9. Kapitel

WÜSTENROSE

»Entspannen Sie sich, Fräulein Jesenská, dann tut es kaum weh.« Mit gespreizten Beinen lag Milena auf dem Untersuchungsstuhl von Dr. Šimek. Er führte einen kalten Gegenstand in sie ein. Vater saß bei ihr, hielt ihre Hand. Etwas wie eine glühende Nadel durchfuhr sie. Sie bäumte sich auf, doch jemand presste sie zurück auf die Liege. Das Schaben fühlte sich an, als würde man ihr Inneres mit einer Schneeschaufel ausräumen. Milena schrie und weinte.

»Erhöhen Sie die Dosis«, sagte der Arzt. Die Schwester spritzte ihr noch einmal Morphium. Dann floss es aus ihr heraus, sie hörte ein Klatschen, als würden winzige Körperteile in eine Schüssel geworfen. Der Arzt sprach mit ihrem Vater. Scheinbar glaubten sie, sie hörte nichts mehr.

»Was?«, brüllte Milena wie durch einen Sandsturm, der sie zu verschlingen drohte. »Was haben Sie da gesagt?«

»Es war einmal ein Schäferhund, Milka.« Vater strich über ihren Arm. »Der Hund ging über eine Brücke. Ein wackliger Holzsteg war das, schmal und lang.« Das Märchen hatte er ihr zuletzt als Kind erzählt, als sie Fieber hatte. »Er stapfte voraus, ihm folgte ein Schaf, ein braunes mit weißen Ohren. Ihm kam ein weißes mit schwarzen Beinen hinterher und ein weiteres, das hatte einen schwarzen Kopf und einen weißen Schwanz. Immer weiter, eines nach dem anderen, stakste über die Brücke. Auch das dunkelbraune mit dem weißen Hals und den schwarzen Beinen, und dann das schwarze, das nur einen winzigen weißen Fleck auf der Stirn hatte, und als Nächstes das mit der stark gekräuselten Wolle und der rosa Nase, und dahinter das graue …« Seine Stimme entfernte sich, wurde leiser und von dem Rauschen verschluckt. Ein Sturm rollte auf sie zu. Ein Junge, sie hätte einen Jungen bekommen, hatte der Arzt gesagt. Wozu noch weiterleben? Lieber ihrem Kind hinterhereilen ins Tausendstückeland.