2. Kapitel

AMARYLLIS

Wie hatte Milena bisher ohne ihn leben, wie atmen, essen, schlafen können? Wie hatte sie überhaupt jemals geglaubt zu wissen, was Liebe ist? Ernst nahm sich Zeit, erwartete nichts von ihr, auch als sie sich bald regelmäßig trafen. Er ging nie weiter. Als er sie zu sich einlud, in seine Einzimmerwohnung am Nationaltheater, zeigte er ihr tatsächlich nur die Bücher wie angekündigt, ohne Hintergedanken. Darunter viele Manuskripte und Briefe, die er von bekannten und angehenden Schriftstellern aus ganz Europa erhielt.

»Ich unterstütze Autoren und bin so ein Teil des Wunders.« Er zeigte auf die Stapel aus Büchern und Papieren vor dem Regal.

»Welches Wunder?« Sie wich ihm nicht von der Seite, begann, ihm langsam das Hemd aus der Hose zu ziehen, und knöpfte es auf.

Er ließ es geschehen, als wäre sie seine Mutter, die ihn zur Nacht auskleidete. »Das Wunder, dass man aus Buchstaben Geschichten erschaffen kann. Man fühlt mit den Figuren mit, stärker oft als mit den Schicksalen der engsten Verwandten. Manchmal taucht man auch so tief in eine Geschichte ein, dass man die Wirklichkeit um sich herum vergisst. Schriftsteller sind für mich die Zauberer der Zeit.« Seine kleinen Augen weiteten sich. Manchen Autoren schickte er Geld, aber hauptsächlich war er ihr Mentor. Er hörte zu, gab Anregungen oder Anstöße, in andere Richtungen zu denken, wenn sie sich festgeschrieben hatten und nicht weiterwussten. »Dabei fällt für mich jede Menge ab«, erklärte er ihr mit großer Geste. »All die Zeichen und Hinweise sammle ich für die magische Formel. Eines Tages werde ich sie aufschreiben und ein Buch darüber verfassen. Ein Buch über das Buchschreiben. Darin werde ich erklären, wie ein Roman oder eine Erzählung entsteht. Ich werde das Geheimnis lüften, wie man Ideen findet, Einfälle sortiert und welche Sprache man für welche Art von Geschichte am besten verwenden soll. Das wird die Sensation. Zum ersten Mal wird man erfahren, wodurch sich die Gedanken eines Fremden im eigenen Kopf zu einer Geschichte fügen.«

Der Plan gefiel Milena. Bisher hatte sie sich noch nicht überlegt, warum und wozu sie etwas aufschrieb, wenn sie schrieb. Es machte ihr Spaß, und es passierte einfach, war mal gut oder schlecht und meistens las sie es nie wieder. Aber oft umkringelte sie Einfälle darin, die auch beim Wiederlesen noch Bestand hatten. So freute sie sich über die Ansammlung an Heften und Notizbüchern in ihrem Regal, die ständig weiterwuchs. Wozu sie das Schreiben eines Tages bringen würde, wusste sie noch nicht, auch wenn es schon jetzt ein Ventil für sie war, um ihre Gedanken und Erlebnisse zu sortieren. Ernst brannte für die Literatur und sie liebte ihn dafür. Sie wollte ihn umarmen, ihn mit Küssen bedecken, ihn nackt sehen, berühren und überall spüren.

»Und wodurch geschieht das?« Sie strengte sich an mit der deutschen Sprache. »Also, ich meine, dass aus fremden Gedanken eine Geschichte im Kopf entsteht?« Gleichzeitig streifte sie ihr Kleid über die Schultern, ließ es zu Boden fallen und stieg darüber. Nun stand sie im Unterkleid vor ihm.

Ernst sah sie an und sah mehr durch sie hindurch, dann zuckte er mit den Schultern. »Das muss ich noch herausfinden, insgeheim weiß ich es, aber ich kann es noch nicht greifen oder besser gesagt niederschreiben. Nur so viel weiß ich schon mit Sicherheit: Es braucht einen Auslöser, ein Ereignis, das den Charakter der Figur beeinflusst.«

»Charakter.« Milena sprach das Wort nach, nahm seine Hand, legte sie sich ins Gesicht, schob sie dann weiter den Hals hinab bis in ihren Ausschnitt.

