5. Kapitel

RITTERSPORN

Als Milena an der Seite von Ernst im Morgengrauen aufwachte, glaubte sie, vor Glück müsste ihre Brust zerspringen. Sie mussten den Tag mit etwas Außergewöhnlichem beginnen. Mit sanften Küssen versuchte sie Ernst zu wecken. Er knurrte nur leise und drehte sich auf die andere Seite. Auch ein zweiter Versuch schlug fehl. »Zieh dich an und dann raus hier«, rief Milena, »beeil dich, schnell!«

Das tat seine Wirkung, er setzte sich auf. Die Augen noch halb geschlossen, fiel er aus dem Bett und raffte seine Kleidung zusammen. »Was ist passiert? Ist dein Vater zurück?«

Milena lachte schallend. »Verzeih, aber ich wusste nicht, wie ich dich sonst wachkriegen sollte. Ich will dir nämlich etwas Wunderbares zeigen.« Zusätzlich zu seinen Sachen holte sie ihm einen dicken Wollpullover ihres Vaters, ein zweites Paar Socken und einen Schal. Außerdem lieh sie ihm Wanderstiefel, doch in die schlüpften sie erst ganz unten im Flur, damit sie Renata mit ihrem Getrappel nicht aufschreckten, schließlich war es laut der Uhren im Flur, die geringfügig in der Zeitansage voneinander abwichen, erst vier. Draußen hakte Milena ihren Liebsten unter und schleppte ihn im Morgengrauen durch das klirrend kalte und nun in dichten Nebel gehüllte Prag. Eingemummelt wie zwei Nordpolforscher stiegen sie auf den Laurenziberg, den die Tschechen Petřín nennen, wie sie Ernst erklärte. Sie war allerbester Laune, summte eine Melodie aus der »Jenufa«, die ihr seit dem Gespräch mit Renata wieder eingefallen war. Es klang wie ein Loblied auf den Dezemberfrost, unterstrichen im Takt ihrer Atemwolken.

Anders als Ernst genoss sie die Wanderung mit allen Sinnen. Er dagegen zitterte trotz der warmen Kleidung und stapfte mit eingezogenem Kopf neben ihr her. »Was gibt’s da oben so Besonderes? So wunderbar wie das, was ich heute Nacht erleben und berühren durfte, kann es nicht sein. Lass uns umkehren, ich will mich an dir sattsehen. Aber bitte im Warmen.« Die Drahtseilbahn vor der Hasenburg fuhr um diese Uhrzeit noch nicht, sie mussten zu Fuß die vierhundert Höhenmeter überwinden. Das gefrorene Gras krachte unter ihren Stiefeln, als sie die Serpentinen hinaufstiegen. Sie hielten sich aneinander, um nicht auszurutschen, hangelten sich Schritt für Schritt nach oben. Ernst stieß gegen einen Stein und zischte: »Was soll das hier sein? Der Weg zu meiner Kreuzigung? Gleich breche ich mir was und du musst mich heimtragen. Man sieht ja kaum eine Spur. Wir sind doch gestern Abend schon so viel gelaufen.«

»Komm, du Griesgram. Weiter oben hat sich der Nebel aufgelöst und es wird wärmer«, versprach Milena. »Du wirst sehen, es gibt nichts auf der Welt, was man nicht mit einem Spaziergang beheben kann.«

»Was willst du beheben, geht’s dir so schlecht?«

»Mir nicht, aber dir, so wie du jammerst. Komm, eins, zwei, eins, zwei, merkst du, wie das Leben zu schwingen anfängt?«

»Ich bin untauglich für das Militär, das hatte ich dir doch gesagt.«

Beharrlich zog sie ihn weiter. »Nichts da, eins, zwei, eins, zwei, noch kämpfst du mit deinen Füßen, noch zagt dein Herz, doch gleich beginnt es zu rasen, fließt über und beruhigt sich, sobald es auf diese Weise geschaukelt wird, du wirst sehen, bald kannst auch du lachen.«

»Woher stammt dieser Versdrill denn? Von Hölderlin?«

»Das habe ich mir ausgedacht. Mit meinem Vater und seinen Freunden bin ich jeden Sonntag wandern gegangen. Und mit der Zeit wurde aus diesem Zwang eine Leidenschaft.«

»Mit der Zeit, da siehst du es, aber ich soll ohne Vorwarnung, aus heiterem Himmel, oder besser gesagt, neblig eiskaltem Grund hier heraus.«

