3. Kapitel

MOHN

Als sie ihre ausgefallenen Tuniken nach der dritten Anprobe abholten, bezahlte Milena wie üblich mit einem Wechsel ihres Vaters. Er gewährte ihr Zugriff zu seinem Bankkonto und freie Hand, solange sie das Geld für sinnvolle Dinge ausgab. Angemessene Kleidung gehörte für ihn bestimmt dazu, dachte Milena. Jan Jesenský stammte aus ärmlichen Verhältnissen und hatte sich zum stadtbekannten Professor für Kieferchirurgie hochgearbeitet. Einst spielte er nicht nur Geige in Nachtlokalen, um sein Studium zu finanzieren, er arbeitete sogar als Kofferträger auf dem Prager Bahnhof. Heute sollte jeder sehen, was er erreicht hatte, deshalb legte er allergrößten Wert auf sein Äußeres. Ihr Vater besaß handbestickte Socken mit seinen Initialen und bald mehr Schuhe als Bücher, und das sollte etwas heißen in einem Arzthaushalt. »Wenn mein Vater nachfragt, sagen Sie ihm bitte, dass es sich um eine Abendveranstaltung meiner Universität handelt, bei dem ich als Hypatia auftrete.« Sie und ihre Freundinnen hatten sich bereits wieder umgezogen.

»Ich verstehe nicht, gnädiges Fräulein?«

»Das war eine griechische Philosophin«, erklärte sie. »Vielleicht schreiben Sie es sich besser auf?«

Hastig notierte der Schneider Hüpat …, hielt dann inne. »Mit Ypsilon und hinten mit i und a«, sagte sie. »Und bitte sagen Sie ihm auch, dass es sich dabei um nur ein Kleid handelt, ein sehr aufwendiges.« Sie gab Herrn Kučera einige Kronen Trinkgeld in bar.

»Wohin darf ich die Kleider morgen bringen lassen?«

»Alle zu mir, in die Obstgasse siebzehn, fünfter Stock, wie üblich. Vielleicht können Sie sie übereinander auf einen Bügel hängen, dass man meint, es sei nur eines mit mehreren Unterröcken? Und bitte liefern Sie vor zwölf Uhr, das ist wichtig.« Vormittags war sie sicher, dass ihr Vater nicht zu Hause war. Er hielt Vorlesungen in der Universität, erst nach dem Mittagsmahl stand er für seine Patienten in seiner Praxis im Erdgeschoss bereit.

»Selbstverständlich.« Herr Kučera notierte sich alles und schob die Extrascheine in die Weste.

Die fließenden Bewegungen der Miss Duncan hatten sie bereits dreimal im Kino studiert, aber nun wollten sie den sinfonischen Ausdruckstanz in der passenden Ausstattung einüben. An einem Abend, an dem sie sich ungestört wähnten, trafen sie sich bei Milena. Die Dienstboten hatten Ausgang und ihr Vater besuchte Agneta, seine langjährige Geliebte am anderen Ende der Stadt. Die gesamte Wohnung gehörte ihnen. Schon das Umkleiden und Frisieren in Milenas Ankleidezimmer war ein Vergnügen.

»Die moderne Frau trägt keine Hochsteckfrisuren oder enganliegende Zöpfe mehr, auch das Haar darf atmen.« Milena zeigte ihnen ein paar der internationalen Zeitschriften, die sie sich nach der Recherche im Arco gekauft hatte. Jarmilas dunkle Mähne, Milenas helle Locken und Stašas kastanienbraunes Glanzhaar flossen ihnen bald in sanften Wellen über den halbnackten Rücken. Sie begutachteten sich gegenseitig in Milenas Poudreuse. Einem Spiegeltischchen, das ihre Mutter noch mit Brandmalerei verziert hatte. Als sie endlich mit ihren Erscheinungen zufrieden waren, lotste Milena die Freundinnen in den Salon, legte eine Schellackplatte auf das Grammophon und kurbelte an dem Gerät. Als die ersten Klaviertöne erklangen, versuchten sie die geschmeidigen Bewegungen der Miss Duncan auf dem Salonteppich zu imitieren. Barfuß natürlich, aber trotzdem war es gar nicht so leicht. Zuschauen und nachmachen waren nicht das Gleiche, stellten sie fest. Ständig mussten sie sich korrigieren.

»Puh, ich glaube, das ist es noch nicht.« Erschöpft warf sich Jarmila auf die Ottomane und streckte die nackten Beine aus. »Wir müssen lockerer werden, bei der Isadora Duncan schaut das so einfach aus.« Sie wackelte mit den Zehen.

