm auch das letzte Geheimnis: So fühlte es sich an, alt zu werden, im Geiste Konzepte zu entwickeln, denen ein von Schwäche heimgesuchter Körper kaum mehr Gestalt und Substanz geben konnte. Er hatte beobachtet, wie die Zeit ein Opfer nach dem anderen verlangte, und nun wirkte sich der Vorgang des Verfalls auch bei ihm aus.

Flint verbannte die Gedanken an seinen Zustand, richtete den Blick auf das Blatt Papier und bewegte die Hände, um den gerade niedergeschriebenen Noten Klang zu verleihen. Er glaubte sich plötzlich nach Wien zurückversetzt, ins musikalische Zentrum der westlichen Welt, das seinem Brahms-Selbst einen privilegierten Platz bot. Es hatte ihm große Freude bereitet, Teil jener erhabenen Gemeinschaft zu sein. Er entsann sich daran, damals mit der Sammlung begonnen zu haben, die viele von den betreffenden Komponisten selbst signierte Originale enthielt. »Geschenke Gottes«, sagte er nachdenklich und strich einige niedergeschriebene Noten durch.

Er hatte jene Meister bewundert, die vor ihm in Wien tätig gewesen waren und deren musikalisches Genie trotz eines kurzen Lebens Großartiges schuf. Zwanzig Jahre lang sammelte er einschlägige Erfahrungen, und schließlich fühlte er sich trotz des Schattens von Beethoven groß genug, um seine erste Symphonie zu zeigen. Er widerstand der Versuchung, die Epik von Wagner und Liszt nachzuahmen, besann sich auf ein älteres Ideal der Musik, auf Abstraktionen von Gefühlen und Gedanken. Jenem Ideal wurde auch die derzeitige Komposition gerecht, obgleich sie darüber hinaus dem Einfluss rigelianischer Wassermusik unterlag.

Nach dem ›Tod‹ als Brahms hatte er beobachtet, wie Kritiker und Publikum auf sein Werk reagierten. Im Lauf der Zeit veränderte sich die allgemeine Einstellung: Man bezeichnete ihn als Sensualisten und kühl abwägenden Künstler, als Relikt aus dem Zeitalter der Symphonie. Einige Jahrzehnte später schließlich zählte man ihn zu den großen Meistern; die von ihm komponierten Melodien bildeten endgültig einen integralen Bestandteil der Musikgeschichte.

Flint mochte es, dem historischen Geschehen aus der Perspektive eines anonymen Zuschauers zu folgen und festzustellen, wie man auf ein von ihm verkörpertes Selbst reagierte, ob die geleistete Arbeit in Vergessenheit geriet oder von Bestand blieb. Einige seiner Identitäten gingen verloren, doch anderen maß man verdiente Bedeutung bei – in jedem Jahrhundert glaubten Menschen, neue Aspekte in ihnen zu erkennen.

Sonderbarer Schmerz prickelte in den alten Händen, aber Flint unterbrach das Spiel nicht. Während er sich der Kreativität hingab, konnte er Rayna und alle ihre Vorgängerinnen vergessen. Das Komponieren versetzte ihn in die Lage, sich von den Überlegungen in Hinsicht auf das eigene Ende zu befreien und trotz der Einsamkeit etwas zu spüren, das ihn mit dem Menschlichen verband …

Das Summen eines Roboters lenkte ihn ab – die kleine Maschine schwebte hinter ihm. Flint kehrte ins Hier und Jetzt zurück, drehte sich langsam um.

»Warum störst du mich bei der Arbeit, M-7?«

»Es ist notwendig, Signor«, erwiderte der Roboter monoton und benutzte eine Anrede, die Flint besser gefiel als alle anderen. »Jemand hat den Prioritätskanal benutzt, um einen Kontakt herzustellen. Ein Mitglied des Föderationsrates möchte Sie sprechen.«

Was darauf hindeutete, dass es um eine wichtige Angelegenheit ging – die Arbeit an der Sonate musste verschoben werden. Zum millionsten Mal verfluchte Flint die Aufdringlichkeit der Kurzlebigen. Immer wieder bereiteten sie ihm Unannehmlichkeiten! Warum hatte er den Kontakt mit ihnen wiederhergestellt und den Prioritätskanal installieren lassen?