Seine Augen zuckten kurz, aber er ließ seine Hand dort liegen, als hätte er einen Platz zum Ausruhen gefunden, und sprach weiter. »Alles, was dann an Handlung geschieht, kann durch Überarbeitung geschliffen werden, wie Kieselsteine in einem Bachbett.«

»Kieselsteine?« Sie lenkte seine Finger weiter. Endlich umkreisten sie ihre Brustwarzen. Milena drängte sich dichter an ihn, wollte, dass er weitermachte und nicht mehr aufhörte. Doch er fing wieder zu sprechen an, und wenn er sprach, unterbrach er sein Streicheln. »Manches wird dennoch, auch wenn es gedruckt ist, eine nichtssagende Buchstabensammlung sein, egal, wie viele Wortdoppelungen man austauscht oder wie viele Metaphern man einfügt. Andere Romane und Gedichte werden unvergesslich bleiben, sich im Herzen der Leser, gleich welcher Nation oder Religion sie angehören, einnisten und wie eine persönliche Erfahrung und Teil ihres Lebens werden.«

Das war schön gesagt, sie stimmte ihm zu. »Ich finde, so ähnlich ist es mit traurigen Erinnerungen. Die wälzt man auch immer und immer wieder im Gedächtnis herum, bis sie sich einpassen und einigermaßen erträglich sind. Angenehme Erlebnisse bauscht man auf, bis sie alles überstrahlen und man so zum Helden seines eigenen Lebens wird.«

»Oh, das ist gut, das muss ich mir notieren.« Er holte einen Zettel und suchte einen Stift. »Willst du etwa auch schreiben?«

»Vielleicht.« Sie lenkte ihn zum Bett, kleidete ihn und sich weiter aus. Es raschelte, als sie ihn ins Kissen drückte.

»Vorsicht, ich weiß nicht, ob es davon schon eine Kopie gibt.« Ernst rettete ein paar Blätter mit Schreibmaschinenzeilen. Er musste darauf geschlafen haben.

»Ist das von dir?«

»Nein, schön wäre es.« Er setzte sich auf, glättete die Bögen über seinem nackten Oberschenkel, als wäre er eine Kante, und legte sie in eine blau marmorierte Mappe, die mit F. K. beschriftet war. »Die Geschichte hat mir Max Brod gegeben, sie stammt von seinem Kollegen, der bei einer Versicherung arbeitet.«

»Ein Versicherungsfall?«

Ernst lachte. »Eher nicht. Es ist ganz eigenwillig geschrieben, ich kann es noch nicht einordnen. Dieser Franz Kafka schreibt in seiner Freizeit, hat sogar schon etwas in einem deutschen Verlag veröffentlicht, sagt Max. Er klang so begeistert von ihm, sprach von neuartiger Erzählkunst, dass ich äußerst skeptisch zu lesen anfing. Und dann konnte ich nicht mehr aufhören, obwohl ich eigentlich nichts mit den Figuren und dem Inhalt zu tun haben will. Es ist schaurig und auch abstoßend. Doch zugleich klebte ich an den Zeilen und konnte nicht weg. Mich würde interessieren, was Kafka zu der Geschichte inspiriert hat. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihn kennenlerne. Max will ihn demnächst mitbringen.« Er schlug noch mal die Mappe auf und zog das erste Blatt heraus.

»Mitbringen, wohin?«

»Die Verwandlung«, Milena las die deutsche Überschrift.

»Ins Arco. Aber du hast recht, möglicherweise sollte man sich gegen solche Geschichten wirklich versichern. Oder eine Warnung an den Leser auf die Titelseite schreiben. Vorsicht, nichts für Zartbesaitete. Bist du zartbesaitet?«

»Finde es heraus.« Sie streichelte ihn wieder.

Doch er wollte lieber vorlesen. »Für mich ist das, was Kafka kann, mehr als bloßes Schreiben, das ist Einbläuen, kein vorsichtiges Herantasten durch Worte. Er brennt dem Leser die Sätze in die Seele.« Und er fing an: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte.« Ernst hielt inne und schaute sie an. »Merkst du, welche Kraft in diesem Anfang steckt?« Wer verdammt noch mal war dieser Kafka, dass er ihr solch eine Konkurrenz machte? Milena legte die Hand in seinen Schritt und spürte es.