Schwitzend warf sich Staša neben sie, trank ein Glas Apfelsaft in einem Zug leer. »Du hast recht, unser Gehopse schaut noch viel zu verkrampft aus. Wir brauchen richtigen Unterricht, bei einer echten Tänzerin. Allein kriegen wir das nie hin. Milena, du hast doch Beziehungen zum Theater, warst du nicht einmal bei dieser Soubrette? Wie hieß die noch gleich?«

»Erinnere mich bloß nicht daran.« Milena nahm den Tonarm von der Platte, unterbrach das knackende Geräusch und sank ebenfalls in einen Sessel. »Den Namen von der nehme ich nie mehr in den Mund.« Im Gymnasium hatten sie alle für eine bestimmte Sängerin geschwärmt. Stellvertretend für die ganze Klasse hatte die fünfzehnjährige Milena nach einer Premiere all ihren Mut zusammengenommen und mit einem selbstgepflückten Blumenstrauß an ihrer Garderobe geklopft. Leider fasste die Diva, die aus der Nähe, ohne Perücke und Augenbrauen, wie der Tod persönlich aussah, auch Milena als Geschenk auf und versuchte, sie zu küssen.

»Fürs Erste würde schon etwas anderes zu trinken helfen.« Jarmila wedelte mit ihrem Saftglas. »Habt ihr nichts Stärkeres im Haus?«

»Schon«, sagte Milena, »aber mein Vater kontrolliert seine Vorräte.«

»Wir könnten das bisschen, das wir trinken, mit Wasser strecken, dann merkt er nichts. Aber ich will dich zu nichts verleiten«, Jarmila spitzte die Lippen, »ich wusste nicht, dass du auf einmal so brav geworden bist.«

»Von wegen.« Milena grinste. »Aber Alkohol macht uns bloß müde, und wir wollen doch diesen verflixten Tanz beherrschen. Ich weiß etwas Besseres.« Sie rappelte sich hoch und holte den Schlüsselbund zu Vaters Praxis. Dann stiegen sie die zwei Stockwerke nach unten, vorbei an den Marmorwänden und dem »Meeresrauschen«, einem Wandmosaik, das Milenas verstorbener Onkel vor dem Eingang zur Praxis gestaltet hatte. Im Sprechzimmer probierten Jarmila und Staša den Zahnarztstuhl aus, senkten sich per Hebel gegenseitig hinauf und hinunter. Sie ahnten nicht, welche Patienten bereits auf diesem Stuhl gelegen und gelitten hatten, dachte Milena und sperrte den Medikamentenschrank auf. Doktor Jesenskýs Heiligtum. Die meisten Fläschchen waren beschriftet. Aspirin, Morphin und Veronal zur Linderung je nach Schmerzgrad. Veronal hatte Vater ihr fast jeden Monat verabreicht, als sie die ersten Jahre ihrer Menstruation an starken Bauchkrämpfen litt. Zum Glück hatte sich das seither gebessert. Dahinter fand Milena das Gesuchte, ein kleines Fläschchen Laudanum. Schon Goethe wusste den Saft der Mohnblume zu schätzen, hatte sie in einer Biographie über ihn gelesen. Sie machte es so wie Vater und träufelte je zwei Tropfen Laudanum auf ein Stück Zucker, legte es ihren ohnehin schon sehr aufgedrehten Freundinnen und anschließend sich selbst auf die Zunge. »Und jetzt langsam zergehen lassen«, forderte sie die beiden auf und spürte, wie die Süße in ihrem eigenen Mund zerfloss.

»So wenig bloß? Das kann doch gar nicht wirken.« Staša zerbiss den Zucker. »Also ich merke jedenfalls noch nichts, schmeckt nicht mal richtig nach Medizin.«

»Hab doch Geduld. Mehr dürfen wir auf keinen Fall nehmen. Wir wollen doch unseren Tanz in Schwung bringen und nicht einschlafen.«

Jarmila nickte. »Milena hat recht, zu viel davon und du wachst nie mehr auf. So schnell wirkt das nicht, das Zeug muss sich erst in deiner Blutbahn verteilen«, sprach die Medizinstudentin in ihr. Die beiden blieben dicht aneinandergeschmiegt auf dem Zahnarztstuhl wie zwei Löffel liegen und warteten auf die Wirkung. Milena setzte sich auf Vaters fahrbaren Hocker, schwang sich mit den Beinen durch die Praxis.

»Gibt’s hier wenigstens Musik?«, fragte Staša. Milena rollte zum großen Radioapparat, der über dem Labortisch auf einem Regal stand. Dabei verlor sie die Kontrolle über den Hocker und knallte an die Tischbeine.

