4. Kapitel

KLEE

Zum ersten Mal führte Milena Ernst zu sich nach Hause. Es war noch kälter geworden, ein eisiger Wind zog durch die Gassen. Ihre Atemwolken schienen in der Luft zu stehen, als sie nach draußen traten. Trotzdem verzichteten sie auf eine Kraftdroschke, Ernst wollte nicht zurück und telefonieren. Sie schlenderten lieber Arm in Arm durch die wie ausgestorben wirkende Stadt. Nur selten drang Licht aus den Fenstern. Die meisten Prager Bürger folgten dem Aufruf zur Verdunkelung, der an jeder Litfaßsäule und jedem Bauzaun plakatiert worden war. Sie dichteten ihre Fenster ab oder zogen die Vorhänge zu, um feindlichen Fliegern die Orientierung zu erschweren. Die Gaslaternen auf den Straßen wurden erst gar nicht entzündet. Solange kein Feind über dem Himmel kreiste, empfand Milena den Spaziergang als sehr romantisch. Der Mond sah wie ein saftiges Apfelstück aus, er beleuchtete ihre Wege zwischen den Schatten der Häuser hindurch. Sie hatte sich das Schultertuch um die Hüfte gewickelt und trug Pollaks Sakko und sogar seinen Hut, schmiegte sich an ihn, in Vorfreude, was gleich geschah. Das dünne Sakko mit dem abgewetzten Futter wärmte kaum. Sie konnte es nicht zuknöpfen und die Ärmel waren etwas zu kurz, aber es roch nach ihm, so intensiv, als hätte das Gewebe seine gesamten Lebensjahre gespeichert. Außerdem war eine weitere Schicht besser, als nur im Batist zu sein, der sich bei jedem Luftzug aufblies. Bald hatten sich ihre nackten Zehen in den Sandalen in Eiszapfen verwandelt und sie versuchte, nicht auf dem gefrorenen Pflaster auszurutschen, biss die Zähne zusammen und ließ sich nichts anmerken.

Sie überquerten den Wenzelsplatz und blieben ein paar Hausecken weiter vor dem vergitterten Portal stehen. »Hier sind wir bei meinem Zuhause.«

Ernst, in Hemd und Weste, riss ein Streichholz an und leuchtete die Fassade hinauf. Steinköpfe stützten die vielfach verzierten Brüstungen zum Obergeschoss und spähten wie Wachen auf sie hinunter. Widder, Faune und andere Gestalten aus antiken Sagen, die Milenas Träume seit ihrer Kindheit bevölkerten. »Sieht aus wie der Eingang zu einem Gruselkabinett, bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«

Sie nickte. Er warf das Streichholz fort, rieb sich die Hände und hauchte hinein. »Dann lass uns schnell reingehen.«

»Freu dich nicht zu früh, wer weiß, was dich drin erwartet«, scherzte sie.

»Muss ich mich etwa vor Ihnen fürchten, Fräulein Jesenská?«

»Ein wenig Respekt reicht mir schon«, sagte sie und sah wieder diesen Umprecht vor sich. Hastig wischte sie ihn fort. An seiner Stelle tauchte der rabenäugige Franz Kafka auf. Sein Antlitz freute sie, hoffentlich begegnete sie ihm bald wieder. Milena suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Vergeblich. In der Aufregung hatte sie ihn vergessen, und sobald der letzte Patient die Praxis verließ, verriegelte ihre Haushälterin alles. Sie drückte die Klingel.

»In welchem Stockwerk wohnst du?« Ernst trippelte mit den Füßen.

»Im fünften, ganz oben, fast unterm Dach.«

»Nicht schlecht.« Er pfiff durch die Zähne. »Oben hast du bestimmt eine herrliche Aussicht, mein Täubchen.« Er küsste sie, ihre kalten Nasen berührten sich. Sie mussten dringend ins Warme. »Und wie sind die anderen Parteien im Haus zu euch? Ich nehme an, es handelt sich dabei um einen Baron und seine Gattin, oder wer hat die Ehre, unter euch zu residieren?«

»Unter uns wohnt keiner. Das ganze Haus gehört meinem Vater. Nur er und ich leben hier und Renata natürlich. Unsere Haushälterin.«

»Natürlich«, sagte Ernst mit gespitzten Lippen. »Seine Dienstboten vergisst man zu gerne. Aber einer muss den Palast bewachen, wenn kein Hund zur Verfügung steht.«

Sie lachte, zitterte dabei vor Kälte. »Als ich klein war, hatten wir tatsächlich Hunde. Tip und Top hießen sie. Wenn ich zwischen ihnen spazieren ging, flankierten sie mich wie eine Mauer, rechts und links. Ich hätte auf ihnen reiten können, so groß waren die.« Sie zeigte auf die Höhe ihrer Hüfte. »Mein Vater hing sehr an ihnen, aber dann wurde Tip überfahren und musste eingeschläfert werden und bald danach starb auch Top. Später wollte Vater keine Tiere mehr im Haus. Ich hätte zu gern eine Katze.«

»Dein Vater scheint Angst vor Einbrechern zu haben, oder ist das auch zur Feindesabwehr?« Ernst rüttelte an dem schmiedeeisernen Gitter. Nicht mehr lange und sie frören vor der Haustür fest.

