Prolog

Wien, 1920

Milenas Herz klopfte im Takt ihrer Schritte. Sie rannte, musste sich beeilen. Endlich war es so weit, das Warten hatte ein Ende. Gleich würde sie die lang ersehnte Antwort erhalten und erfahren, ob Franz Kafka, mit dem sie sich seit einiger Zeit die innigsten Briefe schrieb, sie auch in der Wirklichkeit kennenlernen wollte. Seit fünf Monaten umgarnten sie sich, liebkosten sich auf dem Papier. Anfangs schrieben sie sich rein geschäftlich, in sachlichem Ton und warteten noch die Antwort des anderen ab. Doch dann, als Milena auf einen seiner Briefe nicht gleich reagierte, drängte er sie. Entweder sollte sie Stillschweigen oder ein paar Zeilen schicken. Aus einer Laune heraus fing sie an, mehr von sich zu erzählen, so wie es ihr gerade in den Sinn kam, und das gefiel ihm offenbar. Auch er schrieb, was ihn beschäftigte. Dann begann das Gespenstern, wie er es nannte. Kaum war der eine Brief unterwegs, folgte schon der nächste hinterher, als wäre längst noch nicht alles gesagt, als könnte man nicht weiteratmen, ohne dies oder jenes zu ergänzen und es dem Gegenüber mitzuteilen. Das öffnete weitere Türen in Milenas Gedächtnis und drang bis in ihr Innerstes vor. Bald schrieben sie sich schneller, als sie mit dem Lesen hinterherkamen, vertrauten sich Geheimnisse an, die keiner von beiden je laut aussprechen würde. Vieles davon formte sich erst bei der Niederschrift zu Gedanken. Obwohl er in seinen Antworten ihr Leben sezierte, als wäre er ein Gerichtsarzt, sprach auch Fürsorge aus seinen Zeilen, sogar echte Anteilnahme. Milena war es nicht gewohnt, dass jemand sich um sie scherte. Bisher, in den dreiundzwanzig Jahren ihres Lebens, hatte sie alles mit sich selbst ausmachen müssen. Aber auf einmal gab es jemanden, der ihr auf diese besondere Weise half, den harten Alltag zu bestehen und das, was sie Schlimmes erlebt hatte, zu verarbeiten. Und auch wenn sie sich erst einmal vor ihrer Korrespondenz flüchtig begegnet waren, so fühlte es sich jetzt so an, als wäre er bereits immer an ihrer Seite gewesen. Was war er für ein Mensch, der solch eine Unruhe in ihr stiftete? Hatte sie sich wirklich in ihn verliebt? Allein durch die Briefe würde sie das nie herausfinden. Sie wollte ihm endlich ins Gesicht sehen, ihm gegenüberstehen, seine Stimme hören und ihn berühren. Außerdem war sie neugierig, ob er das auch verkörperte, was er versprach. Vertrauen, Trost und Hoffnung auf ein besseres, vielleicht gemeinsames Leben. Darum hatte sie ihn zum wiederholten Male um ein Treffen gebeten und hoffte heute auf die Antwort.

Sie nahm eine Abkürzung durch einen Hinterhof, kletterte über eine halb abgebrochene Mauer und unter einem Teppich durch, der auf einer Stange hing. Hielt kurz inne, um zu husten, hoffte, dass es nur der Staub sei und keine Verschlimmerung ihrer Bronchitis, die, seit sie in Wien lebte, in ihr steckte. Sie wartete einen Augenblick, bis sie wieder zu Atem kam. Dabei sah sie sich fortwährend um, ob ihr jemand folgte. Dass ihr einer aus ihrem Bezirk, der sie kannte, zufällig über den Weg lief, ließ sich nicht vermeiden, schlimmer wäre es, wenn jemandem aufgefallen war, dass sie täglich diese Strecke nahm. Da vorn, das war doch ihr Nachbar? Der Schuhmacher Hirsch, der seine Werkstatt im Keller des Eckhauses hatte und durch eine schmale Kellerluke nur einen Streifen oberhalb des Straßenpflasters sehen konnte. Damit flanierte tagtäglich bei seiner Arbeit mögliche Kundschaft an ihm vorbei. Milena schuldete ihm noch das Geld für das letzte Besohlen ihres einzigen Paares, die Schnürstiefel, die sie das ganze Jahr trug. Er war so nett gewesen und hatte das Aufdoppeln sofort erledigt, sonst hätte sie solange barfuß laufen müssen wie die Gassenjungen.

Herr Hirsch trat nun aus der Bäckerei und ging direkt auf sie zu. Geschwind stellte sie sich in einen offenen Hausflur und wartete, bis er vorüber war.

»Wen suchen’s denn, Fräulein?« Eine Frau mit einem ondulierten Pudel im Arm drängte sich an ihr vorbei. Milena wollte sich durch ihren tschechischen Akzent nicht verraten, nickte ihr wie zu einem Gruß zu, schlüpfte wieder hinaus und lief weiter.

Als sie in die Bennogasse einbog, blickte sie auf die große Uhr des Postgebäudes. Nur noch eine Minute hatten die Schalter geöffnet. Sie eilte über die Straße. Ein Lastwagen bremste kurz vor ihr. Der Fahrer schimpfte mit geballter Faust. Milena wandte sich zur Seite und wich dem nächsten Fahrzeug, einem Automobil, aus. Beim Anblick des weinroten Steyrs zuckte sie zusammen. Das war doch Ginas Wagen? Schnell rannte sie auf die andere Straßenseite. Hoffentlich hatte sie sie nicht bemerkt. Und wenn doch? Erst dann fiel ihr auf, wie sehr sie übertrieb. Jeder hatte gelegentlich ein Telegramm aufzugeben, Briefmarken zu kaufen oder eine Überweisung zu tätigen, und manchmal sogar noch im letzten Moment. Daraus würde ihr selbst Gina keinen Strick drehen. Trotzdem wollte sie gerade nicht mit ihr zusammentreffen und in ein Gespräch verwickelt werden, was sie bloß unnötig aufhielt und am Ende noch verriet. Ausgerechnet heute. Auch wenn sie unter den Säulen vorm Posteingang nicht zur Uhr sehen konnte, so glaubte sie den großen Zeiger über sich zu spüren. Wie eine Lanze rückte er unaufhaltsam vor und stach zu. Ein lautes Surren erklang, die Mechanik der Uhr setzte ein, gefolgt von einem Bimmeln der Kirchenglocken ringsum. Es schlug zur vollen Stunde. Ein Herr trat aus der Tür, setzte seine gelupfte Melone wieder auf und nahm den Spazierstock vom Arm. Die Tür fiel ins Schloss. Milena sprang vor und wollte sie wieder aufdrücken. Es ging nicht mehr. Sie war schon verriegelt. Hinter den Glasscheiben bewegten sich die Vorhänge. Milena klopfte erst, hämmerte dann gegen die Fenster und die Tür. Man musste sie einfach noch kurz einlassen. Das kostete nichts, höchstens Sekunden. Sie brauchte die Briefe. Doch niemand erbarmte sich. Erschöpft setzte sie sich auf eine der Stufen an der Straßenecke und schlang die Arme um den Leib. Wie sollte sie es bloß bis Montagfrüh aushalten, ohne eine neue Zeile von ihm?

»Habe die Ehre, Frau Kramer.« Sie wandte sich um. Der Postbeamte, der sie von ihren täglichen Besuchen kannte, bückte sich zu ihr. »Ich hätte da was für Sie«, sagte er und überreichte ihr den heiß ersehnten Brief.