Es klirrte, die Glasgefäße gerieten durcheinander.

Staša fing zu kichern an und konnte gar nicht mehr aufhören. War sie schon berauscht?

Milena begutachtete den Schaden. Ein Kolben hatte einen Sprung und zerbrach, als sie ihn wieder aufstellen wollte. Vorsichtig wickelte sie die Scherben in ein Tuch, musste aufpassen, dass sie sich nicht schnitt. »Lasst uns besser nach oben gehen und dort weiterüben, bevor hier noch mehr geschieht.« Sie würde das Malheur morgen auf dem Weg zum Konservatorium entsorgen und beten, dass Vater keine Spuren fand. Hoffentlich zählte er die Laborgeräte nicht wie seine Spirituosen. Jarmila und Milena hievten Staša, die fortwährend kicherte, aus dem Stuhl und versuchten sie aufzustellen. Sie knickte ein, als wären ihre Beine aus Gummi. Wie einer Schwerverletzten griffen sie ihr schließlich unter die Arme und schleppten sie zur Tür.

»Vergiss nicht zu-, zu-, zu-, du weißt schon.« Jarmila hatte auf einmal Schwierigkeiten, die richtigen Wörter zu finden. »Na, du weißt schon, was ich meine, damit dein …, der …, Dings nichts merkt.«

Milena spürte noch nichts von einem Rausch, abgesehen davon, dass sie sich leichter fühlte. Ihre Füße und Finger, auch ihr Hals, ja, ihr ganzer Körper schien aus Watte zu bestehen und bog sich viel graziler, ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte. À la Isadora Duncan schwebte sie zum Medikamentenschrank und versperrte ihn wieder, bald darauf tat sie mit der Praxistür das Gleiche. Sie rasselte mit dem Schlüsselbund, als sei er ein Tamburin und glaubte, gleich in das Meeresrauschen-Mosaik einzutauchen. Die vielen Steinchen explodierten vor ihren Augen und formten sich zu tausendfachen Tropfen. Sie luden sie zum Schwimmen ein. Schon breitete sie die Arme aus und ging in die Knie für den Absprung ins Wasser. Dann wollte sie loskraulen, weit hinaus bis über den Horizont.

»Hiergeblieben.« Jarmila packte sie, bevor sie sich den Kopf an der Wand anschlug. »Komm, Staša, hilf mir mal.« Untergehakt ließ sich Milena von ihren Freundinnen nach oben bringen. Die Treppenstufen dehnten sich, wollten ihr ausweichen. Sie erklomm sie schwankend, eine nach der anderen. Manchmal trat sie daneben und musste Schwung holen. Mit vereinten Kräften und unter großem Gelächter bezwangen sie das Treppenhaus, als handelte es sich dabei um eine feindliche Burg.

Ob ihre Bewegungen zu den Brahmswalzern dank des Rauschmittels wirklich besser wurden, oder ob sie sich nur toller fanden, war dahingestellt. Sie sangen und tanzten den ganzen Abend, hatten so viel Spaß wie selten zuvor.

Bis sich Staša übergeben musste. Knapp schaffte sie es noch ins Bad, da erbrach sie sich in die Wanne. »Viel zu viel Apfelsaft«, lallte sie und strich sich die verklebten Haare aus dem Gesicht. Sie lachte schon wieder, wenn auch nicht mehr ganz so laut. Dann verdrehte sie die Augen und sackte auf den Wannenvorleger. Als sie wieder zu sich kam, wollte sie nach Hause. Und auch Jarmila schloss sich ihr an. Milena bestellte eine Kraftdroschke für die beiden. Bevor sie gingen, verabredeten sie sich noch für ihren Auftritt bei den Arconauten am kommenden Freitag.

Am Donnerstag sagte Staša telefonisch ab, behauptete, dass sie für die Klausur am Montag lernen müsste.

»Ach, komm, nur ein bis zwei Stunden«, versuchte Milena sie zu überreden. »Das macht den Kopf frei und danach kannst du das ganze Wochenende am Schreibtisch verbringen.«

»Es geht nicht, ich bin wirklich knapp dran, bitte versteh das.« Staša hatte mit dem Lernen bisher noch nie Probleme gehabt, ihr flog alles zu. Sie sprach mehrere Sprachen und schien, kaum dass sie ihre Nase in ein Buch steckte, den Inhalt schon erfasst zu haben. Nun klang sie merkwürdig angespannt, so als stünde jemand hinter ihr und setzte sie unter Druck.