»Du bist ja auch schon ein alter Mann, verzeih, ich wollte sagen, erfahrener, reifer Herr, ich war ein kleines Kind damals, das für einen Erwachsenenschritt drei große brauchte. Für mich war es dreifach anstrengend, in der Herrenrunde mitzuhalten. Ich bin der Meinung, dass man sich jeden Kummer vom Leib laufen kann. Egal, ob Mathematikexamen oder Liebesleid.«

»Funktioniert das auch, wenn man ein Buch schon komplett im Kopf hat, aber nicht weiß, wie man es vom Gehirn aufs Papier kriegen soll?«

»Ganz besonders dann«, behauptete sie, froh endlich seinem Gezeter eine Richtung zu geben. »Und wer weiß, eines Tages muss man selbst gar nicht mehr schreiben, das erledigt dann der Elektromensch, und du musst ihm nur noch diktieren.«

»Ein Elektromensch?«

»Ja, um den geht es doch in dem Stummfilm, der im Kino läuft, hast du noch nichts davon gehört?« Ernst schüttelte den Kopf, und Milena erzählte ihm die Handlung, so viel sie davon in der Zeitung gelesen und noch in Erinnerung hatte, den Rest schmückte sie aus, damit sie ihn ablenkte.

Je höher sie stiegen, desto heller wurde es und die Nebelschwaden lösten sich auf. »Nur noch ein kleines Stück, du wirst es nicht bereuen.«

Doch Ernst quengelte weiter wie ein Kleinkind. Sie ließ ihn schimpfen, murren und alle Welt verfluchen. Vergeblich, was Milena sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das zog sie durch. Beide schwitzten sie, als sie oben anlangten. Ernst japste bedenklich.

Beim Gärtnerhaus stand eine Bank. »Setz dich.« Milena wischte die Eiskristalle vom Holz.

»Zu Befehl, Generalin Jesenská.« Er schlug die Hacken zusammen. Wenigstens hatte er den Humor nicht verloren. Völlig erschöpft ließ er sich neben ihr nieder, streckte Arme und Beine von sich. Als Bankangestellter und Kaffeehausliterat war er längere Wege scheinbar nicht gewohnt.

»Ist es nicht wunderschön hier?« Milena sog die klare Morgenluft tief in die Lungen und blickte über die Stadt und den Fluss. Die Moldau glitzerte wie eine Schlange zwischen den Häusern. »Schau, dort ist das Nationaltheater und der Franzensquai.«

»Damit ich sehe, wo ich wohne, hast du mich bis hierher geschleift?« Er konnte seinen Groll nicht ablegen. »Und was machen wir jetzt?«

»Warten.« Sie drückte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust, hörte, wie sein Herz unter den Wollschichten raste. Sie setzte sich wieder auf. »Sag bloß, du bist noch nie hier oben gewesen?«

»Wozu sollte ich? Mir genügt die Stadt von unten, ich bin kein Vogel und will auch keiner werden wie du.«

»Schau.« Sie zeigte auf einen roten Punkt am Horizont, der sich durch die Nebelwand schob. Langsam wurde er größer und tauchte den Himmel in ein sanftes Rosa. Die Sonne ging auf und brachte ganz Prag mit seinen Türmen und Dächern, Mauern und Winkeln zum Leuchten.

Milena war ganz ergriffen und den Tränen nahe. Sie liebte, wurde geliebt und blickte dabei im Sonnenaufgang über ihre Heimatstadt.

»Du hast eindeutig zu viel von den Romantikern gelesen.« Ernst gähnte laut.

»Davon kann man nicht genug lesen.« In der Tat, sie schwärmte für diese Literatur. Hölderlin, Bettina von Arnim und der Tscheche Karel Hynek Mácha besonders, an dessen Denkmal sie vorhin vorbeigegangen waren. Mit nur sechsundzwanzig war er an der Cholera gestorben, hatte aber der Welt ein Werk aus wunderschönen Verserzählungen hinterlassen. »Was spricht dagegen, immer wieder zu versuchen, das Denken und Fühlen zusammenzubringen und nach der blauen Blume zu suchen?«

»Das kann man doch auch im Sommer auf einer Wiese tun oder wenigstens an einem Nachmittag, wenn es wärmer ist. Und nicht mitten im Winter.«

