1. Kapitel

ENZIAN

Milena konnte ihre Aufregung kaum verbergen. Seit Wochen freute sie sich auf diesen Abend. Obwohl sie eine Platzkarte besaß, glaubte sie bis zuletzt, dass etwas dazwischenkäme, die Aufführung angesichts des Krieges abgesagt wurde, die Hauptdarsteller erkrankten oder dergleichen. Wie durch ein Wunder saß sie dann tatsächlich rechtzeitig, sogar ein wenig zu früh, in der zweiten Reihe des Ständetheaters. Die barocken, goldverzierten Logen, die sich bis unter die Decke zogen, füllten sich langsam mit behandschuhten Damen und ihren Begleitern, älteren zylindertragenden Herren der obersten Prager Gesellschaft, die nicht eingezogen worden waren. Milena hätte ihren Vater um einen Logenplatz bitten können, schließlich war die Karte sein Geschenk zu ihrem zwanzigsten Geburtstag gewesen. Doch sie bevorzugte das Parkett, wollte so dicht wie möglich an der Bühne sein und die Schauspieler aus nächster Nähe sehen, um das, was sie im Stück durchlebten, hautnah mitzuerleben, sich dabei in Lachen und Tränen aufzulösen. Darum war es ihr sogar lieber, allein, ohne ihre Freundinnen, hier zu sein, sie wollte jedes Wort einsaugen und nicht durch Gespräche über den neuesten Klatsch und Tratsch abgelenkt werden. Noch ein Jahr, dann war sie großjährig, konnte tun, was sie wollte. Sie grinste in sich hinein, als sie daran dachte. Als ob sie nicht schon jetzt tat, wozu sie Lust hatte, und zusammen mit Jarmila und Staša, als stadtbekannte »Minervistinnen« ständig etwas Neues ausheckte. Auch noch im Studium haftete ihnen der Ruf der rebellischen Mädchen an. Kam ihnen etwas davon zu Ohren, schürten sie es fleißig weiter, halfen mit, die Legenden auszuschmücken, die das »Minerva«, das erste Mädchengymnasium der österreichisch-ungarischen Monarchie umrankte. Geschichten von Frauenliebe, Anleitungen, um aufzubegehren, bis hin zur weiblichen Machtübernahme. Frauen in Führungspositionen, welch Absurdität! Wer von diesen »freien Weibern« wollte dann noch Kinder gebären und sich dem Haushalt widmen, ereiferten sich die Männer, die um ihre Positionen bangten. Sollten sie das am Ende selbst übernehmen, reichte es nicht, dass sie bereits ihr Leben an der Front riskierten? Wozu musste eine Frau Altgriechisch lernen? Wären nicht Sockenstricken und ein Kochkurs hilfreicher? Besonders die gleichaltrigen Jungen reagierten mit Spott und riefen ihnen »Achtung, da kommt eine nervige Minerva« in den Gassen hinterher. Auch wenn kaum etwas von den Gerüchten stimmte und Milenas Schulzeit oft von Leid, Drill und Strenge geprägt war, so war sie doch stolz, zu den Auserwählten gehört zu haben, und nun als eine der ersten Frauen zur Universität zugelassen worden zu sein. Trotzdem dauerte es noch ein Weilchen, bis sie großjährig wurde. Aber die Zeit bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag würde sie sich zusammen mit ihren Freundinnen schon versüßen und gelegentlich aufbegehren.