»Wir haben doch so viel geübt und dann das tolle Kleid, was ist mit dir?«

»Ein anderes Mal vielleicht, ich muss echt was für die Uni tun. Mir sitzt einiges im Nacken«, ergänzte sie leise.

Milena war sich nun sicher, dass das wortwörtlich gemeint war. »Ich verstehe«, sagte sie.

»Verzeih, aber viel Glück euch beiden. Hinterher müsst ihr mir alles haarklein berichten, sonst …« Es klickte in der Leitung, Staša hatte aufgelegt.

Mit Jarmila hatte sie sich vor dem Arco verabredet. Obwohl es schon Anfang Dezember war, entschied sie sich gegen Mantel und Hut, um die wallenden Stoffbahnen und ihre Frisur nicht zu zerdrücken. Sie würde eine Kraftdroschke bis zum Arco nehmen. Nachdem sich Milena zurechtgemacht hatte, lief sie nach unten und staunte, als Jarmila bereits vor der Haustür wartete. Aus einer taubenblauen Limousine winkte sie ihr und kurbelte die Scheibe herunter. Milena bat den Kraftdroschkenfahrer zu warten und ging zu ihrer Freundin auf die andere Straßenseite. »Was ist, steigst du nicht um und fährst mit mir?« Am Steuer saß ein Herr im Frack. Milena beugte sich zum Fenster hinunter und erkannte den deutschen Leutnant Willy Haas. Heute trug er Zivil und Pomade im Haar und wirkte sehr elegant. Sie begrüßte ihn auf Tschechisch, redete aber dann auf Deutsch weiter. »Was machen Sie hier?«

»Ahoj, Fräulein Jesenská«, sagte er über das Knattern des laufenden Motors hinweg. »Ich habe ein paar Tage frei und dachte mir, ich besuche meine alte Heimat.« Er gehörte auch zur Runde der Arconauten, lebte aber seit Kurzem als Drehbuchautor und Filmkritiker in Berlin, wo er auch einberufen worden war. Milena hatte ihn an einem Abend voller Wein über die mondänen Berlinerinnen ausgefragt, wollte wissen, wie sie sich kleideten und welche Frisuren sie bevorzugten. Erst tat er sich mit einer Beschreibung schwer, bezeichnete die böhmischen Frauen als eleganter, sogar als die eigentlichen Europäerinnen. In Berlin würde man noch Hüte mit Schleier tragen und bodenlange Röcke, die unterm Saum den gesamten Unrat der Stadt aufkehrten. Aber er versprach ihr, bis zum nächsten Wiedersehen genau aufzupassen, falls es einen modischen Wandel gäbe, und sich alles einzuprägen, damit er berichten könne.

»Woher kennt ihr euch?«, fragte sie Jarmila.

»Von einem Kinobesuch, Willy hat seinen Geldbeutel verloren und ich habe ihn eingeladen, das habe ich dir doch erzählt«, antwortete sie.

»Du?« Daran konnte sich Milena nicht erinnern, vielleicht hatte sie es auch vor lauter »Ernst« wieder vergessen. Sie musste wirklich wieder aufmerksamer mit ihrer Freundin sein, sonst entglitt sie ihr. Doch Jarmila wurde ständig angesprochen. Egal, wo sie sich befand, mit ihren seidig schimmernden Haaren, den hellgrünen Augen und ihrer schlanken Gestalt zog sie die Männer an wie Motten das Licht.

»Und heute werde ich eingeladen«, ergänzte sie noch, bevor Milena etwas erwidern konnte.

»Ja, mein Chefredakteur hat mich gebeten, zur tschechischen Erstaufführung von »Der Elektromensch« zu gehen«, sagte Haas.

»Hui, der Elektromensch.« Milena schnalzte mit der Zunge. »Ich habe davon gelesen. Ein zukunftsweisender Film über einen ferngesteuerten Mann, der Film soll aus vier Teilen bestehen und die Filmrollen insgesamt über tausend Meter lang sein.« Sie liebte das Kino. Bevor sie Ernst kennenlernte, hatte sie kaum eine Neuaufführung verpasst. Sie verschlang auch jeden Artikel über die Darsteller, Regisseure und Hintergründe. Im Film gab es schlechte Frauen, Frauen, die rauchten, die sich gehen ließen, die taten, was ihnen gefiel, und sich nicht um die Folgen scherten. In einem Hauch aus Nichts huschten sie über die Leinwand oder fläzten auf einem Diwan. Dabei sogen sie an ihren Zigarettenspitzen, als hielten sie sich ausschließlich mit Tabak am Leben. Meistens stellten sie die Bösen dar, die Verruchten, die ehrliche Männer verführten, und am Ende wurden sie dafür bestraft. Zugleich waren aber sie diejenigen, die das Publikum in den Bann zogen und den Film belebten. »Da haben Sie sich ja ein Mammutprojekt vorgenommen, Herr Haas.«

»Darum muss ich mich auch sputen. Ich will es wenigstens bis zum Hauptteil schaffen, bevor ich zurück in meine Einheit muss. Aber mit der richtigen Begleitung schlage ich gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Urlaub, Heimatbesuch und Arbeit.« Er nahm den Arm vom Lenkrad und legte ihn um Jarmila.