»Mein Vater sagt immer, was jeder kann, müssen die Jesenskýs nicht tun. Also, Herr Pollak von Meckerhausen, wie stellen Sie sich die blaue Blume der Romantiker vor?«

»Gar nicht, die Natur kommt auch ganz gut ohne mich zurecht und ich ohne sie.«

»Das glaubst du wohl selbst nicht. Und bevor du mich fragst, sage ich es dir gleich. Ich stelle sie mir als Rittersporn vor.« Milena wollte sich ihre Stimmung von seinem Gestichel nicht zerstören lassen. »Der Kämpfer unter den Blumen. Giftig, aber wunderschön.«

»Genug von heldenhaften Blumen und Wintersonne, ich will zurück. Lass uns noch ein bisschen das Bett aufwärmen, bevor der Tag richtig beginnt.«

Zurück in der Obstgasse, brauchten sie nicht zu klingeln. Dieses Mal hatte Milena an den Schlüssel gedacht. Kaum legte sie sich nieder, hörten sie erst die Tür, dann Schritte im Flur. War das Renata? Wollte sie Milena das Frühstück bereiten? Sie sprangen aus dem Bett. Ernst stieß sich den Kopf am Schreibtisch, als er seine Schuhe aufsammelte. Er fluchte. Kurz darauf stand Milenas Vater im Zimmer.

Hastig schob sie den geliehenen Pullover und seine anderen Sachen unters Bett. »Darf ich Ihnen Herrn Pollak vorstellen?«, fragte sie, als kämen sie und nicht er gerade zur Tür herein. »Er ist …, wir sind …« Sie verstummte. Eine passende Ausrede fiel ihr nicht ein. Noch dazu trug sie bloß ihr Unterkleid. Ein Hauch aus Nichts, fehlte nur noch die Zigarettenspitze und sie wäre filmreif. Vater schwieg, eine Zornesfalte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen, die bedrohlich pulsierte. Dann packte er Ernst am Hemdsärmel und zog ihn zu sich.

»Was fällt Ihnen ein, lassen Sie mich.« Ernst versuchte sich aus der Umklammerung zu winden. Doch unter Jan Jesenskýs kräftiger Statur verschwand er fast.

»Ich will es mir nicht ausmalen, was ihr hier getrieben habt«, donnerte Vater auf Tschechisch, Milena wusste nicht, ob Ernst alles verstand. »Aber damit ist ein für alle Mal Schluss. Verschwinden Sie und zwar für immer, ich will Sie nie mehr in der Nähe von meiner Tochter sehen.«

»Sie können … Milena … mir nicht verbieten«, rief Ernst in stockendem Tschechisch. »Ich …, ich fordere Sie auf zum …, zum …« Er suchte offenbar nach der passenden Formulierung. »Soboj.«

Milena presste die Hand auf den Mund und unterdrückte einen Schrei. Bestimmt hatte er sich versprochen, wollte stattdessen Vater bloß um Verzeihung bitten.

Jan Jesenský wirkte ebenso verblüfft. Er lockerte seinen Griff. Ernst plumpste auf die Bettkante zurück. Dort strich er sich die Haarfransen aus der Stirn, zog den Kragen aus der Weste und knöpfte sie zu.

»Riskieren Sie nicht noch mehr, junger Mann«, sagte Vater. »Sonst nehme ich Sie am Ende beim Wort.« Seine Stimme klang plötzlich milder, als wäre er erstaunt, einen ebenbürtigen Gegner gefunden zu haben.

»Das müssen Sie aber, Herr Professor«, antwortete Ernst, nun wieder auf Deutsch. »Ich bin jederzeit bereit, mich mit Ihnen zu duellieren.« Er gab nicht nach. Und auch wenn es Milena imponierte, konnte sie kaum glauben, was sie hörte: »Ich werde mich mit meinen Freunden beraten und dann fordere ich Sie auf Pistolen.« Von wegen, nur sie wäre romantisch. Ernst hatte offenbar zu viele Musketier-Romane gelesen, doch leider ahnte er nicht, mit wem er es aufnehmen wollte. Ihr Vater hatte sich als Student schon einmal duelliert. Und dass er, und nicht der andere, daraus unverletzt hervorgegangen war, sprach Bände.

»Keine Pistolen, Herr Pollak, wenn schon …«, Vaters Deutsch hörte sich ein wenig eingerostet an, »dann muss ich auf Säbel bestehen.« Er war offenbar auf den Geschmack gekommen.