Wo blieb Renata nur? Milena klingelte noch mal. »Wie man es nimmt. In seine Praxis im Parterre ist tatsächlich schon mehrmals eingebrochen worden.« Sie zeigte auf das Messingschild der Kieferchirurgie, das im Mondlicht kaum zu erkennen war. »Deshalb hat er die Gitter anbringen lassen.« Dass sich jemand auch von innen an den Medikamenten bediente, wie Milena und ihre Freundinnen es neulich getan hatten, verschwieg sie.

»Was gibt’s bei einem Kieferchirurgen zu holen? Gebisse und Zahnpasta?«

»Schmerzmittel, Betäubungsmittel, Spritzen, Verbandszeug, alles, was sich heraustragen lässt«, zählte sie auf. Sie spürte ihre Füße fast nicht mehr. »Mensch, ich glaube, Renata schläft schon oder die Klingel ist eingefroren.« Sie läutete noch ein drittes Mal, diesmal so lange, bis ihr der Finger schmerzte, lauschte, hörte ein Surren. Der Strom funktionierte. Dann trat sie auf die Straße und sah an den ebenfalls verdunkelten Fenstern nach oben, ob irgendwo ein Lichtschein auszumachen war. »Mein Vater ist heute bei einem Geschäftsessen. Das bedeutet, dass er die ganze Nacht fortbleibt.«

»Debattiert er bis zum Morgengrauen über Zähne?«

»Das Essen dauert meistens nur ein bis zwei Stunden, danach inspiziert er das Mundwerk diverser Patientinnen, soviel ich weiß. Aber wir müssen trotzdem auf der Hut sein. Renata himmelt meinen Vater an wie einen Heiligen. Sie würde mich sofort verpetzen, wenn sie merkt, dass ich Herrenbesuch habe.«

»Wie hast du es sonst gehalten?«, fragte Ernst. »Ich bin doch nicht der erste Kavalier, den du mit nach Hause bringst, oder?«

»Ob du ein Kavalier bleibst, muss sich erst noch herausstellen.« Endlich hörten sie Schritte. Schnell gab sie ihm das Sakko und den Hut zurück, löste ihr Tuch von der Hüfte und legte es sich wieder um die Schultern. »Am besten du schleichst dich erst rein, wenn die Tür zufällt«, flüsterte sie, kurz bevor Renata öffnete.

Die kleine, mollige Frau stutzte einen Moment und blinzelte in die Nacht. »Ach, Sie sind es. Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Guten Abend, Fräulein Jesenská«, sagte sie auf Tschechisch, zupfte ihre Haube zurecht und knickste nach Dienstmädchenart, als sie Milena vom hellen Treppenlicht nach draußen endlich erkannte. »Ich wusste gar nicht, dass Sie noch außer Haus sind.« Sie rieb sich über die fleischig breite Nase und spähte an Milena vorbei auf die Straße. Rasch drückte sich Ernst flach an die Wand. »Ich habe mich gewundert, wer da noch so spät klingelt, und dachte schon, es hätte wieder einen Tumult gegeben.« Vor zwei Tagen hatte direkt vor ihrer Haustür ein Kampf zwischen Deutschen und Tschechen stattgefunden, Mitglieder zweier Burschenschaften zettelten einen Streit an. Die Schlägerei löste sich erst auf, als die berittene Polizei eingriff. Milenas Vater war auf die Straße gelaufen und kümmerte sich, ausnahmsweise ungeachtet der Nationalität, um die Verwundeten, die auf der Straße lagen. Sonst stand er eher auf der tschechischen Seite und duldete es nicht, dass Milena in seiner Gegenwart Deutsch sprach. »Sind Sie so spät noch studieren gewesen?«, bohrte die Haushälterin weiter, ohne, dass sie ihren abschätzigen Blick angesichts Milenas ungewöhnlicher Kleidung verbergen konnte.

»Oh ja, ich habe so einiges st-st-studiert.« Auch Milena wechselte vom Deutschen, das sie mit Ernst mehr oder weniger gut sprach, ins Tschechische. Sie schlotterte nun richtig.