»Bin ich etwa eine Fliege für dich?«

»Wenn, dann eher eine süße kleine Hummel.« Willy tippte ihr auf die Nase.

»Hummel, was ist das?« Die beiden duzten sich schon, benahmen sich wie ein frisch verliebtes Paar, das war Milena zu viel. »Was hast du mit Josef gemacht?«, fragte sie ihre Freundin auf Tschechisch, ohne Rücksicht auf ihren Begleiter. Noch vor wenigen Wochen hatte Jarmila ihr ein Liebesgedicht vorgelesen, das Josef Reiner extra für sie verfasst hatte. Schon mit sechzehn hatte er sich in die ein Jahr ältere Jarmila verliebt und ebenfalls ein Medizinstudium begonnen, doch er fühlte sich mehr zum Journalismus hingezogen und vor allem zur Poesie. Sie waren von seiner zärtlichen Ausdrucksweise dahingeschmolzen, und Jarmila hatte beschlossen, endlich mit ihm zu schlafen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

»Nichts. Er denkt wahrscheinlich, dass es aus ist. Aber was kann ich dafür?« Sie warf eine Haarsträhne über die Schulter zurück. »Ich habe genug gebüßt, hatte die ganze Woche Hausarrest, nachdem ich mich heimlich mit Josef verabreden wollte. Unser Dienstmädchen hat mich verpetzt, dieses Miststück. Ich wünsche ihr die Krätze an Stellen, wo es besonders juckt, wo man sich aber nicht zu kratzen traut. Warum mischst du dich jetzt auf einmal ein? Als ich dich gebraucht hätte, warst du anderweitig beschäftigt, und ich musste alles allein durchstehen.« Der Vorwurf traf. »Also bitte, verrat mich nicht«, ergänzte sie sanfter, als sie merkte, wie Milena zurückfuhr. »Wenn ich noch mal von meinen Eltern erwischt werde, mauern sie mich in meinem Zimmer ein.« Nicht nur Milenas Vater, auch Jarmilas mochte die deutschen Juden nicht. Außerdem lehnten sie deren Lebensstil ab. Einen Brotberuf auszuüben, nur damit man den halben Tag lang im Kaffeehaus sitzen konnte, um leidenschaftlich über die schönen Künste zu debattieren, lag jenseits ihrer Akzeptanz. Aber genau dies faszinierte Milena. Sie wollte mit allen Sinnen leben, nicht nur einen Alltag abarbeiten, in einem Beruf, der keinen Spaß machte. Jeden Abend müde ins Bett fallen, bis am Morgen alles von vorne begann. Sie wünschte sich etwas, das ihren Geist erfüllte, das sie forderte und weiterbrachte. Das konnte nur in der Auseinandersetzung mit neuen Strömungen gelingen. Der Aufbruch in Kunst und Literatur. Abgesehen davon gefiel Milena die Extravaganz im Arco. Die Männer in diesem Kreis waren ungefähr im Alter ihres Vaters, behandelten sie jedoch wie eine Dame und nicht mehr wie ein Mädchen, ja sahen in ihr eine moderne Europäerin, was sie mit Stolz erfüllte. Mit tschechischen Bäcker- oder Metzgersöhnen konnte oder wollte sie nun mal nichts anfangen, und ihre gleichaltrigen Kommilitonen bestanden meist auch nur aus Pickeln und Prahlerei.

»Ich schweige wie Tut-anch-amun«, versprach Milena. »Auf Krätze kann ich verzichten.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Gleich von allen beiden Freundinnen im Stich gelassen zu werden, tat weh. Noch dazu begann sie zu frieren. Die Abendluft war zwar noch trocken, aber eisig, es roch nach Schnee.