»Schluss jetzt, hört auf, alle beide.« Milena ging dazwischen. »Ernst, ich glaube, du gehst jetzt besser«, bat sie ihn, bevor es noch weiter eskalierte. Er tat den Mund auf, um ihr zu widersprechen, schwieg aber dann, als er ihren flehenden Blick bemerkte, klaubte Hut und Sakko auf und trat zur Tür.

»Halt«, donnerte Vater. »Hiergeblieben.« Wie früher Tip und Top pfiff er ihn zurück. Milena kannte sich mit den Duellgepflogenheiten nicht aus, womöglich gab es, einmal ausgesprochen, kein Zurück mehr. Sie rechnete mit dem Schlimmsten. »Herr Pollak, Sie haben Socken mit meinem Monogramm an den Füßen.« Ernst, schon halb draußen, sah an sich hinunter und hob ein Hosenbein. JJ prangte auf dem Knöchel des Strumpfes.

Kaum war er fort, fing ihr Vater erneut zu toben an. »Was fällt dir ein? Du führst dich wie eine Straßendirne auf. Ausgerechnet mit diesem …, diesem Juden.« Er spie das Wort fast aus.

»Woher wissen Sie, Vater, dass er Jude ist?« Milena schnappte sich ihren Morgenmantel und zog ihn über. Hatte er etwa vorhin den jiddischen Fluch von Ernst gehört?

»Man hat euch gesehen, eng umschlungen, an der Moldau, im Theater und überall. Die ganze Stadt weiß es.« Ein Spuckeschwall ging auf sie nieder. Er fuchtelte mit den Fäusten vor ihrem Gesicht. Früher hätte er sie verprügelt und eingesperrt. Einmal musste sie die ganze Nacht zusammengekauert in einer Truhe verbringen, bis ihr fast die Luft ausgegangen war. Doch seit Mutters Tod rührte er sie nicht mehr an. Außerdem waren sie inzwischen fast gleich groß. »Das hat Konsequenzen, das sag ich dir. Dieses ›Minerva‹ hat dich verdorben, ich hätte es niemals zulassen sollen, dass du dort hingehst.«

Sie wollte sich nicht kleinkriegen lassen. »So ist das mit den Frauen, Papa. Auch Sie liegen Ihnen gelegentlich zu Füßen, damit Sie ihnen nicht in die Augen sehen müssen.« Dank Agneta, seiner Geliebten, hatte sie auf dieses besondere Gymnasium gehen dürfen. Mit ihrer Hilfe hatte sie ihn damals dazu überredet.

»In diesem Ton sprichst du nicht mit mir.« Er hob die Hand. Sofort duckte sie sich, doch der Schlag blieb aus. Müde senkte er den Arm und rieb seine Handfläche am Hosenbein, als wollte er sie abkühlen. Milena war zu weit gegangen, wie so oft. Was konnte sie dafür, dass sie seinen Dickschädel geerbt hatte? Sturkopf auf Sturkopf, bis es krachte, das hatte Mutter schon vor Jahren festgestellt. Damals konnte maminka schon nicht mehr aufstehen. Ihre Rückenbeschwerden banden sie an die Wohnung, tapfer schleppte sie sich von Möbel zu Möbel, bis sie einen Rollstuhl bekam. Doch bald lag sie nur noch im Bett, wurde schwächer und schwächer, verschwand fast zwischen den Kissen. Dann hatte sich Milena manchmal davongeschlichen, Stunden allein im Park verbracht und Leuten beim Federballspiel zugesehen. Sie wollte weg von der Kranken, für deren Pflege sie verantwortlich war, um ein bisschen für sich zu sein, ihre Gedanken willkürlich schweifen zu lassen und einmal nichts machen zu müssen. Als sie mit schlechtem Gewissen zurückkehrte, sagte ihre Mutter, sie würde das Gleiche tun, wenn sie könnte, und versuchte ein Lächeln. In der Schule wusste niemand, dass Milena ihre Mutter pflegte. Sie behauptete, sie müsste nachmittags lernen, um Einladungen und Besuche zu vermeiden. Dabei schrieb, las oder rechnete sie höchstens noch ein bisschen vor dem Einschlafen, wenn Vater sie endlich zur Nachtwache ablöste. Mutter ging es schlechter und schlechter, bald war sie kaum noch ansprechbar. Doch dann, eines Tages, als Milena aus der Schule kam, glaubte sie, ein Wunder sei geschehen.