Außerhalb seiner Wohnung trafen sie sich im Arco, in Ernst Pollaks Stammlokal. Dort stellte er sie seinen Freunden, den Literaten, vor. In Prag gab es fast für jeden Beruf ein Kaffeehaus. Eines für Börsenmakler, eines für Spediteure und auch eines für die Theaterleute. Das hatten Milena und ihre Freundinnen bereits auf ihren Nachmittagstouren herausgefunden, wenn sie auf der Suche nach Aufregung von der tschechischen Seite zum deutschen Graben wechselten. Einmal machten sie gleich wieder kehrt, als sie am Tresen eine Gruppe schwitzender Kerle erblickten, die sie laut grölend hereinwinkten, durch die Zähne pfiffen und ein paar Stühle zwischen sich freiräumten.

»Puh, Glück gehabt, wer weiß, ob wir heil wieder herausgekommen wären«, sagte Jarmila, als sie eine Straße weiter zurückblickten, ob die Männer ihnen gefolgt waren.

Dass Milena nun ein anerkanntes Mitglied des berühmten Prager Literaturkreises zu werden schien, konnte sie noch immer kaum glauben. Im Arco, einem eleganten Etablissement mit großen Spiegeln, verkehrten hauptsächlich deutsche Juden, die der Krieg noch verschont hatte, Literaten wie Pollak. Jeder Stammgast, der durch die Tür trat, wurde mit seiner Leidenschaft angesprochen, als sei sie ein eingetragener Beruf.