»Nun gut, M-7. Teil dem Ratsmitglied mit, dass ich gleich zu einem Gespräch bereit bin.«

Der Roboter flog fort, um die Anweisung auszuführen. Einige Minuten später befand sich Flint im Salon und stand vor dem großen Bildschirm, der ihm einen Tellariten zeigte. Sicher mangelte es ihm nicht an Kompetenz, sonst wäre er kaum Mitglied des Rates geworden, der die Föderation reagierte. Dennoch wirkte sein Äußeres abstoßend: Pelzbesetzte Haut, eine lange Schnauze, hufartige Hände und kleine Knopfaugen schienen auf geringe Intelligenz hinzudeuten.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Flint freundlich.

Unglücklicherweise entsprach das Gebaren der Tellariten ihrem Aussehen – sie hielten nicht viel von Takt und Höflichkeit. »Sie lassen uns keine andere Wahl, als den Prioritätskanal zu benutzen, Mr. Flint. Auf den übrigen Kanälen versuchten wir vergeblich, eine Verbindung herzustellen.«

»Weil ich vermeiden möchte, gestört zu werden, wenn kein Notfall vorliegt. Ich ziehe die Einsamkeit vor, für meine Meditationen und die Arbeit.«

»Nun, wir haben es tatsächlich mit einem Notfall zu tun. Die ganze Galaxis weiß schon darüber Bescheid: Die Beziehungen zwischen der Vereinten Föderation der Planeten einerseits sowie Romulanern und Klingonen andererseits werden immer schlechter. Vielleicht kommt es bald zu einem direkten Konflikt.«

»Das ist alles?«, entgegnete Flint ungerührt. Er zweifelte nicht daran, Zeuge größerer und ernsterer Krisen geworden zu sein.

»Ob das alles ist?«, fragte der Tellarit verblüfft.

»Ich meine: Wieso wenden Sie sich an mich? Was für eine Art von Hilfe erwarten Sie?«

»Mr. Flint, die Föderation zählt auf Ihre Unterstützung. Wir brauchen unbedingt ein neues Waffensystem für unsere Kampfschiffe. Wenn unsere Feinde von der Existenz solcher Innovationen erfahren, so versuchen sie bestimmt, den Frieden zu bewahren.«

Flint lächelte nachsichtig. »Und wenn das Gegenteil geschieht? Wenn sie sich davon provozieren lassen?«

»Nun, wenn der Gegner an seinen aggressiven Absichten festhält, so gibt uns das neue Waffensystem ein besseres Verteidigungspotenzial. Dadurch bekommen wir einen wichtigen Vorteil im Krieg. Sie stammen vom Planeten Erde. Sicher glauben Sie an die Föderation und ihre Ideale.«

Dieser Hinweis klang viel zu vertraut. Es passierte nicht zum ersten Mal, dass man an Flints Loyalität appellierte, an seine Treue Generälen, Königen, Reichen und Welten gegenüber. Häufig gingen solche Appelle von Leuten aus, die einen Sieg über die Ewigkeit zu erringen hofften – und schon nach einem Augenblick verschwunden waren. »Ich lehne es ab, neue Waffen für Sie zu konstruieren«, sagte Flint fest. »Ich habe oft genug erlebt, was Krieg bedeutet und zu welchen Grausamkeiten Kämpfer auf dem Schlachtfeld fähig sind. Nie wollte ich daran beteiligt werden, und an dieser meiner Einstellung hat sich nichts geändert. Nehmen Sie die Dienste eines anderen Erfinders in Anspruch.«

»Niemand kann auch nur annähernd soviel leisten wie Sie«, sagte das Ratsmitglied und sprach damit eine schlichte Wahrheit aus. »Wir brauchen ein Waffensystem von Ihnen. Sie haben der Föderation Hilfe zugesichert. Weigern Sie sich, Ihr Versprechen einzulösen?«

»Keineswegs. Ich helfe der Föderation; Wissenschaft und Kunst haben von meinem Wissen profitiert. Und wenn Sie einen Beweis für meine Loyalität wollen: Bitte denken Sie daran, dass ich bereits ein Gerät für Starfleet entwickelt habe – die neue Tarnvorrichtung. Wenn Ihre Besorgnis in erster Linie einem Angriff gilt … Jenes Instrument ermöglicht einen guten Ortungsschutz. Das sollte eigentlich genügen.«

»Es genügt nicht!«, schnaufte der Tellarit, und es gelang ihm kaum, sich zu beherrschen. Nach einigen Sekunden fuhr er fort: »Ich habe mehr Kooperationsbereitschaft von Ihnen erwartet, Mr. Flint. Sie zwingen mich, Dinge anzusprechen, die selbst bei einem Kom-Kontakt per Prioritätskanal unerwähnt bleiben sollten. Ihre Verpflichtungen Starfleet gegenüber beschränken sich gewiss nicht nur auf die Tarnvorrichtung. Übrigens: Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Gerät verschwände?«

»Darin besteht sein Zweck, nicht wahr?«, erwiderte Flint mit einem Hauch Ironie.

