6. Kapitel

STIEFMÜTTERCHEN

Ein paar Tage später rief Tante Mařena, die Schwester ihres Vaters, an und lud Milena zum Adventstee ein. Für ein Gespräch von Frau zu Frau, an ihrer Mutter Stelle, wie sie betonte. Das hatte bestimmt Vater angeordnet. Milena mochte die Tante, sie war mit dem Künstler verheiratet gewesen, der das herrliche Mosaik am Eingang zu Vaters Praxis gemacht hatte. Als Tante Mařena nach dem Tod ihres Mannes das Atelier ausräumen wollte und die Steinchen aufsammelte, fing sie an, sie aufzukleben, und vollendete so nach und nach seine angefangenen Werke. Es sei schade um das übriggebliebene Material, sagte sie der Familie gegenüber. Auf diese Weise verarbeitete sie auch ihre Trauer. Heute setzte die Tante eigene Ideen um und erhielt Aufträge von Kirchen und betuchten Privathäusern, was ihr als Witwe ein einigermaßen behagliches Leben ermöglichte. Milena ahnte, dass Mařena im Auftrag ihres Vaters die Wogen glätten und sie zur Besinnung bringen sollte. Doch sie würde sich nicht einschüchtern lassen.

Prompt passte sie Vater im Treppenhaus ab. Im Arztkittel, mit Stirnlampe und Stethoskop um den Hals kam er aus der Praxis. »Steck das ein und lass es draußen niemanden sehen. Sonst überfällt dich noch jemand.« Er drückte ihr etwas, das in graues Papier gehüllt war, in die Hand.

»Was ist das?«, fragte Milena und schob das Päckchen in die Manteltasche.

»Das braucht dich nicht zu interessieren. Gib es einfach meiner Schwester und nur ihr, kann ich mich darauf verlassen?«

»Warum denken Sie, dass ich es ihr nicht geben will?«

»Weil ich dir nicht mehr vertrauen kann.« Er sah sie durchdringend an. In seinen Augen spiegelte sie sich. »Ich weiß, dass du dich aus meinem Medikamentenschrank bedient hast«, sagte er. »Du brauchst dich nicht verteidigen und alles noch schlimmer machen. Deine ständige Lügerei zermürbt mich noch völlig. Warum machst du mir das Leben so schwer, Kind? Hast du nicht alles, was eine junge Frau begehrt?« Sie schwieg, wollte ihm am liebsten alles Mögliche entgegenschleudern, aber wegen Ernst beherrschte sie sich. Sie hatte ihn ohnehin schon in Gefahr gebracht. Außerdem wollte sie keine Ohrfeige kassieren und schaute lieber auf ihre Stiefel, versuchte mit den Zehen zu wackeln, im Takt des Brahmswalzers. Irgendwann ging jede Moralpredigt zu Ende, auch Vaters und selbst wenn sie so lange dauerte, als würde er ihr das Alte Testament vorlesen. Ganz vorne auf ihrem rechten Schuh war ein Fleck, bemerkte sie. Es sah aus wie Farbe. Vielleicht war auch das Leder schon durchgewetzt und ihr Strumpf lugte hindurch?

Vater redete weiter. »Du meinst, alles ist selbstverständlich. Andere hungern und kämpfen um ihre Existenz. Aber du bedienst dich einfach an meinen Sachen, an meinem Geld, an allem. Allein in den Schützengräben sterben täglich wer weiß wie viele. Und du, was machst du? Nicht mal das Privileg, studieren zu dürfen, genügt dir. Nein, du berauschst dich, du vergnügst dich aufs Schamloseste und setzt meine Ehre aufs Spiel.«

Nichts war ihm wichtiger als seine Ehre. Milena zwang sich zur Beherrschung und starrte ihn an, dabei versuchte sie nicht zu blinzeln. Das Duell fiel ihr wieder ein. Möglicherweise forderte er Ernst tatsächlich noch heraus, wenn sie sich nicht zusammenriss. Sie spähte an ihm vorbei zur Praxistür, glaubte von drinnen ein Husten zu hören. »Wartet nicht eine Patientin auf Sie?«

»Lenk nicht ab. Ich weiß Bescheid. Staša hat euren Laudanum-Konsum gebeichtet.« Milena hätte dran denken müssen, dass Stašas Vater alles aus ihr herausquetschen würde wie aus einer Zitrone. »Steckt hinter diesen Eskapaden auch dieser Pollak, habt ihr etwa ihn und seine jüdischen Kumpanen mit Drogen versorgt?«

»Ganz sicher nicht.« Wenigstens das konnte sie aufrichtig sagen.