»Habe die Ehre, Herr Kritiker«, begrüßte der Oberkellner Poschta Milenas Liebsten mit einer Verbeugung. Manche saßen von mittags bis spätnachts unter den großen Zuglampen, deren Fransen aus Glas bei jedem Luftzug klimperten. Bequeme Lehnstühle gruppierten sich um die Tische. Man konnte sich sogar anrufen lassen, der Kellner trug dann einen Telefonapparat heran, wovon Ernst oft Gebrauch machte. Im Arco wurde geschrieben, geredet und gestritten. Oft verglich man die Papierwelt der Bücher und Zeitungen mit der wirklichen, die den Krieg hervorgebracht hatte, und empörte sich. Die Kaffeehausbesucher weinten, flehten, schimpften auf und über das Leben. Sie saßen nicht hier, weil sie keine heizbare Wohnung besaßen oder nichts zu essen fanden, sie suchten nach einer Möglichkeit zu vergessen, ihre Sorgen und Zukunftsängste, und fanden hier einen Ruhepol inmitten der umtriebigen Stadt. Zusammen mit ihren Hüten hängten sie ihr privates Ich an die Garderobe gleich neben dem Eingang, und wurden für den Rest des Tages zu Künstlern. Aber das Kaffeehaus war auch Gemeinschaft, hier entkam man der Einsamkeit, tauchte ein Gast zwei Tage nicht auf, munkelte man schon, wo er steckte. Den Spitznamen Arconauten hatte ihnen der Wiener Satiriker Karl Kraus gegeben, der in seiner Zeitschrift »Die Fackel« über die Prager Gruppe um Ernst Pollak lästerte. Doch sie fassten es als Ehrung auf, dass man sogar in Wien und durch die weltweite Verbreitung der »Fackel« darüber hinaus von ihnen sprach. Die meisten Arconauten lebten wie er nicht vom Schreiben. Sie legten ihren Brotberuf so, dass sie nachmittags an ihren Werken arbeiten konnten, oder gingen ins Kaffeehaus, um in den ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, wie auch Milena es tat. Das Arco rühmte sich, die größte Auswahl von ganz Prag anzubieten, sogar englischsprachige, italienische oder sogar französische Druckerzeugnisse lagen aus. Die Gäste kostete das kaum mehr als einen Mokka oder einen Verlängerten. Milena vertiefte sich in das breite Angebot aus Kunst und Literatur, las amerikanische Kurzgeschichten und französische Gedichte und setzte sich mit dem Expressionismus auseinander. Endlich wagten es die Künstler zu zeigen, was in ihnen vorging, und hatten offenbar eine Ausdrucksform gefunden, die es auch transportierte. Kräftige Farben, starke Konturen. Trotzdem staunte sie, als eine Kunstzeitschrift »Das schwarze Quadrat« zeigte, das ein Russe namens Malewitsch gemalt hatte. Ein völlig schwarzes Bild, Milena hielt die Abbildung zuerst für einen Fehldruck. Aber der Zeitungskritiker schwelgte in dieser eckigen Finsternis und glaubte darin mehr zu entdecken als in der »Alexanderschlacht«, einem Monumentalgemälde aus dem Mittelalter, das in Deutschland hing. Aber auch in den Modemagazinen blätterte sie, wusste bald besser über gewagte Kleiderschnitte und Frisuren Bescheid als ihre Freundinnen. Darüber hinaus erhielt sie einen warmen Platz in weichen Plüschsesseln und Gesellschaft, sofern sie sie suchte. Felix Weltsch arbeitete vormittags als Bibliothekar in der Prager Universität und schrieb für tschechische und österreichische Zeitungen zugleich. František Langer, der wie Milena Tscheche war, aber bedeutend besser Deutsch beherrschte als sie, verfasste Theaterstücke, Jugendbücher und Romane in beiden Sprachen. Tagsüber diente er als Militärarzt und saß darum in Uniform im Arco. An Ernsts Seite respektierte man Milena, hörte ihr zu, nicht nur, um ihre Meinung zu Frauenthemen zu hören. Das verstärkte ihr Glück. So schnell wie möglich musste sie ihre Freundinnen mit herbringen. Auch dass sie Herrn Max Brod kennengelernt hatte, den berühmten Autor, mussten sie erfahren. Er war Beamter und zugleich Romancier, Dramatiker und Kritiker. Seine Werke fanden auch außerhalb des Kaiserreichs große Resonanz und sorgten für Gesprächsstoff. Seiner Großzügigkeit verdankte Milena ihre erste Begegnung mit Ernst. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig, nur wenig älter als ihren Liebsten. Konzentriert durch seinen schmalen Augenzwicker blickend, half ihr Herr Brod häufig über ihre schlechte deutsche Aussprache hinweg, oder wenn sie wieder einmal nach dem richtigen Wort suchte. Er hatte ihr sogar sein neuestes Buch geschenkt: »Die Höhe des Gefühls«, ein Drama in Szenen und Versen, mit einer persönlichen Widmung. Nur Franz Kafka, der Ernst die Geschichte von der Verwandlung überlassen hatte, war sie bisher noch nicht begegnet. Max Brod war sogar seit seinem Studium mit ihm befreundet, brachte ihn aber nie mit und schürte damit die Neugier auf diesen großen Unbekannten umso mehr. Wahrscheinlich sah dieser Kafka selbst wie eine Wanze aus, dachte Milena. Er scheute einfach das Licht, und sei es auch noch so schummrig wie das im Arco.

Staša und Jarmila wirkten anfangs nicht sonderlich begeistert, als sie ihnen von den Arconauten berichtete. Nach einigen Wochen, in denen sie die beiden nur kurz gegrüßt hatte, wenn sie sich zufällig auf den Gängen der Universität über den Weg gelaufen waren, trafen sie sich zum Essen in der Mensa.

»Schön, dass du dich plötzlich wieder an uns erinnerst. Kaffee trinken mit fremden Kerlen scheint dir offenbar wichtiger zu sein, als mit uns zusammen zu sein?« Jarmila schmollte sogar.

»Entschuldigt«, fing Milena an, »ich wollte euch schon viel eher treffen, aber …«

»Sind wir dem Fräulein Musikstudentin nicht mehr fein genug?«, fiel ihr Staša ins Wort. »Sag nicht, dass es an den Stundenplänen liegt.« Sie studierte Psychologie und Philosophie und Jarmila hielt mit Medizin weiter durch, auch nachdem Milena zur Musik gewechselt war.

»Unsinn, ich wollte es euch schon längst sagen, aber dann war so viel los und ich …«, sie holte Luft, »also, ich habe mich verliebt.« In Wahrheit hatte sie jede freie Minute mit Ernst verbracht, ohne irgendjemand anderen an ihrer Seite überhaupt zu bemerken. Er war der Mann ihrer Träume, an seiner Seite würde sie ein freies Leben führen können, glaubte sie. »Kommt, seid gnädig und seht es mir nach. Ich bin ja wieder hier oder besser gesagt, wir drei sind wieder zusammen.«

»Verliebt? Wie? Du meinst so richtig?« Staša riss die Augen auf. »Erzähl, wir sind ganz Ohr.«

»Aber alles, lass ja nichts aus.« Die Neugier stimmte auch Jarmila milder.