Zu Ehren von Emilia Galotti hatte sie sich extra neu eingekleidet und trug ein pastellfarbenes kniekurzes Samtkleid mit einer großen Schleife an der Hüfte. Ihre Locken hielt eine enzianblaue Blüte, die sie an eine Haarspange gebunden hatte, aus der Stirn. Die langen Beine betonte sie mit übers Knie geknöpften Gamaschen. Das war der neueste Schrei der Prager Modewelt, laut Verkäufer erst vor Kurzem aus London eingetroffen. Zusammen mit Staša hatte sie sich die Gamaschen beim Damenausstatter Veselý gekauft, ihre Beste-Freundinnen-Kluft nannten sie die eleganten Beinwärmer seitdem. Jarmila, die zurzeit nur noch Augen für einen gewissen Josef hatte, blieb dabei außen vor. Leider machte sich auch Staša nichts aus Theater, schon gar nichts aus Trauerspielen. Als Ausgleich zu den Vorlesungen, wo sie lange genug stillsitzen und zuhören musste, ging sie lieber tanzen. Und auch Jarmila hatte es nicht so mit der Klassik. In etwas Tragisches zu versinken, war nichts für ihre Freundinnen. Im Gegensatz zu Milena. Ihr konnte es nicht dramatisch genug sein, und die Romantik durfte dabei auch nicht zu kurz kommen. Sie wollte schwärmen und laut aufseufzen, mit um ein Leben und die große Liebe flehen. Gespannt hoffte sie, dass es bald losging.

Auch die Parkettreihen füllten sich, neben Milena setzte sich ein Herr in einem schlichten Sakko, das aufgenähte Flicken an den Ellbogen hatte. Er grüßte sie auf Deutsch, was ungewöhnlich war. Normalerweise mieden die Deutschen das tschechische Theater. Als sie nicht reagierte, sagte er »Dobrý večer«, guten Abend auf Tschechisch. Sie nickte kurz, das Licht erlosch und der Vorhang hob sich.

Auf einem Tisch türmten sich Pergamentrollen, hinter denen der Prinz kaum zu erkennen war. »Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften!«, rief er mit rauer Stimme, die bei Milena eine Gänsehaut verursachte. »Traurige Geschäfte, und man beneidet uns noch.« Ihr Sitznachbar murmelte die deutsche Übertragung mit, er musste das Stück auswendig kennen. Ab und zu streifte seine Jacke ihren Arm. Doch bald vergaß sie alles um sich herum, tauchte voll und ganz in das Geschehen ein.

»Schlimmer als der Tod«, diese Aussage klang ihr noch in den Ohren, als sich der Vorhang endgültig senkte, der Schlussapplaus verebbte und die Bühne verwaist war. Konnte das, was Emilia Galotti widerfahren war, schrecklicher sein, als zu sterben? In der damaligen Zeit bestimmt, in der der Verlust der Jungfräulichkeit vor der Ehe einer Entwertung gleichkam. Als ob eine Frau kein Mensch war, mehr ein Gebrauchsgegenstand. Welch Ungerechtigkeit! Emilia war von ihrem Vater erdolcht worden. Sie hatte ihn sogar angefleht, es zu tun, nur um ihre Tugend zu retten. So weit konnte die eigene Verblendung gehen. Wut keimte in Milena auf, aber zugleich tropften ihr Tränen von der Nase. Sie schniefte. Wahrscheinlich hatte sie auch wieder diese roten Flecken auf der Stirn, wie immer, wenn sie sich in etwas hineinsteigerte. Besser, sie wartete, bis alle gegangen waren, Professor Jesenskýs eigensinnige Tochter sollte niemand so aufgelöst sehen. Das Publikum drängte zu den Saaltüren hinaus, bloß ihr Sitznachbar machte keine Anstalten, sich zu erheben.

Er reichte ihr sein Einstecktuch. »Ich versichere Ihnen, dass es frisch gewaschen ist«, sagte er auf Deutsch, als sie zögerte. »Meine Hauswirtin bestand darauf, wollte mich nicht ohne fortgehen lassen.« Milena nahm es, trocknete sich das Gesicht, den Hals. Dann wusste sie nicht, wohin mit dem Tuch, gab es ihm einfach zurück. Vielleicht würde er nun gehen, und sie konnte sich ungestört beruhigen. Er beugte sich vor, drehte sich zu ihr, legte seine Finger unter ihre und küsste ihre rechte Hand. »Gnädiges Fräulein, darf ich mich vorstellen? Pollak mein Name. Ernst Pollak, zu Ihren Diensten.«

Gegen ihren Willen lächelte sie.