»Dann gibst du zu, dass ihr Mädchen etwas genommen habt?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern sprach weiter: »Sag mal, hast du völlig den Verstand verloren? Was stimmt nicht mit dir? Lag es am Mohnsaft, wie viel hast du davon genommen? Oder nimmst du es sogar weiter? Ich habe auch Scherben gefunden. Hast du deswegen diesen Juden in dein Bett gelassen?« Nun sprach er endlich aus, was er dachte. Er glaubte, Ernst hätte sie gezwungen. »Ich könnte ihn verhaften lassen. Wie alt ist Pollak eigentlich, vierzig?«

»Übertreiben Sie nicht, Papa. Ernst ist erst einunddreißig.«

»Und du bist noch minderjährig. Was der Kerl mit dir gemacht hat, ist ein Verbrechen, abgesehen von allem anderen. Aber jetzt ist Schluss. Ich habe das Schloss zu meiner Praxis austauschen lassen. Du kommst nur noch hinein, wenn ich es ausdrücklich erlaube, ich verlasse mich auf Renata. Dir rate ich, zu tun, was ich sage, sonst zwingst du mich dazu, zum Äußersten zu greifen.« Er fuchtelte mit der Schlaghand vor ihrem Gesicht.

»Was meinen Sie damit? Wollen Sie mich verhungern lassen wie meinen Bruder?« Milena schaffte mit nur einem Satz, was er bei ihr mit seinem gesamten Vortrag erreichen wollte: Sie traf.

Die Farbe wich aus seinem Gesicht. »Wer behauptet das? Denkst du wirklich, ich wäre zu so etwas fähig? Unser Sohn war von Geburt an krank.« Er blinzelte irritiert. »Zu gern hätte ich ihn aufwachsen sehen.« Er wandte sich von ihr ab, rieb sich übers Gesicht. »Also gib Mařena das Päckchen, pass auf, dass es dir nicht unterwegs herunterfällt. Zurzeit ist Morphium kostbarer als Gold. Sie soll es für den Notfall zum Tauschen benutzen.« Ohne ein weiteres Wort ging er in die Praxis zurück und warf die Tür hinter sich zu.

Tante Mařena empfing sie im Atelier, wo sich leuchtende Murano-Glasscheiben vor einer Wand stapelten. Nach Gutdünken zerschlug sie die Platten in kleine Stücke und sortierte sie in die vielen Fächer des Regals, was den Eindruck erweckte, als beträte man einen Regenbogensaal. Auf dem großen Tisch lag ihr neuestes Werk. Milena betrachtete das feuerspeiende Tier mit den mächtigen Klauen. Vorsichtig strich sie über das Mosaik, es fühlte sich wirklich wie Schuppen an. Die schillernde Haut war aus unzähligen Steinchen zusammengesetzt. Sie unterschieden sich farblich nur geringfügig voneinander. Auf diese Weise erzeugten sie aus der Entfernung einen plastischen Eindruck, so als würde sich der Drache gleich aus dem Tisch erheben und die Welt in Brand setzen wollen. »Wie viele Stunden arbeitest du schon daran?« Wenigstens durfte sie die Tante duzen.

»Ich weiß nicht genau. Wenn ich nicht schlafen kann, komme ich sogar nachts her. Aber dann muss ich wieder Pause machen und viel spazieren gehen, um die Augen zu entlasten und den Kopf freizukriegen. Gefällt es dir?«

»Ja, sehr. Es ist großartig. Vor was duckt sich der Drache denn?« Das Tier hielt den Kopf gesenkt, der Hinterleib wirkte sprungbereit.

»Das soll eigentlich der Teufel sein, der vom heiligen Georg besiegt wird. Aber mit diesem Heiligen tu ich mich noch schwer.« Mařena zeigte ihr die Skizzen. Auf den Kohleentwürfen wirkte der Mann mit dem Speer tatsächlich noch ein wenig schwach und sah zu unscheinbar aus. So, als ob er sich trotz seiner Waffe nicht recht in die Nähe des Ungeheuers traute. »Siehst du, Georg braucht eindeutig noch mehr Kraft und Selbstvertrauen. Ich sollte mehr nach der Wirklichkeit arbeiten und nicht nur aus meiner Phantasie.« Sie lächelte. »Vielleicht werde ich mir ein Modell suchen.« Das klang, als wüsste sie schon jemanden. »So, nun aber genug von mir.« Sie stapelte die Skizzen wieder und legte sie zurück in die breite Schublade unterm Tisch. »Stell bitte die Stühle und den kleinen Tisch ans Fenster. Das Teewasser hat schon gekocht.« Sie holte den Wasserkessel vom Kanonenofen, dessen Rohr quer durch den Raum lief und eine angenehme Wärme verbreitete. Gehorsam tat Milena, was die Tante von ihr verlangte. Sie legte ein sauberes Zeichenblatt anstelle eines Stofftuchs auf den Tisch, deckte Tassen, Teller, Zuckerdose und Besteck darauf. Dann holte sie die Stiefmütterchen aus der Tasche, füllte ein leeres Glas mit Wasser und stellte sie dazu.