Und Milena erzählte, angefangen von dem Abend im Ständetheater bis zu den Besuchen im Literatenkreis und der Zweisamkeit in seinem Zimmer. Dabei vergaßen die drei den Lärm ringsum, das Tellerklappern und Geschrei und auch zu essen. Es gab sowieso nur Steckrübensuppe und Brot wie jeden Tag seit Kriegsbeginn. »Habt ihr Lust, mal mit zu den Arconauten zu gehen?«, leitete sie von den allzu intimen Fragen über, die besonders Staša, die zwei Jahre jünger als Jarmila und sie war, brennend interessierte.

»Selbstverständlich, deinen ernsten Ernst wollen wir uns doch nicht entgehen lassen. Mal sehen, ob er unserer Prüfung standhält.« Jarmila lachte.

»Wie wäre es, wenn wir uns etwas Besonderes überlegen«, schlug Milena vor. »Die eingeschworene Herrenrunde könnte ein wenig Auflockerung vertragen.« Sie beratschlagten eine Weile und entschieden sich für eine Hommage an ihr Idol, die große Barfußtänzerin Isadora Duncan. Für diesen Anlass wollte Milena für Staša, Jarmila und sich extra wallende Gewänder anfertigen lassen. Gleich am nächsten freien Nachmittag suchten sie gemeinsam eine der bekanntesten Prager Schneidereien auf. Zuerst konnte Herr Kučera, der schon lange für die Familie Jesenský nähte, mit der Beschreibung, die sie abgaben, nichts anfangen. Zudem fielen sich die drei ständig gegenseitig ins Wort. Der Schneider hörte zu, kniff mehr und mehr die Augen zusammen, als könnte er auf diese Weise eine Aussage herausfiltern. Milena breitete Fotografien von Isadora Duncan auf dem Tisch aus, die sie aus Illustrierten ausgeschnitten und gesammelt hatte.

»Aha, ich verstehe, Fräulein Jesenská«, Kučera atmete auf, »Sie wollen sich als Römerin maskieren?«

»Ich hoffe nicht, dass wir hinterher wie verkleidet aussehen«, erwiderte sie.

»Nein, nein, keinesfalls, so meinte ich das auch nicht, aber mein erster Eindruck von diesen Aufnahmen ist …«, er räusperte sich, »wenn Sie erlauben … für solch junge, wohlgestaltete Damen, wie Sie es sind, wirkt diese Kleidung ein wenig … wie soll ich sagen … antik.«

»Im Gegenteil, Herr Kučera, das ist hochmodern und wird sich auch in Prag durchsetzen, sobald wir es tragen. Das Kleid ist nicht römisch, sondern entspricht dem griechischen Schönheitsideal. Die Frage für uns ist eher, ob Sie so etwas anfertigen können?«

Staša und Jarmila kicherten.

»Nun gut.« Von Milenas Überheblichkeit wenig beeindruckt, klemmte sich der Schneider ein Monokel ins Auge, hob einen Zeitungsausschnitt auf und hielt ihn dicht vor die Nase. Anschließend vertiefte er sich wieder in die Vorlagen. »Wenn mir die Damen bitte helfen. Ich weiß gar nicht, wo ich bei der Büste einen Abnäher oder eine Nahtzugabe machen soll?«