Sie wandte sich ihm zu. »Milena Jesenská.« Sein schwarz-glänzendes Haar hatte er über der hohen Stirn streng zurückgekämmt. Er wirkte deutlich älter als sie, war wahrscheinlich kein Student mehr, eher ein Lehrer, ein Professor vielleicht wie ihr Vater. Seinen schweren Augenlidern nach schien er ebenfalls von der Darbietung berührt worden zu sein. Milena musste genau hinsehen, um seinen Blick zu erraten. Schon fing er sie aus kleinen Pupillen ein und schaute sie geradewegs an.

»Und, wie hat Ihnen das Stück gefallen?«, fragte sie, bemüht, korrektes Deutsch zu sprechen.

»Ich habe lieber Ihnen zugehört.«

»Mir? Außer meinem Namen habe ich doch noch gar nichts gesagt.«

»Ich habe trotzdem viel gehört.«

»Sie scherzen, Herr Pollak.«

»Keineswegs.«

Milena schwieg, versuchte sich einen Reim auf all das zu machen. Wie konnte er wissen, was in ihr vorging? Hatte er sie im Schein der Bühne schweigend beobachtet? In der Pause war sie schnell hinausgelaufen, um dann mit der Damenwelt vor nur zwei Wasserklosetts anzustehen, und als sie endlich an ihren Platz zurückkehrte, verdunkelte sich der Saal bereits wieder. In den letzten beiden Akten war sie vor Tränen halb zerflossen, hatte mit Emilia Galotti mitgefiebert, gehofft, dass es einen anderen Ausweg gäbe als diesen Schluss. Vermutlich war Milena auch in allen anderen Szenen körperlich mitgegangen, als stünde sie selbst im Rampenlicht und bangte um ihr Leben.

»Das ist ein Schusternagel in Ihrem Haar, stimmt’s?«, durchbrach Pollak ihr stummes Beisammensitzen im leeren Theater.

Blumenkenner war er auch, jetzt erhielt er ihre volle Aufmerksamkeit. Die Verehrer, die Milena bisher getroffen hatte, waren Jünglinge im Vergleich zu ihm gewesen. Sie lobten ihre Anmut, machten ihr Komplimente, brachten sogar gelegentlich Blumen mit, die sie aber nicht benennen konnten. Und in Wirklichkeit bemerkten sie nicht einmal, was Milena für Kleidung trug, waren mehr an dem darunter interessiert. Dass ein Mann etwas in ihrem Inneren hörte und sie zugleich äußerlich wahrnahm, sogar Enziangewächse voneinander unterscheiden konnte, war ihr neu. »Ich habe Sie ebenfalls reden hören«, sagte sie. »Sie scheinen das Stück genau zu kennen. Sind Sie Theaterkritiker?«

Er lachte. »Schön wäre es! Das ist in der Tat ein Beruf nach meinem Geschmack. Einer meiner Freunde, Max Brod, übt ihn aus. Er ist heute verhindert, musste zu einem Konzert, und hat mir die Karte geschenkt. Dabei dürfte man meinen, ich bekäme in diesem Theater Hausrabatt, ich wohne auf der Rückseite des Gebäudes.« Ein Türsteher näherte sich ihnen. »Wollen wir gehen, bevor sie uns hinauswerfen?« Pollak reichte ihr erneut die Hand und führte sie galant ins Freie.

»Sie sind nicht aus Prag, oder?«, fragte Milena kurz darauf, als sie im Mondlicht am Ufer der glitzernden Moldau entlangspazierten.

»Ich bin in Jitschin geboren, ein Städtchen, neunzig Kilometer weg von hier, vielleicht kennen Sie es?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ist vermutlich auch besser«, sagte er. »Es hat zwar einen alten Stadtkern, noch von Wallenstein erbaut. Doch gerade habe ich erfahren, dass dort ein Lager für Kriegsgefangene errichtet wird.«

»Was ist mit Ihnen, wurden Sie nicht einberufen?«

»Tut mir leid, Fräulein Milena, ich bin untauglich für lange Märsche. Seien Sie taktvoll und sehen Sie jetzt bitte nicht nach unten, auf meine Plattfüße. Aber wenn ich es recht bedenke, so ist mein Makel auf einmal sehr nützlich. Wer weiß, ob wir uns sonst jemals kennengelernt hätten.« Sie schlenderten zurück in die Prager Neustadt und blieben an einem Eckhaus stehen. »Haben Sie Lust auf einen Viertel oder darf’s noch ein Mokka sein, zu so später Stunde?«, fragte er. »Ich lade Sie ein. Vielleicht treffen wir auch noch den einen oder anderen Arconauten.«

