8. Kapitel

HAHNENFUSS

Was, wenn sie wirklich Eltern wurden? Wenn in ihrem Bauch bereits ein Kind heranwuchs, das zur Hälfte aus ihr und Ernst bestand? Eigentlich war sie noch gar nicht bereit, Mutter zu werden, und sich Tag und Nacht um ein Kleinkind zu kümmern. Wie ihre eigene Mutter würde sie dann nur noch ans Haus gebunden sein und all die mühsam erkämpften Freiheiten aufgeben müssen. Zugleich versuchte sie, sich Ernst mit einem Kind im Arm vorzustellen oder wie er an ihrer Seite mit dem Kinderwagen durch den Park schlenderte. Doch irgendetwas in ihr wollte das Bild noch nicht zulassen. Sie hatte das Ausbleiben der Monatsblutung kaum bewusst wahrgenommen, im Trubel der Ereignisse sogar als angenehm empfunden. Aber wie würde Ernst reagieren, wenn sie tatsächlich schwanger wäre? War er, anders als sie, bereit Vater zu werden? Gab es überhaupt Platz für eine Familie bei ihm, nicht nur räumlich, sondern auch in seinem Herzen? Und was wäre mit ihr selbst, würde Milena dann zu diesem Heimchen werden, das sich ausschließlich um die Belange des Kindes und ihres Mannes kümmerte? Sicher nicht, sie würde ein Teufel am Herd sein, weiter alles hinterfragen und sich nicht fügen. Doch wozu sich jetzt schon Gedanken darum machen, zuerst musste sie sich untersuchen lassen. Wie sie ihren Vater kannte, kam sie nicht daran vorbei. Sie lief zur Tür und klopfte.

»Was wollen Sie, gnädiges Fräulein?« Renata kam nach einigem Zögern, sperrte aber nicht auf. »Sie sollen in Ihrem Zimmer bleiben, bis der Herr Professor zurück ist.«

»Das verstehe ich«, lenkte Milena ein. »Aber bitte, tun Sie mir einen Gefallen. Ich muss kurz mit Ernst Pollak sprechen, danach bin ich auch gehorsam und still. Damit verstoßen Sie gewiss nicht gegen die Vorschriften meines Vaters. Ich verlasse das Zimmer keinen Schritt, versprochen.« Die Haushälterin reagierte nicht, Milena glaubte schon, sie wäre fortgegangen. Sie presste ein Ohr an die Tür. »Sind Sie noch da, Renata?« Sie lugte durch das Schlüsselloch, am Schlüssel vorbei, der außen steckte, glaubte Stoff zu erkennen. Renatas Schürze bewegte sich leicht und war mit kleinen gelben Hahnenfuß-Blumen bestickt. »Renata?«, rief sie noch mal.

Endlich antwortete sie. »Sie bleiben die ganze Zeit in Ihrem Zimmer und sprechen dennoch mit diesem Herrn?«

»Ja«, sagte Milena schlicht.

»Wie soll das vonstattengehen, ohne zu zaubern? Sie veräppeln mich.« Also darüber hatte sich Renata den Kopf zerbrochen.

»Geben Sie mir einfach den Telefonapparat aus dem Flur herein«, sagte Milena. »Die Schnur reicht bis in mein Zimmer.« Sie hatte das schon oft ausprobiert, wenn sie mit ihren Freundinnen ungestört reden wollte. »Ich beeile mich auch.« Doch Renata tat noch immer keinen Schritt. Milena lief zu ihrer Schmuckschatulle, in der sie ein paar Kronen aufbewahrte, und versuchte, die Scheine unter der Tür durchzuschieben. Die Tür lag dicht im Falz, allerbeste Schreinerarbeit war das, dafür hatte Vater gesorgt. Besser sie packte Renata bei ihrer Neugier. »Bitte machen Sie auf, ich habe etwas für Sie, das Sie vielleicht umstimmen wird.« Langsam drehte sich der Schlüssel und Renata drückte den Türgriff. Schnell gab sie ihr das Geld. »Hier, damit können Sie sich nach der ganzen Aufregung einen schönen Abend machen. Vielleicht in ein Konzert oder ins Kino gehen.«

Das half. »In ein echtes Konzert? Das würde ich wirklich zu gerne tun.« Renata nahm die Scheine und schob sie in ihre Hahnenfuß-Schürze. »Aber machen Sie schnell, Fräulein Milena.« Mit spitzen Fingern reichte sie ihr das Telefon, als wäre es tatsächlich ein übersinnliches Gerät. Gemeinsam klemmten sie die Schnur in die Tür und schlossen sie halbwegs. Milena kurbelte und wartete. Dann bat sie das Fräulein vom Amt um eine Verbindung mit Herrn Ernst Pollak. Erst glaubte sie, er sei nicht zu Hause, es war kurz nach fünf. Sie wollte schon im Arco anrufen lassen oder in der Bank, aber dann ging er doch an den Apparat. »Ich bin’s, Milena«, fing sie an. »Ich glaube, ich bin schwanger.«

Er sagte nichts, atmete nur.

»Hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe?«

»Ja, habe ich. Und was heißt das jetzt?«

»Das heißt, dass du und ich vielleicht Eltern werden.«

»Vielleicht?« Er benahm sich ähnlich begriffsstutzig wie Renata.

»Ich werde erst untersucht«, erklärte sie. »Aber wenn … Ich wollte, dass du es weißt.«

»In Ordnung.« Seiner Stimme merkte sie nicht an, ob er das jetzt auf die Untersuchung bezog oder dass er Bescheid wusste. Es klang, als habe er nicht richtig zugehört. Las er nebenbei?

»Wie, in Ordnung? Hast du überhaupt verstanden, was ich gesagt habe?« Sie verlor die Geduld. »Was soll ich tun, wenn … Ich meine, wollen wir nicht über die Auswirkungen reden, falls ich …, falls wir …« Ihr gingen die Worte aus.

»Das ist Frauensache«, sagte er. »Gib mir Bescheid, wenn du Geld brauchst.«

»Wie bitte? Willst du mir Geld im Voraus für die nächsten einundzwanzig Jahre geben, die so ein Kind kostet?«

»Jetzt stell dich nicht dumm, Milena. Ich will kein Kind, also regle das, und für die Ausgaben komme ich, von mir aus, auf. Ich muss auflegen, ich habe Besuch.« Aller Lebensfreude beraubt ließ Milena den Hörer auf die Gabel sinken.