7. Kapitel

KAMILLE

Aufgewühlt kehrte Milena nach Hause zurück. Vorerst erzählte sie Ernst nichts von dem Gespräch mit der Tante. Und auf keinen Fall würde sie ihn bitten, sich ihrer Familie zuliebe mit ihr zu verloben. Seit ihr Vater ihn hinausgeworfen hatte, trafen sie sich nur noch im Arco, gleich nach den Vorlesungen. So hatte es den Anschein, als beherzige Milena den Rat der Tante. Dass sie sich weiterhin oft verspätete, erklärte sie mit der Stundenplanverschiebung, die gab es im Krieg andauernd. Es war sowieso ein Wunder, dass überhaupt noch Unterricht stattfand. Immer mehr Professoren wurden eingezogen oder zu kriegswichtigeren Aufgaben, als über Musik zu dozieren, abberufen. So übernahmen nur wenige Lehrer die Fächer der anderen. Dazu kam das Wetter, seit Tagen schneite es unaufhörlich. Bald würde ganz Prag unter einer weißen Decke begraben sein. Der Automobilverkehr wurde lahmgelegt und die Kutscher stiegen auf Schlitten um. Im Kaffeehaus ging alles wie gewohnt weiter, als gäbe es keinen Winter, keine Lebensmittelengpässe und keinen Krieg. Dadurch waren Ernst und Milena nie unter sich. Die Oberkellner begrüßten die Herren nicht mit Namen, sondern mit ihren schriftstellerischen Etiketten, als hingen diese ihnen um den Hals. Da war der Herr Lyriker, der Herr Mystiker und der Herr Dramaturg. Ernst redeten sie mit Herr Kenner an, seiner Gelehrtheit wegen. Nur Milena blieb das Fräulein Jesenská.

Hauptsächlich debattierten sie über die Monarchie, die zusammenzubrechen drohte, und mit welchen Mitteln man einer immer noch drohenden Einberufung entkommen könnte. Man munkelte, dass es einen tschechischen Widerstand gegen die Habsburger gäbe. Im Falle einer deutsch-österreichischen Niederlage wollte man eine böhmische Unabhängigkeit vorantreiben. Doch das waren alles nur Gerüchte. Dass ihre Heimat ein eigener, nicht mehr von Österreich regierter Staat werden sollte, konnte sich Milena nicht vorstellen. Dafür lebte sie schon viel zu lange in der geteilten Stadt. Mittlerweile langweilte sie das endlose Gerede, was man nicht alles tun könnte, wie sich die Welt veränderte, wenn man dabei mehr Einfluss hätte und nicht familiär an Frau und Kind gebunden wäre. Manchmal polterte sie mit ihrer Meinung dazwischen. »Nur weil eure Ehefrauen zu Hause die Heimchen am Herd geben, sich um eure Kinder und den Haushalt kümmern, könnt ihr hier rauchen und lesen und den Tag lang im Kaffeehaus philosophieren.« Die vielen deutschen Worte aneinanderzureihen und so eindrücklich wie möglich auszusprechen, verlangten all ihre Kraft. Antworten erhielt sie keine, nur amüsierte Blicke. Bald kam sie sich im Arconautenkreis wie ein Harlekin vor. Nur Ernst schien von ihrer Meuterei angetan. Kurz vor der Ausgangssperre begleitete er sie nach Hause und zog sie unterwegs in eine halb zugeschneite Seitengasse. Dort drängte er sie hinter eine Tür einer leerstehenden Kaschemme, drückte sich an sie und schob ihr den Mantel und das Kleid hoch.

»Warte«, versuchte sie ihn zu bremsen. »Wollen wir nicht besser zu dir gehen?« Liebe im Stehen, an eine Holzwand gepresst, noch dazu bei dieser Eiseskälte, war nicht ihr Fall. Außerdem stank es hier, Scherben lagen herum, und die Schutzpolizei patrouillierte durch die Stadt. Sie konnten jeden Moment erwischt werden und dann würde man Milena als Prostituierte verhaften.

»Stell dich nicht so an. Im Grunde gefällt es dir doch.« Ernst machte weiter. Ihr ging das zu schnell, und grob war er auch. Sie versuchte, ihn von sich wegzudrücken.

Er keuchte. »Was ist?«

»Ich habe es doch schon erklärt, mir ist es zu kalt hier und was, wenn uns jemand sieht?«

Schließlich ließ er von ihr ab. »Wir können nicht zu mir.«

»Und warum nicht?« Milena richtete ihre Kleidung.

»Es geht eben nicht.« Er druckste herum. »Ich will nachher noch lesen.«

»Lesen?« Sie musste lachen.

»Ja, lesen.« Ernst meinte es ernst. »Ich bin gerade dabei, die Franzosen zu entdecken, du glaubst nicht, wie die schreiben können. Auch wenn ich fast jeden zweiten Satz nachschlagen muss, mein Schulfranzösisch ist mau, aber ich will alle Wörter richtig verstehen. Paul Claudel, André Gide begeistern mich. Ich glaube, in Frankreich entsteht eine ganz neue Art von Roman.«

»Etwas Ähnliches hast du doch erst von Franz Kafka gesagt, und er ist Prager.« Erst da fiel Milena auf, dass sie mit dem Dichter, den sie nun endlich getroffen hatte, bei der kurzen Begegnung kein einziges Wort gesprochen hatte, und trotzdem glaubte sie, sie hatten sich einiges gesagt, nur was, konnte sie noch nicht greifen.