»Schön sind die, wie lauter kleine Farbkleckse. Weißt du, wie die auf Portugiesisch heißen?«

»Nein, wie?«

»Amor perfeito. Perfekte Liebe.« Mařena brühte einen Kräutertee auf, dessen Duft nach Brombeerblättern und Melisse den Raum erfüllte.

»Ich wusste gar nicht, dass du auch Portugiesisch kannst?«

Die Tante schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht, aber ein Freund …« Sie winkte ab, lächelte wieder in sich hinein. »Wo gab es Stiefmütterchen um diese Jahreszeit?«

»Am Altstädter Ring. Wo genau, verrate ich nicht, Geschenk ist Geschenk.« Die Tante musste nicht erfahren, dass die Stiefmütterchen mit ihren bunten Gesichtern vom neuen Jan-Hus-Denkmal stammten. Nur fünf aus einer Reihe von dreißig oder fünfzig Rabatten hatte Milena abgeschnitten. Sie waren gerade gepflanzt worden und wären sowieso in der nächsten Nacht erfroren. »Erzähl du mir lieber von diesem geheimnisvollen Portugiesen.«

»Da gibt’s nichts zu erzählen. Richte bitte Jan meinen Dank für das Päckchen aus.« Mařena hatte es vorhin, ohne es zu öffnen, im Bücherregal versteckt. Scheinbar wusste sie, was drin war. Sie schenkte Tee ein und setzte sich zu ihr. »Lass es mich gleich vorweg sagen. Ich weiß, dass du deinen eigenen Kopf hast. Ich verstehe auch, dass du deinen Weg gehen musst, auch wenn das meinem Bruder widerstrebt. Ich, für mich, habe das viel zu spät erkannt, und deine Mutter kam nicht mehr richtig dazu.« Milenas Mutter musste die Brandmalerei aufgeben, mit der sie viele Möbel, Holzteller und Besteck mit schönen Ornamenten verziert hatte, als durch die Krankheit auch ihre Hände die Kraft verloren. »Aber vielleicht gelingt euch jungen Frauen das, was wir nicht erreicht haben, wenn endlich wieder Frieden ist. Bertha von Suttner fordert es schon seit 1889.« Sie gab Milena ein zerfleddertes Büchlein, das auf dem Fensterbrett zwischen einigen Kunstbüchern lag und den tschechischen Titel Odzbrojte! trug.

»Das kenne ich, das haben wir im Deutschunterricht gelesen«, sagte Milena. »Die Waffen nieder« hieß es im deutschen Original.

»Sehr gut. Das ›Minerva‹ imponiert mir immer noch mehr und macht seinem Ruf alle Ehre.«

Die Ehre, da war sie wieder. Immer ging es um die Ehre in der Familie Jesenský. »Ich wusste gar nicht, dass du auch Übersetzungen aus dem Deutschen liest?« Milena strich die Eselsohren des Büchleins glatt, sie bogen sich sofort wieder zurück.

Mařena nickte. »Doch, doch, wenn sie gut sind. Ich mache keinen Unterschied, aus welchem Land jemand kommt oder welcher Nationalität er angehört. Und auch die Religion ist mir nicht so wichtig, solange jemand aufrichtig ist. Der Mensch und das, was er tut, zählt. Außerdem leben wir in einer geteilten Stadt, ich will meine Nachbarn verstehen und nicht nur über sie schimpfen.« Darin war ihre Tante ganz anders als Vater. Er weigerte sich, Deutsch zu sprechen, war Nationalist durch und durch. Dabei gehörten nicht nur Tschechen zu seinen Patienten und bei seiner Geliebten nahm er es mit der Herkunft auch nicht so genau. Agnetas Vater war Österreicher und arbeitete bei der Militärzensur, soviel Milena wusste.

Mařena holte eine Dose mit Anisplätzchen, die merkwürdig grau waren, und bestreute sie noch mal mit Zucker. »Die sind aus Ersatzmehl, das Einzige, was man noch auf Bezugschein kriegt. Wo Mehl drauf steht, muss keines drin sein. Zum Glück habe ich genug Anis und Zucker auf Vorrat. Ich hoffe, sie schmecken dennoch.« Nicht nur von Renata wusste Milena, dass es in der Stadt zu Engpässen bei der Versorgung kam. Um Brot, Eier oder Fleisch über die streng reglementierten Bezugskarten zu erhalten, musste man in den Geschäften stundenlang anstehen und ging am Ende trotzdem manchmal leer aus. Seither bezahlten die Patienten ihres Vaters mit Lebensmitteln, sodass im Hause Jesenský noch keine Not herrschte. Mařenas Plätzchen sahen nicht nur wie Zement aus, sie schmeckten auch so und knirschten beim Reinbeißen. Milena brauchte jede Menge Tee, um sie hinunterzuschlucken.