»Ich meine es ernst. Man hat die Tarnvorrichtung … gestohlen.«

»Wer steckt dahinter?«

»Die Einzelheiten sind nicht ganz klar – uns fehlen gewisse Informationen. Es kam zu einem Zwischenfall auf einer kleinen Welt, und einige von uns glauben, dass die Romulaner damit in Zusammenhang stehen …«

»Idioten«, sagte Flint kühl. »Warum wurde die Tarnvorrichtung nicht besser bewacht? Warum sind nicht alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen worden?«

»Man hat Ihr Gerät an Bord eines kleinen Kreuzers installiert, und jemand stahl das Schiff. Vielleicht wissen die Diebe nicht einmal, was sich an Bord befindet.«

»Warum informiert man mich erst jetzt?«

»Inzwischen gehört die neue Technik uns«, sagte der Tellarit. Subtile Anzeichen deuteten darauf hin, dass er sich die Defensive gedrängt fühlte. »Außerdem muss alles geheim bleiben. Der Gegner darf nichts vom Diebstahl erfahren und keinen konkreten Beweis für die Existenz der Tarnvorrichtung erhalten.«

»Es tut mir leid für Sie«, kommentierte Flint. »Ihre Lage ist sicher alles andere als angenehm. Aber wenn Sie glauben, mich auf diese Weise zur Konstruktion eines Waffensystems veranlassen zu können, muss ich Sie enttäuschen. In Hinsicht auf das gestohlene Gerät stehen Ihnen Baupläne zur Verfügung. Wie Sie schon sagten: Die entsprechende Technik gehört Ihnen; Sie können jederzeit weitere Exemplare des Apparats konstruieren. Um es noch einmal ganz deutlich zu betonen: Ich bin nicht bereit, bei irgendwelchen militärischen Entwicklungsprogrammen mitzuwirken. Ich erfinde keine Waffen für Sie.«

»Scheinheiligkeit!«, heulte der Tellarit. Statische Störungen knisterten und knackten aus dem Lautsprecher, verzerrten das Abbild der hässlichen Gestalt im Projektionsfeld. Das Ratsmitglied hob eine Hufhand, deutete damit auf Flint. »Die Tarnvorrichtung kann auch als Hilfsmittel im Kampf verwendet werden. Wie soll man sich verteidigen, wenn der Angreifer nicht zu orten ist? Damals lehnten Sie es nicht ab, uns eine derartige Hilfe zu gewähren. Warum vertreten Sie jetzt einen anderen Standpunkt?«

Flint stand ruhig vor dem Bildschirm und musterte den Tellariten. Die traurig blickenden Augen in einem uralten, würdevollen Gesicht sahen in die kleinen Pupillen des Ratsmitgliedes, bemerkten dort einen Glanz, der von Trotz und Ärger kündete. »Die technischen Probleme bezüglich der Tarnvorrichtung interessierten mich. Wie dem auch sei: Es handelt sich in erster Linie um ein passives Instrument, das die Möglichkeit bieten soll, einer Gefahr zu entkommen. Ich entwickle weder aggressive Systeme noch irgendwelche neuen Zerstörungsmethoden. Das ist mein letztes Wort.«

»Sie moralisieren und gefährden dadurch die Föderation!«, platzte es aus dem Tellariten heraus. »Der Rat bittet Sie in aller Form, uns zu helfen, doch Sie lehnen es arrogant ab, Ihren Pflichten zu genügen. Sie lassen uns im Stich und …«

»Ich glaube, jetzt gehen Sie zu weit«, sagte Flint.

Das Ratsmitglied unterbrach sich, als ihm einfiel, mit wem es sprach, mit welcher Achtung die Terraner diesem besonderen Individuum begegneten und welche Hilfe es zu leisten vermochte. »Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Flint.« Diese Worte fielen dem Tellariten bestimmt nicht leicht. »Wir sind alle großem Stress ausgesetzt. Ich hoffe, Sie ändern Ihre Meinung und beschließen doch noch, bei dieser Sache mit der Föderation zusammenzuarbeiten.«

»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Bitte benutzen Sie den Prioritätskanal nicht noch einmal, um mit einem solchen Anliegen an mich heranzutreten.«

Graues Flimmern verschlang die Konturen im Projektionsfeld, und der Tellarit verschwand. Flint wandte sich vom Bildschirm ab, streckte die Hand nach einer Statue aus und strich mit den Fingerkuppen über kühlen Marmor. Er legte großen Wert auf seine einsiedlerartige Existenz, und die Kontakte mit Personen wie dem Ratsmitglied schufen unwillkommene Unruhe in ihm. Im Lauf der Zeit war sein Wunsch nach Distanz zur Leidenschaft gewachsen. Über Jahrtausende hinweg hatte er geliebt und gekämpft, sich Begeisterung und Zorn hingegeben, doch wiederholte Enttäuschungen hatten ihn allmählich dem menschlichen Drama entfremdet.