»Du hast recht, aber Kafka ist anders, ein Phänomen, ein Einzelgänger. Ich sagte dir schon, dass ich ihn nirgends einordnen kann. Die Franzosen dagegen bilden gemeinsam eine neue Stilrichtung.«

Die Literatur schien Ernst noch mehr zu erregen als Milena. Da konnte sie nicht mithalten. Ein Anflug von Eifersucht keimte in ihr auf. Und wenn er log, wenn einfach eine andere Frau dahintersteckte, jetzt, wo sie mit ihm bereits länger zusammen war, als all seine Liebschaften bisher angedauert hatten? Andererseits sprach er so inbrünstig von diesen Autoren, vielleicht sagte er doch die Wahrheit. Und wenn ja, wollte sie daran teilhaben, so wie an allem, was er tat oder dachte. »Dann lies mir etwas Französisches vor. Im Bett hinterher oder vorher, wie du magst«, schlug sie vor.

Er schüttelte den Kopf. »Später vielleicht. Erst muss ich mich allein durchplagen. Momentan käme nur ein Gestotter heraus. Komm, ich bring dich heim.« An der Ecke zu ihrer Straße küsste er sie noch einmal auf die Wange, fast väterlich.

Sie kam sich wie weggestellt vor. Für einen Gidé oder Claudel oder wie sie hießen. Zu gern hätte sie gewusst, was sie falsch gemacht hatte, wo sie für ihn nicht das erfüllte, was er sich erwartete. Oder konnten Mann und Frau einfach nicht gleichgesinnt sein? Sie träumte von einem Geliebten, der ihr wirklich zur Seite stand, der sie bestärkte und sie an seinem Leben Anteil nehmen ließ. Darum beschloss sie, gleich morgen in eine Buchhandlung zu gehen, nach diesen Autoren zu fragen und sich in ihre Werke zu vertiefen. Vielleicht verstand sie dann, was Ernst suchte, oder fand zumindest in den Franzosen eine Antwort auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. »Au revoir«, rief sie ihm hinterher.

Mit einem Grummeln im Bauch erwachte Milena am nächsten Tag. Ihr war schlecht. Sie rannte auf die Toilette und übergab sich. Danach ging es wieder. Sie hoffte, dass es nur eine Magenverstimmung war, und machte sich ohne Frühstück auf den Weg in die Universität. In der ersten Vorlesung bekam sie auf einmal solchen Hunger, dass sie einer ihrer Mitstudentinnen, die durch Verwandte auf dem Land immer etwas Essbares bei sich hatte, ein Leberwurstbrot abbettelte. Kaum hatte sie abgebissen, musste sie sich erneut übergeben. Leberwurst, allein der Geruch, nie würde sie wieder welche essen können! Sie ging nicht mehr zurück in den Hörsaal, sondern ließ sich mit einer Schlittendroschke nach Hause bringen, um sich auszuruhen. Renata versorgte sie mit einer Wärmflasche und zwang sie, ein Glas mit verdünntem Essig zu trinken. Dazu verabreichte sie ihr jede Menge Kamillentee. Die Haushälterin glaubte schon, dass Milena sich die überall kursierende Spanische Grippe zugezogen hatte. »Man weiß ja nie, bei diesen studierten Leuten, was die alles anschleppen, gnädiges Fräulein.« Das klang, als ob Wissenschaft Seuchen übertrug. Milena dagegen hoffte, sich gestern in der verlassenen Kaschemme nicht irgendetwas eingefangen zu haben.

Noch bevor sie es selbst begriff, erfasste ihr Vater, was ihr fehlte, nachdem ihm Renata aufgeregt von ihrem Zustand berichtet hatte. »Wie lange bist du mit Pollak schon zusammen?«, fragte er.

»Mir geht es bereits besser, Papa. Ich habe bestimmt nur etwas Falsches gegessen. Vielleicht in der Mensa. Kein Wunder, heutzutage sind die Lebensmittel nicht das, was sie sein sollten.«

Sie wollte aufstehen, doch er hielt sie am Arm zurück. »Ich habe dich etwas gefragt. Also?«

»Zwei Monate etwa«, antwortete sie und wand sich aus seinem Griff. Dabei waren es genau zwölf Wochen, vier Tage und siebzehn Stunden. Milena führte innerlich Buch. Sie wusste, was Vater mit der Frage bezweckte. Er meinte nicht etwa die erste Begegnung, sondern wann sie mit Ernst zum ersten Mal geschlafen hatte. Doch auch wenn er ihren Körper als Arzt in- und auswendig kannte, ihr Intimleben ging ihn nichts an. In Ernsts Wohnung war es zum ersten Mal passiert. Am nächsten Tag hatte sie ihm seine Zimmer bis vor die Haustür mit einem Meer aus Blumen geschmückt.

»Ich nehme an, deine Menstruation ist ausgeblieben?«, bohrte Vater weiter.

»Sie war schon immer unregelmäßig, aber …« Ihr ging ein Licht auf. Wie konnte sie nur so naiv sein? Sie stieg aus dem Bett. »Ich muss es ihm sagen.«

»Nichts da. Du bleibst hier. Ich rufe Dr. Šimek an, er soll dich gleich morgen untersuchen.« Vater war schneller, er zog den Schlüssel aus der Tür und steckte ihn von außen in das Schloss. Sie hechtete ihm nach. Zu spät. Schon hatte er sie eingesperrt.