»Das ist das Entscheidende.« Wie Miss Duncan war Milena der Meinung, dass der weibliche Körper die gleiche Freiheit genießen sollte wie der revolutionäre Geist und sich nicht mehr einschnüren musste. Nicht nur in den Schützengräben, überall auf der Welt brodelte es. In London, in Paris, in New York, aber auch auf dem Land stiegen die Frauen für ihre Rechte auf die Barrikaden, und Milena war mittendrin. Sie kämpfte für sich und ihre Mitschwestern und vielleicht auch für ihre Tochter, sollte sie eines Tages eine bekommen. Sie und keiner sollte mehr ein Mensch zweiter Klasse sein. In Finnland durften sie schon seit 1906 wählen, hatte ihnen Fräulein Honzáková, ihre geliebte Lehrerin im »Minerva«, damals freudig erklärt. Seit zehn Jahren also schon, es wurde Zeit, dass es auch in ihrer Heimat wahr wurde. Obwohl der Krieg die weltweite Solidarität wieder gespalten hatte, dauerte es bestimmt nicht mehr lange und all die Sitzstreiks und Gefängnisstrafen der Suffragetten, wie die Kämpferinnen für Gleichberechtigung hießen, würden nicht umsonst gewesen sein. »Keine Abnäher, Herr Kučera, und wir werden auch kein Korsett unter den Kleidern tragen. Wir brauchen lediglich ein paar goldene Schnüre um den Busen und die Taille, dafür aber sehr viel Stoff zum Drapieren, um nirgendwo eingeengt zu sein.«

»Das lässt sich einrichten.« Seinem Gesichtsausdruck nach wirkte der Meister nicht völlig überzeugt, doch ganz Geschäftsmann und Handwerker zugleich, fügte er sich. »Offene Schultern, ärmellos, ohne Kragen, Wasserfallausschnitt, bodenlang mit Borte im Saum. Das verlangt nach mehreren Bahnen Stoff, wenn ich das richtig sehe.«

»Ist das ein Problem?«

»Normalerweise nicht, aber in diesen Zeiten wird jedes Fitzelchen Stoff gebraucht, um Uniformen oder warme Unterwäsche daraus zu machen, doch mir fällt etwas ein. Wenn die Damen bitte einen Moment Platz nehmen.« Kučera verschwand im Nebenraum.

»Er hat recht, vielleicht ist es doch zu gewagt«, sagte Jarmila leise.

»Er hat doch nichts von gewagt gesagt, sondern dass es unvorteilhaft für uns wäre«, erklärte Milena. »Aber seht euch mal um, wie rückständig die Modelle noch sind.« Sie zeigte auf die Kleiderpuppen. »Hochgeschlossene Kragen und Wespentaille? Oder diese ausgepolsterten Hinterteile, als wären wir Gänse. So etwas trägt höchstens noch die Frau Ministerialrätin und ihre Großmutter. Das sind doch nicht wir.«

Staša gluckste. »Mein Vater lässt mich sofort in eine Zwangsjacke stecken und zu den Irren sperren, wenn er mich in dem neuen Kleid auf der Straße sieht.«

»Willst du einen Rückzieher machen? Das haben wir doch alles schon besprochen.« Milena verdrehte die Augen. »Und von welchen Irren redest du, dein Vater ist doch Kinderarzt?« Ihrer und Milenas Vater waren nicht nur Arztkollegen, sie kannten sich auch privat.

»Er arbeitet seit Neuestem in Weleslawin«, erklärte Staša.

»Im Schloss?«, fragte Milena.

»Das ist doch ein Sanatorium für Lungenkranke«, sagte Jarmila.

Staša nickte. »Aber dort gibt es auch eine geheime Abteilung für Geisteskranke, mit der droht uns Vater ständig, wenn wir ungehorsam sind.« Sie war die älteste von fünf Töchtern. »Wenn rauskommt, dass ich als Griechin verkleidet vor fremden Männern tanze, wird Vater mir den Umgang mit euch verbieten, aber eigentlich …«, sie sprang auf, »braucht ihr mich, denn ich bin die beste Duncan von uns, was wäre das sonst für ein jämmerlicher Auftritt.« Und sie drehte sich mit erhobenen Armen um die eigene Achse.

Jarmila lachte. »Du ähnelst eher einer Tänzerin auf einer Spieluhr, wir wollen uns frei bewegen und wenn, dann Sirenen darstellen. Die, vor denen sich Odysseus an den Mast seines Schiffes hat binden lassen, damit er ihnen nicht verfällt. Ich glaube, das müssen wir noch üben, sonst lässt sich keiner von uns bezirzen. Sagt mal, wo bleibt eigentlich der Schneidermeister? Ist er geflohen?«

Wie gerufen kehrte Kučera endlich zurück und rollte einen quietschenden Wagen mit mehreren Stoffballen herein. Behutsam legte er einen nach dem anderen auf den Tisch. »Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat.« Er tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. In seinen Haaren hingen Spinnweben. »Aber ich musste erst das halbe Lager umräumen, bis ich das Gesuchte fand.« Mit geschickten Handgriffen wickelte er vom ersten, einem violetten Stoff, der herrlich blau und rot schillerte, einige Meter ab und breitete ihn aus. »Fühlen Sie mal«, forderte er sie auf. Milena hielt eine Hand unter die Stoffkante, ihre Haut lugte durch das feine Gewebe. Sie strich darüber.