Maminka war wie ausgewechselt, bat Milena sogar, ihr beim Aufstehen und Anzukleiden zu helfen. Sie fingen mit der Frisur an, Milena kämmte ihr das dünn gewordene Haar. »Hol mir doch bitte das cremefarbene Kleid aus dem Schrank, das mit der Brüsseler Spitze, und auch die goldene Brosche aus dem Salon«, sagte Mutter und stellte ihre zerbrechlich gewordenen Beine aus dem Bett.

Als sie zur Schmuckschatulle ging, fiel ihr der große Blumenstrauß auf, der auf dem Tisch im Salon stand. »Wer hat dir den gebracht?«, fragte sie.

Mutter erhielt kaum Besuch. Ihre Freundinnen ertrugen den Anblick nicht mehr und außerdem hatten sie Angst vor Ansteckung. Der einzige Umgang war der Doktor, aber der kam selten, da Vater seiner Frau die Medikamente selbst verabreichte. »Na, von meinem lieben Mann habe ich den Strauß bekommen. Ist er nicht herrlich? Bitte trag ihn doch noch mal her und dreh ihn ein wenig, Milka. Ich habe die Blumen hinten noch gar nicht gesehen, sind das Freesien?« Erschöpft musste sie sich wieder zurücklehnen, trotzdem strahlte sie durch ihre Blässe hindurch wie schon lange nicht mehr. Milena tat ihr den Gefallen und brachte die Vase, damit sie den üppigen Strauß von allen Seiten bestaunen konnte. War es das schlechte Gewissen, das Vater dazu gebracht hatte, seiner Gattin solch ein Geschenk zu machen? Seine Freizeit verbrachte er lieber mit Glücksspielen oder mit anderen Frauen anstatt am Krankenlager seiner Gattin.

Als sie gegen Abend den Schlüssel im Türschloss hörten, hatte Milena sie unter größter Kraftanstrengung in den Rollstuhl gehievt. In Erwartung saß Mutter, hergerichtet wie eine Braut, im Salon neben dem Strauß. Das Kleid war ihr viel zu weit geworden, die knochigen Hände hatte sie im Schoß gefaltet und sogar Lippenrot aufgelegt. Vater eilte in großen Schritten durch die Zimmer, an ihnen vorbei, als suchte er etwas. Dann war es eine Weile still. Sie verharrten angespannt.

»Janosch, wir sind hier«, rief Mutter mit brüchiger Stimme, fröhlich wie nie, und rührte Milena zu Tränen. Es war ewig her, dass sie Vater bei seinem Kosenamen gerufen hatte. Sie wollte hinausgehen, damit ihre Eltern ungestört waren. Doch Mutter bat sie hierzubleiben. Fürchtete sie sich etwa?

Es dauerte, bis er hereinkam. Er wirkte gehetzt, nahm seine Frau kaum wahr, begrüßte sie nicht einmal. »Los, Milena, hilf mir mit dem Kragenknopf, bevor ich ihn noch abreiße.« Auch er hatte sich schick gemacht, trug das plissierte Hemd mit den Goldmanschetten. Milena sprang vom Sessel auf und nestelte an seinem Kragen.

»Welch wunderschöner Strauß, Janosch, Liebster, damit hast du mir solch eine Freude gemacht.« Mutter lechzte nach Vaters Aufmerksamkeit.

»Ach, der Strauß, richtig«, sagte er, hob ihn aus der Vase, schüttelte ihn kurz aus, damit das Wasser abtropfte. »Den habe ich für eine Patientin gekauft. Sie wartet.« Und Vater ging, ohne ein weiteres Wort. Als die Haustür zufiel, sank Mutter zusammen, als hätte man auch sie ausgeschwenkt. Alles Lebendige schien aus ihr gewichen. Milena half ihr ins Bett zurück, wo sie mit glasigen Augen liegen blieb, egal, wie sehr sie versuchte, sie aufzumuntern. Und das änderte sich auch nicht mehr. Sie wurde von Tag zu Tag durchsichtiger und starb bald danach.

Seither wussten beide, Milena und ihr Vater, wo ihre Schwachstellen lagen. »Wie geht es eigentlich Agneta?«, fragte sie, in Gedanken noch bei dieser bitteren Erinnerung. »Waren Sie heute Nacht bei ihr oder einer anderen?« Nachgeben würde Milena erst, wenn sie ganz am Boden lag, und vielleicht nicht einmal dann.