»Was ist denn nur mit dir los, meine Liebe?«, lenkte die Tante auf den eigentlichen Grund, warum sie sie herbestellt hatte. »Willst du deinem Vater noch den Rest Würde nehmen? Du bist alles, was er noch hat. Auch wenn er es dir nicht zeigt, Jan liebt dich mehr als sein Leben.«

»Dann soll er mich lassen«, erwiderte Milena und warf das angebissene Plätzchen zurück auf den Teller, wo es das zierliche Porzellan zu sprengen drohte. Zorn glühte in ihr auf. Mit diesem Umschwung hatte sie nicht gerechnet. Nach der milden Einleitung hatte sie geglaubt, die Tante wäre auf ihrer Seite. Von wegen Frauenrecht und Emanzipation. Sie funkelte sie an.

Doch das schien Mařena nicht zu erreichen, sie rührte Zucker in ihren Tee und klopfte den Löffel am Tassenrand ab. »Was findest du an diesem Mann? Erzähl, ich will alles wissen. Wie alt ist er überhaupt?«

»Spielt das eine Rolle? Wenn ich sage, er ist jünger als ich, dann gilt er in deinen Augen wahrscheinlich als unreif, ist er älter, dann …«

»So war das nicht gemeint«, unterbrach Mařena. »Ich habe dich ganz ohne Hintergedanken gefragt. Ich möchte ehrlich erfahren, wie es dir mit ihm geht.«

Milena atmete auf und suchte sich ein weniger graues Plätzchen in der Dose. Ihr Magen knurrte, sie hatte Hunger und ihre Aufgebrachtheit würde ihr auch nicht weiterhelfen, das sah sie selbst ein. »Er ist zehn Jahre älter als ich, zufrieden?« Einen Rest Wut konnte sie nicht unterdrücken. »Und bevor du weiterfragst, ich bleibe mit Ernst Pollak zusammen, auch ohne Papas Einwilligung.«

»Verliebt zu sein legt sich, und wenn danach keine Liebe bleibt, dann kommt die nüchterne Wirklichkeit.«

»Aber ich liebe ihn so sehr.«

»Und er, liebt er dich auch?« Die Tante nahm ihre Hand und streichelte sie, das konnte sie noch weniger ertragen.

Sie versuchte sich ihr zu entziehen, doch Mařena hatte einen ähnlich festen Griff wie ihr Vater. »Natürlich.« Gesagt hatte Ernst das zwar noch nie, aber sie spürte es und war den Tränen nahe.

»Ach, meine liebe Milka«, sagte die Tante, »von Luft und Liebe kannst nicht einmal du leben. Und mit seinem kleinen Gehalt wird Herr Pollak kaum für eine Familie sorgen können.«

»Du täuschst dich. Ernst hat eine gut bezahlte Stellung bei der Österreichischen Länderbank.« Sie war froh, etwas Handfestes vorweisen zu können. Dann hielt sie inne, als ihr bewusst wurde, dass die Tante sich verplappert hatte. »Woher weißt du, wo er arbeitet?« Plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Aha, ich verstehe, so ist das. Ihr habt bereits Nachforschungen über ihn angestellt.«

Mařena schenkte Tee nach und überging die Frage. »Und wenn Herr Pollak in den Krieg muss, was machst du dann?«

»Das wird nicht geschehen. Ernst wurde zurückgestellt.«

»Sei dir da nicht so sicher. Wir wollen das Beste hoffen, aber wer weiß, wie lange das Gemetzel noch dauert und wie viele Opfer wir alle bringen müssen.« Sie nippte an ihrer Tasse. »Doch nun beruhige dich. Ich bitte dich bloß, nichts zu überstürzen. Am besten, du konzentrierst dich weiter auf dein Studium. Ich bin auf deiner Seite, ehrlich. Auch dein Vater wird sich wieder beruhigen, du musst ihm nur etwas Zeit geben. Ich rede mit ihm, und dann hoffe ich, dass sich Herr Pollak bald der ganzen Familie vorstellt, wenn er um deine Hand angehalten hat. Spätestens dann sind alle zufrieden. In diesen Zeiten müssen wenigstens wir als Familie zusammenstehen, meinst du nicht?«