»Was sagen Sie?« Herrn Kučeras Augen glänzten, als enthüllte er einen Goldschatz.

»Fühlt sich kühl und gleichzeitig geschmeidig an, wie das Fell einer Katze.«

Er nickte. »Und schauen Sie, wie der fällt. Darf ich?«

Milena nickte. Herr Kučera raffte den Stoff und legte ihn ihr um die Schultern. »Was ist das für ein Material?«, fragte sie. Auch Jarmila und Staša strichen über den Stoff und wirkten begeistert.

»Feinster französischer Batist«, erklärte er, »Leinen, Baumwolle und Seide zusammen verwebt und eingefärbt. Ich habe mehrere Farben eingekauft, aber bisher nie Verwendung dafür gefunden. In Prag sind immer noch gedeckte Farben und Zurückhaltung angesagt. Zu meinem Leidwesen bevorzugen die meisten Grau, Braun, Blau und Schwarz. Außerdem kann man Batist nur für Abendgarderobe verwenden, für Uniformen ist er völlig ungeeignet. Damit würde jedem Soldaten das Hemd aus der Hose rutschen.«

»Also perfekt für uns«, sagte Milena. Wieder glucksten die Freundinnen. »Eigentlich wollten wir alle ein weißes Kleid wie Miss Duncan, aber jetzt, wo wir die Auswahl haben, nehmen wir …« Sie zögerte einen Moment, zog Jarmila und Staša ans Fenster, um außer Hörweite des Schneiders mit ihnen zu verhandeln. »Was haltet ihr von den Farben der Frauenbewegung?«

»Welche sind das?«, fragte Staša.

»Na, Violett, Grün und Weiß. Die englischen Suffragetten tragen sie als Schleifen im Kampf fürs Stimmrecht. Violett steht für die Würde, Weiß für die Unschuld und Grün für die Hoffnung, dass wir Frauen wirklich eines Tages die Hälfte der Welt erhalten, die uns zusteht. Also genau das Richtige für unseren Auftritt.«

»Als gestreifte Schleifen mag es ja gehen, aber beißt sich das nicht zusammen in einem Kleid?«, warf Jarmila in die Runde.

»Ich meinte ja auch nicht in einem Kleid, jede wählt eine Farbe und zu dritt symbolisieren wir dann die Gleichberechtigung.«

»Du bist genial, Milena.« Staša umarmte sie.

»Also wer will welche Farbe?« Milena strahlte.

Staša und Jarmila überlegten. Aus dem Augenwinkel bemerkte Milena, wie der Schneider die Uhr aus seiner Westentasche zog und sie aufklappte.

»Wirklich noch unschuldig ist doch keine von uns«, flüsterte Jarmila. »Aber wenn schon Weiß, dann für dich, Staša. Falls dein Vater nachfragt, hast du dich wenigstens in Unschuld gehüllt.«

»Ich dachte schon, du betonst schon wieder, was für ein Küken ich bin.« Sie wirkte erleichtert. »Mir gefällt Weiß sowieso am besten.«

»Und ich würde gerne in meiner Lieblingsfarbe die Würde vertreten«, schlug Jarmila vor.

»Gern. Violett zu deinen dunklen Haaren, das sieht bestimmt wunderbar aus. Dann nehme ich die Hoffnung, von der kann man nie genug verbreiten.« Milena stimmte zu und sie teilte ihre Entscheidungen Herrn Kučera mit.

Nun konnte er Maß nehmen. Anschließend zog er mehrere Schubladen auf und zeigte ihnen kunstvoll bestickte Bänder, mit denen sie die Kleider in Form bringen und ihre Figur an den richtigen Stellen betonen wollten. Staša wählte ein Band mit Blattranken, Jarmila eines mit dem Muster des laufenden Hundes und Milena entschied sich für eine stilisierte Amaryllis.