»Etwa ohne Mantel?«

»Ich bin mit einer Kraftdroschke gefahren, vorhin war es auch noch nicht so kalt. Lassen Sie uns nach oben gehen.« Sie drängte Renata in den Flur, ließ sie aber vorausgehen. Dabei verwickelte sie sie in ein Gespräch, damit ihr Liebster ihr unbemerkt folgen konnte. Ihr halbes Leben war Renata schon bei ihnen angestellt. Mit Ende vierzig war sie noch immer ledig. Nach dem Tod von Milenas Mutter hatte sie das Regiment im Haushalt übernommen. Seither bestimmte sie, was gegessen wurde, stellte ab und zu eine Köchin ein und entließ sie wieder, wenn ihr die Speisen oder die Art der Zubereitung missfielen. Ihrem Herrn Professor und seinem halbwaisen Töchterchen wollte sie nur das Beste vorsetzen. Darüber hinaus verband sie auch manch Geheimnis mit der Familie. Renata hatte miterlebt, wie Milenas Bruder gestorben war. Ihre Mutter war bereits zu geschwächt gewesen, um sich um ihn zu kümmern, doch Vater weigerte sich, eine Amme ins Haus zu holen. Der Kleine schrie Tag und Nacht, bis er immer schwächer und leiser wurde und schließlich für immer verstummte. Seither gab Milena ihrem Vater die Schuld an seinem Tod. Wer nicht robust genug fürs Leben war, der sollte gehen, lautete seine Lebensmaxime, die auch sie oft genug zu spüren bekam. So verpflichtete er sie schon mit elf Jahren zur Pflege der kranken Mutter. Heimlich unterstützte Renata sie in den nächsten zwei Jahren. Als Vater es bemerkte, verlangte er, dass Milena und Renata sich fortan siezten, so wie Milena auch ihn schon immer siezen musste, ihm wirkte ihre Beziehung zueinander allzu vertraut.

Andere Dienstboten kamen und gingen, Renata blieb. Sie schien kein eigenes Leben zu haben, löste sich völlig in den Sorgen der Familie Jesenský auf. Nur mit Milenas Studium konnte sie nichts anfangen. Musik, ohne selbst ein Instrument zu spielen, das wollte ihr nicht einleuchten. Sie könnte doch Dirigentin werden, hatte Milena daraufhin gescherzt. Den ganzen Tag zu lesen oder zuzuhören, dabei einen Beruf zu erlernen, noch dazu als Frau, war für Renata, die lieber mit den Händen arbeitete, schwer vorstellbar. Sie stiegen die nächste Treppe hoch, an den großen Marmorvasen und dem »Meeresrauschen« vorbei. Kurz dachte Milena noch mal an ihre Mohnsaftvision. Jetzt war das Wandmosaik nur ein Gebilde aus Steinen, wenn auch raffiniert gemacht. »Wovon habe ich Sie denn weggeholt?«, fragte sie sehr laut, um die doppelt knarrenden Stufen unter sich zu übertönen.

»Nichts Besonderem, ich poliere gerade das Tafelbesteck, und dabei …«, Renata zögerte, blieb stehen und wandte sich ihr zu, »dabei höre ich Radio, wenn Sie erlauben.«

»Natürlich, hören Sie ruhig, so viel Sie wollen.« Milena drängte sie weiterzugehen, schob sie, die Hand am Geländer, vorwärts. »Was wird denn gespielt?«

»Eine Aufzeichnung der Oper ›Jenufa‹, nachdem Sie mir so viel davon erzählt haben, war ich sehr gespannt.« Ihre Augen glänzten, soweit Milena das im trüben Gaslicht des Treppenhauses erkennen konnte. Vor einem Monat hatte sie die Oper im Prager Nationaltheater erleben dürfen. Noch mal ein Geschenk von Max Brod, der als Musikkritiker der »Schaubühne« Freikarten erhielt und sie an Milena und Ernst weitergegeben hatte. »Jenufa« war eine tragische Liebesgeschichte, mit großartig dramatischer Musik inszeniert, die nichts von der Geschichte verschluckte. Im Gegenteil, die Melodien verliehen den Szenen eine zusätzliche Sprache, fand Milena und war sich mit Ernst, der von alter Musik nicht viel hielt, ausnahmsweise einig. Jenufa liebt Števa, aber er ist ein Weiberheld und steht nicht zu ihr, als sie schwanger wird. Und ihre Ziehmutter bringt das Kind kurz nach der Geburt um, um die Familienehre zu retten. Am Schluss findet Jenufa unter lautem Wehklagen des Chors ihr Kind tot unterm Eis.

Sie erreichten den vierten Stock, wo die Küche, die Vorratskammern und die Dienstbotenzimmer lagen. »Ich hoffe, dass es mit dem Fräulein Jenufa noch gut ausgeht.« Renata keuchte leicht. Sie kannte offenbar den Schluss der Oper noch nicht.