Zum letzten Mal hatte ihm Rayna Anlass gegeben, Gefühle zu investieren, und jenes emotionale Engagement mochte das größte überhaupt gewesen sein. Seit ihrem Tod, seit dem Fiasko in Hinblick auf die Offiziere der Enterprise und der Erkenntnis, selbst sterblich geworden zu sein, war der Abstand zu allem anderen noch mehr gewachsen. Wie seltsam, dass jene Geschöpfe trauern und sich freuen konnten, Kraft für Banalitäten wie Drohungen, Affronts und Rivalität fanden, obgleich für sie alles so schnell vorbei war. Für Flint gab es nur Ruhe und Gelassenheit, eine spezielle Ordnung, geschaffen von dem Wissen, dass alles der Vergänglichkeit und dem Wandel unterlag. Das galt jetzt auch für ihn selbst. Aber wie mochte es sein, ein so instabiles Bewusstsein zu haben wie der Tellarit, ein von Impulsivität und Argwohn geprägtes Selbst? Wie fühlte sich so etwas an?

 

Entsetzen. Ein Tunnelblick, der zum Bildschirm reichte, zum Hauptschirm des Schiffes, der ein verzerrtes, verdrehtes All zeigte … Jener Tunnel schien sich in einen Schlund zu verwandeln, der nach ihm gierte, und aus einem Reflex heraus schlossen sich seine Hände fester um die Armlehnen des Sessels. Kalter Schweiß perlte ihm auf der Stirn, und die Hände zitterten, jene Hände, die zuvor Phaser abgefeuert hatten. Wie aus weiter Ferne betrachtete er sie, während die Echos von Schreien in seinen Ohren dröhnten …

Jahn wusste um die Bedeutung von Kontrolle: Er musste sich beherrschen. Doch es schien überhaupt keine Kontrolle zu geben, weder über das Schiff noch über Rhea oder Pal, die sich vor ihm fürchteten, ihn für einen Großen hielten. Vielleicht glaubten sie, die Großen kehrten zurück, und er sah die Städte brennen, und alle wurden krank und böse. Auf dem Dach hatte er gelegen, in der Nähe des Schornsteins, und von dort aus beobachtete und lauschte er. Damals war er imstande gewesen, Kontrolle auszuüben.

Doch jetzt wimmerte Pal, und Rhea versuchte, ihn zu beruhigen. Jahn wollte sich um seine beiden Begleiter kümmern, aber sie wenden sich gegen mich, verdammte Rhea, hat Angst, will mich nicht an sich heranlassen, aber es mangelte ihm an Kontrolle, und deshalb fand er nicht die richtigen Worte, konnte keinen Trost spenden. Keine Kontrolle – eine unumstößliche Tatsache.

Ja, auf dem Dach hatte er gelegen, und die Großen erwischten ihn nicht, nein, nein, nein, nein, aber dann fanden sie ihn doch, nach langer, langer Zeit. Viele Jahrhunderte dauerte es, sagten sie später, als sie zurückkehrten. Für die Kleinlinge gab es keine Zeit, aber die Großen brachten sie mit, Zeit und Unheil, und sie schienen es gut zu meinen, und Miri, es tut mir leid, Miri, und Miri glaubte an sie und das Institut … Jahns Gedanken enthielten Löcher.

Voltmer Großer … Er hasst mich, wenn ich die Kontrolle verliere. Voltmer im Zimmer mit dem Stuhl, auf dem Dach lag ich, die Stadt brannte, und man drückte mich nach unten, und ich beobachtete vom Dach aus, und Schreie erklangen, und man drückte mich nach unten auf den Stuhl, schnallte die Arme fest, und über mir, über dem Kopf …

Jahn stand auf und wanderte durch den kleinen Raum. Pal wich zurück, schien bei jedem Schritt zusammenzuzucken, und Jahn hätte ihn am liebsten geschlagen. »Ich lege mich hin«, sagte er, und seine Stimme klang seltsam, hörte sich so an, als gehörte sie einer anderen Person. »Ich lege mich hin, Rhea. Übernimm du die Kontrollen. Immerhin hast du mehrmals gesagt, dass ich nicht gut mit dem Schiff zurechtkomme.«