»Übrigens sehr elegant, eure Kleider. Derselbe Schnitt oder wie man da sagt, aber andere Farben und Borten«, warf Herr Haas ein, offenbar hatte er nur die Hälfte ihres tschechischen Gesprächs verstanden. Jarmila trug die violette Duncan-Tunika mit der Laufenden-Hund-Bordüre an den Saumkanten. Und Milena das grüne Amaryllis-Kleid. Auch wenn sie in der Schule nie das Gleiche, höchstens etwas Ähnliches, angezogen hatten, hielt man sie im Minverva oft für Zwillinge, später, als Staša dazukam, bezeichnete man sie als das Prager Triptychon. »Nach Ihren drängenden Fragen neulich habe ich Ihnen etwas mitgebracht.« Er griff auf die Rückbank und reichte ihr über Jarmila hinweg ein Heft aus dem Autofenster. »Der Kleiderkasten« stand auf Deutsch auf dem Titelblatt, darunter war die kolorierte Zeichnung einer geöffneten Schachtel, aus der ein blauer Stoff quoll. 1915, erster Jahrgang, Januar Nummer 1.

»Danke«, sagte Milena. »Wie nett.« Sie freute sich, auch wenn das Magazin schon fast zwei Jahre alt war, die Mode hatte sich seither, selbst in Deutschland, stark gewandelt.

»Mir hat er auch eine Zeitschrift mitgebracht.« Jarmila strahlte sie an und zeigte ihr die neueste Ausgabe von »Die Dame«. Die Frau auf diesem Umschlag trug kinnlanges Haar und auch ein kniekurzes Kleid, das an der Hüfte gegürtet war. Schon besser, dachte Milena. Die alte Kamelle schenkte Herr Haas lieber ihr.

»Wir können später tauschen, einverstanden?«, schlug Jarmila wieder auf Tschechisch vor, die ihr anmerkte, was in ihr vorging.

»Die Zeitschrift oder den Kavalier?«, rutschte es ihr heraus. Sie lachten, und Milena war froh, dass hoffentlich jetzt endlich wieder alles zwischen ihnen bereinigt war. »Bitte, kommt doch einfach noch kurz mit ins Arco«, versuchte sie es trotzdem. Sie wandte sich auf Deutsch an Willy Haas: »Das gehört doch auch zu Ihrem Heimatbesuch.«

»Vielleicht später, Frau Jesenská, wir müssen weiter und sehen, wer alles eingeladen ist und was noch gesagt wird, bevor das Orchester spielt und der Vorhang sich hebt«, erklärte er, und Jarmila drückte ihr kurz die Hand. Sie verabschiedeten sich und fuhren los.

So blieb Milena nichts übrig, als noch mal zurückzulaufen und das Flatterkleid gegen etwas weniger Gewagtes zu tauschen. Ins Arco wollte sie auf jeden Fall. Hoffentlich klappte es an einem anderen Tag, obwohl ihre Freundinnen nicht danach klangen. Ehrgeizig, wie Staša war, würde sie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag lernen, und Jarmila hatte momentan nur Augen für einen gewissen Leutnant. Noch dazu war bald Weihnachten und in der Adventszeit mit jeder Menge Familienfeiern würden sie weitere Ausreden vorbringen. Wahrscheinlich waren sie Großmütter und die Arconauten längst verstorben, bis das Trio in dieser Aufmachung tatsächlich zusammenfand. Schweren Herzens wollte sie den Kraftdroschkenfahrer bitten, weiter zu warten, und entschied sich dann kurzerhand um. Sie wäre nicht die Jesenská, wenn sie die Darbietung nicht auch allein bei den Arconauten wagen konnte.