»Argonauten? Ist das ein Seefahrerclub?«

Er grinste. »Nicht schlecht, das muss ich mir merken. Nein, wir sind die vom Arco mit einem C.« Dann zeigte er nach oben, auf die großen schwarzen Buchstaben, die die ganze Kaffeehausfassade umrundeten. Der Name Arco war Milena in der Dunkelheit nicht aufgefallen. »Sie sehen, bei unserer Tätigkeit bleiben wir im gemütlich Trockenen und segeln nur mithilfe von Worten durch die Weltgeschichte. Wir sind eine Gruppe von Literaten, die bei einem guten Kaffee oder auch etwas Stärkerem über Selbstgeschriebenes und Gelesenes spricht.«

»Sie reden gemeinsam über Bücher, und es sind auch Schriftsteller darunter?« Das stellte sich Milena herrlich vor. Sie liebte Bücher, versuchte sich sogar selbst im Schreiben und Übersetzen. Seit dem Musikstudium kam sie zwar noch weniger dazu als vorher in der Medizin, aber wer weiß, wohin diese Bekanntschaft sie brachte. Pollak ergriff noch mal ihre Hand, streifte im selben Atemzug ihre Lippen. Zart, doch wie selbstverständlich.

Dann war es da, das Gefühl, das sie bisher nur erahnt, zwar mehrmals erprobt, aber niemals auf diese Weise erfahren hatte. Es durchflutete Milena, gepaart mit Glück und Freude. All das Wunderbare löste Ernst Pollak aus, wenn sie ihn ansah oder sogar nur an ihn dachte. Abgesehen von Fräulein Honzáková, ihrer Lehrerin, mit der sie sich auch außerhalb der Schulstunden über Musik, Literatur und Kunst unterhalten konnte, hatte Milena noch nie einen Menschen wie ihn getroffen. Ernst hörte ihr zu, hörte nicht nur, er merkte sich sogar, was sie zuletzt erzählt hatte, was sie sich ersehnte, fragte nach oder griff einen ihrer letztes Mal geäußerten Gedanken wieder auf. Noch dazu wollte er alles über sie wissen, betrachtete sie dabei mit leicht schräg gelegtem Kopf und wachen Augen, die breiten Lippen zum Küssen bereit. Er berührte sie, aber er bedrängte sie nicht. Obwohl sie ihm, gleich an diesem ersten Abend, alles gegeben hätte, sich ihm ganz hingegeben hätte, mit Haut und Haar. Schneller, als sie denken konnte, war sie bereit für ihn, wollte ihn spüren, mit ihm Zärtlichkeiten austauschen. Dabei kümmerte sie sich nicht um Konventionen und Pflichten, um Ehre und Aufbewahren. Ihre Jungfräulichkeit hatte sie bereits mit sechzehn verloren. An Jiří Wörterbuch, wie Milena den zwei Jahre älteren Jungen damals genannt hatte, der pausenlos plapperte und sie mit seinem Wissen beeindrucken wollte. Und als es dann passierte, schwieg er endlich. Ohne ihn hätte sie die Matura nicht bestanden. Aus Liebe zu ihr versteckte er sich im Lichtschacht der Schule, kritzelte die Lösungen der schwierigsten Fragen auf kleine Zettel und fädelte sie ihr über einen Zwirn zu. Dass Ernst Pollak kein Tscheche, sondern ein deutscher Jude war, war ihr gleichgültig. Er machte sich ebenfalls nichts aus seiner Religion. Er verkörperte für sie Freiheit und Selbstbestimmung, ein Leben jenseits der bürgerlichen Moral. Ihr Vater durfte allerdings nichts davon erfahren, alle Deutschen, nicht nur Juden, waren ihm ein Dorn im Auge. Wen Milena liebte, wo und wann, das wollte sie selbst bestimmen. Trotzdem behielt sie die Beziehung zu Ernst Pollak vorerst lieber für sich.