»In Ordnung, Jahn. Ruh dich aus.«

Rhea offenbarte zu großen Eifer. Jahn musterte sie misstrauisch. »Ich lege mich hin, um zu schlafen«, wiederholte er. »Und während ich schlafe, bist du für das Schiff verantwortlich. Du willst die Gelegenheit nutzen, um es den Großen zu überlassen, um dich wieder bei ihnen einzuschmeicheln, Streberin, Lehrers Liebling, das hast du vor …«

»Nein, Jahn. Keine Sorge. Ich verspreche dir, dass ich das Schiff nicht …«

»Vergiss es nicht. Denk daran, wo wir gewesen sind. Wir haben gehört, wie die Leute in den fremden Raumern schrien. Und dann das andere Schiff … Erinnerst du dich daran? Stammte aus der Föderation. Es versuchte, uns anzugreifen …«

»Nein, Jahn, das stimmt nicht. Es …«

»Sei still. Unter anderen Umständen hätten die Großen uns vielleicht erwischt, aber wir haben schnell genug gehandelt und sie vernichtet. Und jetzt verfolgt man uns. Man will uns zurückbringen, damit uns Voltmer quält, damit er uns tötet und seziert. Denk daran, bevor du beschließt, die Tarnvorrichtung auszuschalten. Denke daran, denk daran …« Die Stimme verwandelte sich in ein hysterisches Schrillen, und er ragte vor Rhea auf, sah wie aus größer Höhe auf sie hinab, durch einen langen Tunnel. Sie erbleichte, und Pal schmiegte sich an sie. Ist das Kontrolle?, fragte sich Jahn. Habe ich neue Kontrolle gefunden? »Ich gehe jetzt«, sagte er unsicher und lief durch die Tür.

In der Kabine ließ er sich aufs Bett sinken, schauderte und presste das Gesicht ans Kissen. Früher brachte man mir Respekt entgegen, angeführt habe ich sie, die Kleinlinge, und Miri, es tut mir so leid, Miri, ja, angeführt habe ich sie, und ich war der Größte und Beste, konnte mich um sie kümmern. Die Großen fürchteten mich, und sie jagten den Kleinlingen Angst ein, und Voltmer schleuderte mein Selbst in diesen Tunnel. Er ist neidisch und will selbst bestimmen und mich schwach werden lassen, und ich kann nicht mehr klar denken. Ich kann nicht mehr anführen. Das Licht ist viel zu hell, es blendet, das Licht in den Tunneln, und meine Arme sind festgebunden, und die Gedanken enthalten noch mehr Löcher. Sie springen hin und her. Sie entziehen sich meiner Kontrolle, es tut mir leid, Miri, Rhea weiß, dass ich kein Anführer mehr bin.

Er schloss die Augen, um dem Gleißen zu entkommen, einem Licht, das auch hinter seiner Stirn strahlte. Seine Gedanken trieben Glassplittern gleich dahin, und es schmerzte, sie festzuhalten.

Er hatte angeführt. Er hatte die Kleinlinge – beziehungsweise die Überlebenden – vor wilden Tieren, Hunger und Kälte geschützt. Auch vor den großen Kleinlingen, die plötzlich böse wurden. Als die Großen zurückkehrten, geriet er in eine schwierige Situation. Sie wollten befehlen, und manchmal leistete er Widerstand, und Voltmer fürchtete ihn, er wusste es, er will mich dem Unheil preisgeben, dafür sorgen, dass ich ebenfalls zu einem Großen werde, seine angeblichen guten Absichten sind Lügen, die Arme festgebunden

Die Großen glaubten, über ihn triumphieren zu können, aber er hatte sie getötet – um nicht selbst von ihnen umgebracht zu werden. Er konnte nicht zurück, musste wieder Kontrolle erringen. Und er würde es Rhea zeigen … Vor dem inneren Auge sah er noch einmal, wie die Außenhüllen der anderen Schiffe glühten, wie die Funken der Vernichtung aus ihnen stoben. Phaserstrahlen bohren sich in sie hinein, es tut mir leid, Miri. Nun, dadurch bekam alles etwas Endgültiges. Jetzt wusste Rhea, dass sie nicht zurückkehren konnten. Jahn ächzte und hoffte, klarer denken zu können, wenn er ausruhte, dadurch die Wände, Mauern und Barrieren in seinem mentalen Universum zu verlieren, die Löcher und Tunnel …

Langsam wich die Anspannung aus seinem Leib, und er sank in einen unruhigen, dringend benötigten Schlaf.