»Dann beeilen Sie sich. Ich finde allein hinauf«, sagte Milena. »Ich werde gleich zu Bett gehen. Gute Nacht.«

»Soll ich Ihnen noch ein heißes Bad bereiten, gnädiges Fräulein? Oder möchten Sie noch etwas zu sich nehmen? Ich habe Schinken ergattern können.« Die Fleischzuteilung wurde seit Kriegsbeginn streng überwacht, mittlerweile gab es mehr und mehr fleischlose Tage.

»Für mich nicht, aber mein Vater wird sich morgen früh sicher sehr darüber freuen.«

»Aber eine Wärmflasche bringe ich Ihnen noch, ja?« Renata gab nicht auf.

»Danke. Ich glaube, ich schlafe sofort.« Milena gähnte übertrieben laut. »Gehen Sie nur hinein, sonst verpassen Sie noch das Ende.« Das schien sie zu überzeugen. Sie wünschte eine gute Nacht, machte auf dem Absatz kehrt. Als die Tür ins Schloss fiel, holte Ernst zwei Stufen auf einmal nehmend Milena ein. Hand in Hand hechteten sie nach oben und drückten die Tür auf. Endlich allein. Im Gegensatz zu seinem niedrigen Zimmer, wo Milena schon jedes Büchereck und jede Spinnwebe kannte, musste ihm das Haus tatsächlich wie ein Palast vorkommen. In den Räumen war es herrlich warm. Das Kaminfeuer glimmte noch. Milena legte ein paar Scheite nach und brachte es wieder zum Knistern. Schon im Flur blieb Ernst stehen und sah sich um. Die vielen unterschiedlich tickenden Uhren an der Wand, die rasselnde, surrende oder summende Geräusche erzeugten. Die Antiquitäten, die ihr Vater hortete, darunter der uralte Sekretär auf krummen Beinen, in dem er den Praxisschlüssel verwahrte. Hinter der ausklappbaren Schreibplatte verbargen sich siebzehn Schubladen, die alle unterschiedlich groß waren. In die kleinste passte kaum eine Briefmarke, in die größte eine Flasche Karlsbader Becherbitter. Eine Weile betrachtete Ernst das riesige Gemälde vom Prager Fenstersturz, das über der Sitzgarnitur im Salon hing. »Da ist ein Verwandter von mir dabei«, sagte Milena.

»Der, der da aus dem Fenster fällt?«

»Nein, einer der Schützen, welcher genau, weiß ich nicht, der Maler hat sie ziemlich einheitlich dargestellt. Mein Vater meint, der da ganz vorne wäre ein Jesenský.« Sie zeigte auf das schmale Fenster im Rathausturm, in dem sich ein paar Herren mit hohen Hüten drängten. Auch eine glänzende Schusswaffe ragte über das Sims. Sie war auf den fallenden Mann gerichtet und das verdreht liegende Opfer, das bereits auf der Erde lag. »Als ich klein war, habe ich nicht verstanden, warum mein Vater so stolz auf seinen Vorfahren ist.«

»Ich bin nicht gut in Geschichte, aber waren das nicht protestantische Aufständische, die gegen die Habsburger aufbegehrten? Dann ist er ein Held.«

»Ich weiß, der Prager Fenstersturz löste den Dreißigjährigen Krieg aus. Aber als Kind begreift man das nicht.«

Ernst nickte. »Und als Erwachsener versteht man es auch kaum.«

»Ich fand das Gemälde schon immer sehr gruselig und hatte Albträume, dass mich mein Vater ebenfalls aus dem Fenster schubst.«

»Also das meintest du vorhin mit Gruselkabinett?«

Das Thema war nicht gerade der Auftakt für ein Liebesspiel, fiel Milena auf. »Darum wollte ich unbedingt fliegen lernen, um mich in die Lüfte zu retten. Im Traum übte ich und schaffte es tatsächlich irgendwann. Ich kann es bis heute.« Sie wollte Ernst in ihr Schlafzimmer leiten und nahm ihn an der Hand.

»Du kannst fliegen?«, fragte er und fing an, ihre Schnüre zu lösen, Hypatias Tunika glitt von ihren Schultern wie Wasser. »Zeig mal, wo deine Flügel sitzen.« Er strich ihr über die nackten Schulterblätter. Dann zog er sich rasch aus und bedeckte jede Stelle ihres Körpers mit Küssen. Bald fanden sie sich auf dem Teppich wieder. Während Ernst auf ihr lag und keuchte, dachte Milena an Top. Der Hund war genau an der Stelle, wo das gewebte Muster ein Oval bildete, gestorben.