Während der Fahrt überzog Gänsehaut ihre nackten Arme und Beine, sie schob es aber auch der Aufregung zu. Man sollte eine Heizung in die Automobile einbauen, dachte sie, sonst erfroren die Fahrgäste noch im Winter. Zitternd stieg sie neben den Tramwayschienen an der Ecke zur Hybernská Straße aus, hängte sich die Handtasche schräg über die Schulter und überlegte einen Moment, ob sie barfuß, ganz wie ihr Vorbild, das Kaffeehaus betreten sollte. Zwar hatte sie sich die Sandalen, die eine große Silberdistel zierten, extra dazu gekauft, aber stilechter wäre es ohne Schuhe. Aber wenn sie an die Asche und Spuckeklumpen dachte, die den Boden des Arco bedeckten wie ein Teppich, war sie froh um die dünnen Sohlen, die sie davon trennten. Außerdem war es dann nicht ganz so kalt. Auch wenn die Distelsandalen mit ihren schmalen Riemen eher wie ein Schmuckstück und kein Schuhwerk wirkten. Gleich hinter dem Eingang löste sie ihr Schultertuch und benutzte es als Requisite. Wie üblich mussten sich ihre Augen erst an den Dunst, an das Schummerlicht gewöhnen und zwischen den Rauchschwaden den Tisch finden, an dem der Pollaksche Kreis hofierte. Wenigstens war es warm im Kaffeehaus und das Zittern ließ sofort nach. Der Stehgeiger und der Flötist spielten keinen Walzer, wie erhofft, sondern gerade den Kanon von Pachelbel in D-Dur, doch diese Klänge trugen Milena fast noch besser an den Leuten vorbei, als wäre es mit den Musikern so abgesprochen. Auch wenn das Arco durch die neuen Stellungsbefehle ausgedünnt wirkte, waren an diesem Abend die Plätze erstaunlich gut besetzt. Viele Uniformierte führten ihre Liebchen aus. Doch egal, wo Milena vorbeitänzelte, sich im Takt drehte, die Arme reckte und jeden ihrer Finger auf besondere Weise abspreizte, die Gespräche verstummten oder wurden auf ein Flüstern gedämpft. Staunend bemerkte sie, dass ein Herr sogar »La vie parissienne« zur Seite legte. Diese erotische Zeitschrift gab es nur im Arco und meist war sie vom vielen Herumreichen so zerfleddert, dass die pikanten Stellen im Heft wie ausradiert wirkten. Milena wirbelte vor der Spiegelwand einmal um ihre Achse, verstärkte nach einem prüfenden Blick ihre Bewegungen zu theatralischen Gesten à la Isadora Duncan. Endlich sah sich auch Ernst zu ihr um, erhob sich, als er sie erkannte, schritt auf sie zu und zog sie an sich. Das Musikstück endete, einige klatschten und die Musiker verbeugten sich, als gehörten sie zu ihrer Einlage. Plötzlich wusste Milena nicht mehr, was sie eigentlich mit ihrem Auftritt bezwecken wollte, und kam sich komisch vor. Irritiert löste sie sich aus der Umarmung, ließ sich auf den freien Stuhl neben Ernst am Arconauten-Tisch nieder und richtete die verrutschten Schnüre an ihrem Ausschnitt. Verunsichert winkte sie dem Ober und bestellte sich rasch einen Türkischen. Erst danach blickte sie in die Herrenrunde. Neben den Literaten, die ihr Ernst bereits vorgestellt hatte, saßen auch zwei Neue. Ein schmächtiger Mann mit dunklen Augen, überkorrekt gekleidet, in Stehkragenhemd und gestreifter Krawatte, als befände er sich bei einem Staatsempfang. So geschmackvoll war nicht einmal Willy Haas für die Filmpremiere gekleidet gewesen. Sein Nebenmann dagegen legte weniger Wert auf sein Äußeres, ein beleibter Herr, mit struppigem Backenbart und fleckiger Weste, dessen Bauch gegen den Tisch drückte, als wollte er ihn anheben.

»Milena, darf ich dir zuerst Herrn Umprecht vorstellen? Er stammt aus Düsseldorf und schreibt an einer Neufassung der Nibelungen. Herr Umprecht, das ist meine Mi- …« Das Serviermädchen jonglierte ein vollbeladenes Tablett voller Geschirr an dem Deutschen vorbei und stolperte. Milena hatte nicht gesehen, ob er ihr ein Bein gestellt hatte oder ob es aus Versehen geschehen war. Einen Teil der gestapelten Tassen und Teller versuchte das Mädchen noch abzufangen, aber das meiste fiel zu Boden und zerbrach.

»Sehen Sie, das ist das, was ich vorhin meinte«, sagte der rheinische Nibelungenbart, ungerührt, dass das Mädchen vor ihm auf die Knie ging und die Scherben aufsammelte. »Dem weiblichen Geschlecht fehlt der Verstand.« Er zündete sich eine Zigarre an, rieb sich über die breite Brust und paffte genüsslich. »Darum begreifen sie die Zusammenhänge nicht, schon gar nicht, was die Weltpolitik betrifft.« Er begutachtete Milena, als würde er abwägen, wie sie wohl schmeckte. »So einer kann man doch nicht in der Öffentlichkeit das Rauchen erlauben oder womöglich sogar eines Tages das Stimmrecht erteilen, was meinen die Herren dazu?« Um Zustimmung heischend, wandte er sich in die Runde. Manche grinsten oder nickten zaghaft mit Blick auf Milena. Umprechts Nebenmann verzog keine Miene, sah einzig auf Milena, als spürte er, dass sie sich so eine Frechheit nicht gefallen lassen würde.

»Umprecht hat unrecht, meine Herren«, erwiderte sie und erntete einige Lacher für ihren gelungenen Reim. »Angesichts des Krieges sieht man, wohin es führt, wenn wir Frauen den Männern die Politik überlassen.«

»Nicht doch, meine Liebe.« Ernst berührte sie am Arm. »Auch im Arco weiß man nie, wer so etwas aufschnappt.« Das Serviermädchen hatte alle Scherben aufgesammelt, entschuldigte sich und lief fort. »Und Sie, mein Herr …«, Ernst wandte sich an Umprecht, »bitte mäßigen Sie sich im Ton, an diesem Tisch reden wir nicht nur über Kultur, wir pflegen sie auch. Besonders den Damen gegenüber.«

»Solche Damen kenne ich.« Der Düsseldorfer erhob sich schwerfällig, griff sich an die Hose, als müsste er etwas zuhalten, und ging hinaus.

Milena wollte sich nicht beruhigen. In ihr pulsierte die Wut. Sie fixierte den zweiten Neuen, der sie die ganze Zeit schon betrachtete, als wäre sie ein Ausstellungsstück, das sogar sprechen konnte. Aus dunkelgrauen Augen, die an einen Raben erinnerten, musterte er sie verstohlen, sah weg, als sie ihn anschaute, und sah zu ihr, sobald sie den Blick senkte. »Und einer, der nichts dazu sagt, ist auch nicht besser«, fuhr sie den Unbekannten an.

»Ich bitte dich, Milena«, griff Ernst noch mal ein. »Wirf nicht alle Arconauten in einen Topf. Umprecht ist fort und sucht seine Kriemhilde woanders. Das ist Doktor Kafka.«

»Ist es nun schon so weit, dass wir einen Arzt in der Runde brauchen, falls sich einer bei einem Wortgefecht verletzt?«, fragte Milena.

»Franz Kafka ist Jurist«, erklärte Ernst. »Er ist ein Freund von Max Brod und deutscher, ausgemusterter Jude wie die meisten hier. Ich habe dir doch die Erzählung von ihm zu lesen gegeben, weißt du nicht mehr? Doktor Kafka ist heute zum ersten Mal unser Gast, und wir wollen ihn nicht vergrämen.«

Allmählich verebbte Milenas Zorn. Natürlich, Franz Kafka und die »Verwandlung«! Niemals hätte sie in ihm denjenigen vermutet, der das geschrieben hatte. Es lag etwas Klares und zugleich kindlich Frisches in seinem Blick, selbst für einen Doktor, eine Art Neugier, die ihr gefiel. Womöglich hatte er sich an der Seite dieses unrechten Umprecht ebenso unwohl gefühlt wie sie und war genauso froh, ihn los zu sein.

»Und wo ist Ihr Freund, Herr Brod, heute?« Milena versuchte Kafka anzulächeln, um ihre Anschuldigung abzumildern. Sie merkte, wie sie errötete, ihre Wangen glühten wie schon lange nicht mehr. Das auch noch. Halbnackt als englischer Tänzerinnenverschnitt aufzutreten und sich dann einschüchtern zu lassen. Sie schnaubte und dieser Franz Kafka schien jegliches Mienenspiel von ihr zu registrieren, als dauerte ihr Auftritt noch an.

»Ach, der Max«, warf Ernst ein, bevor Kafka antworten konnte, »der ist in seinem Zionistenverein. Er hält neuerdings nicht mehr viel von der Vermischung zwischen Juden und Christen. Darum wird er vermutlich nichts mehr mit uns zu tun haben wollen.« Er hielt inne, als er das stumme Augenspiel zwischen Kafka und ihr bemerkte. »Sag mal, Milka, Liebes, was trägst du da überhaupt?« Erst jetzt schien ihm ihr besonderes Kleid aufzufallen.

Dass er sie bei ihrem Spitznamen nannte, war neu. Auch wenn sie ihn ihm an ihrem ersten Abend verraten hat, fühlte es sich komisch an. Doch sie ging darüber hinweg. »Gefällt es dir?«

»Auf jeden Fall. Es ist so, so gewagt«, war das Einzige, was ihm dazu einfiel. Schnell nahm er ihre Hand und küsste sie mehrmals.

»Was habe ich verpasst?« Umprecht kehrte zurück, die Finger an seinen Hosenknöpfen. Er pflanzte sich wieder neben Kafka, der zusammenzuckte. Bisher hatte der Herr Doktor Rabenauge noch kein Wort gesagt.

»Komm, lass uns gehen.« Ernst zog Milena vom Stuhl, als sähe er erneut Gewitterwolken herannahen. »Hier ist es so laut, und mir ist heute so nach dir.«