SONNENBLUME
Wie in so vielen Nächten, seit sie geheiratet hatten, war Milena nachts allein. Ernst saß noch in einem Wiener Kaffeehaus, bis sie ihn zur Sperrstunde hinauswarfen, oder er übernachtete bei einer seiner Geliebten. Und das kurz vor Weihnachten! Auch wenn diese Art der Freiheit Teil ihrer Ehevereinbarung gewesen war, so konnte sich Milena nicht daran gewöhnen. Bei ihrer Trauung hatte sie noch eingewilligt, dass zukünftig jeder das tun sollte, wozu er Lust hatte. Sie hatte es mehr als Scherz aufgefasst. Nach allem, was sie durchlebt hatte, war sie einfach nur froh, aus Prag fortzukommen und einen Neuanfang in einer anderen Stadt, in einem anderen Land zu wagen. Fern von ihrem Vater, aber auch weit weg von ihren Freundinnen. Was die Forderung von Ernst konkret bedeutete, begriff Milena erst in Wien. Gleich nach dem Umzug aus dem engen möblierten Zimmer, in dem sie in den ersten Wochen gelebt hatten, bestand er auf eine geteilte Wohnung, damit er mit seinen ständig wechselnden Besucherinnen ungestört war. Oder er verschanzte sich hinter Papierstapeln, noch immer auf der Suche nach den Worten, wie man ein Buch über das Buchschreiben verfasst. Dann nahm er Milena kaum wahr, egal, auf welche Art sie sich um ihn bemühte. Konnte sich ein Mensch wirklich innerhalb so kurzer Zeit verändern oder war sie vor lauter Liebe blind gewesen? Wo war der Mann geblieben, der vor nicht allzu langer Zeit noch sein Leben für sie aufs Spiel setzen wollte, als er ihren Vater zum Duell aufgefordert hatte? Sie hatte gehofft, dass Ernst ihr als ihr Ehemann zur Seite stand und sie unterstützte. Dass er ihr in der Fremde unter die Arme griff, die Einsamkeit mit ihr teilte und ihr half, den Verlust ihres Kindes zu verarbeiten. Wegen ihm hatte sie alles aufgegeben, nur weil sie glaubte, Ernst würde sie befreien. Doch an manchen Tagen kam sie sich in Wien genauso gefangen vor wie in der Sonderabteilung von Weleslawin, in die sie ihr Vater mithilfe von Stašas Vater nach der Abtreibung gesperrt hatte, um sie endgültig zur Besinnung zu bringen. Dort musste sie an der Pforte zusammen mit ihrer Kleidung auch ihre Würde abgeben. Anfangs war ihr das gleichgültig gewesen. Sie begrüßte es sogar, nicht mehr zu sein als ein Körper ohne Geist. Sie wollte nichts mehr fühlen, nichts mehr sein, aber nach und nach glaubte sie in dem ganzen Stumpfsinn, in dem immergleichen Tagesablauf der Anstalt wirklich verrückt zu werden. Zusammen mit den anderen Kranken behandelte man sie wie ein Kleinkind, wollte sie mit Kalt- und Heißwasserkuren beruhigen, wenn sie sich weigerte, zu essen, zu turnen oder im Garten mit den anderen im Kreis zu trotten, als seien sie Karussellpferdchen. Dann fesselte man sie mit Lederriemen ans Bett, um sie ruhigzustellen. Doch am schlimmsten war, dass man ihr in den ersten Wochen jegliche Lektüre verbot, selbst den Umgang mit Stift und Papier. Sie könnte sich damit verletzen, hieß es. Etwa am Papier schneiden oder sich einen Bleistift ins Auge rammen? Jemanden mit einem Buch erschlagen? Oder ging es um den Inhalt, die Geschichten, die sie ablenken oder zurückwerfen konnten, würden die ihren Schmerz verstärken? Oder fände sie womöglich eine Anleitung, um zu fliehen wie der Graf von Monte Christo? Auf der Suche nach Zerstreuung und um ihren ewig kreiselnden Gedanken zu entkommen, lechzte sie bald nach Nachrichten von der Außenwelt. In Sehnsucht nach etwas Lesbarem durchforstete sie wie eine Verdurstende die gesamte Klinik. Aber der Zugang zur Patientenbücherei blieb ihr auf ärztliche Anordnung verwehrt. Darum ließ sie sich in der Küche zum Dienst einteilen, als sie erspähte, dass die Fische in Zeitungspapier geliefert wurden. So las sie beim Rübenputzen und Geschirrspülen heimlich das »Prager Abendblatt« und andere halb eingerissene Gazetten. »Die Antwort auf die Antwort«, lautete eine Schlagzeile über die politische Lage. Es gab noch ein Draußen, und die Welt war noch immer im Krieg. Alle Länder kämpften gegeneinander, wer sollte da noch durchsteigen und Frieden schaffen? Im Mittelmeer hatte eine U-Boot-Schlacht stattgefunden, bei der viele Tonnen lebensnotwendige Güter versenkt worden waren. Schiffe, die unter Wasser fuhren, um andere abzuschießen, unvorstellbar, dass es so etwas gab?
Darunter bot jemand tausend Suppenwürfel zum Preis von zwanzig Kronen an und daneben stand: »Mr. Wu, der Mandarin, lädt im Hotel Adria zu einem Maskenball ein.« Das Hotel lag am Wenzelsplatz, ganz in der Nähe ihres Elternhauses. Milena stellte sich vor, wie sie sich verkleiden würde, und spürte, dass ihr Lebenswille zurückkehrte. Auf der Rückseite des fettgetränkten Zeitungsblattes entdeckte sie eine Kinoanzeige, die ein neues Meisterwerk von Charlie Chaplin ankündigte. Zu gern würde sie diesen Film sehen. Der Mensch denkt zu viel und fühlt zu wenig, hatte Chaplin in einem Gespräch mit einem Reporter gesagt. Es musste herrlich sein, beruflich mit Kino zu tun zu haben, so wie Willy Haas das tat. Über das zu schreiben, was man erlebte, und damit Geld zu verdienen. Zum ersten Mal dachte sie daran, eines Tages auch beruflich zu schreiben. Das, was sie liebte, zu ihrem Lebensinhalt zu machen. Milena fielen die vielen schönen Stunden ein, die sie in einem Lichtspielhaus verbracht hatte. Dass sie sich noch auf dem Nachhauseweg wie die Leinwandheldin gefühlt hatte, die Welt durch ihre Augen betrachtete und beschwingt durch die Stadt getanzt war. Dadurch hatte sie auch vom Grübeln ausgeruht, wie sie all die Schwierigkeiten überwinden sollte, die sich Tag für Tag auftaten, und neue Kraft geschöpft. Was wäre, wenn das eigene Leben auch solche Wendungen nähme? Dass Filme solch ein Anstoß waren und Wunder bewirkten, musste sie sich merken und bald darüber schreiben, sagte sie sich in Weleslawin immer wieder vor. Doch im Kliniktrott, wo man Milena mit allen Mitteln von ihren Gedanken befreien wollte, vergaß sie es leicht. Am besten wäre es, es sofort aufzuschreiben, doch worauf? Vergeblich suchte sie in den Küchenschubladen nach einem Stift.
Während des Freigangs stahl sie sich in den muffigen halbdunklen Schlosskeller, wo sich ein Sammelsurium an ausrangierten Möbeln, abgebrochenen Stühlen und verrosteten Bettgestellen stapelte. Und endlich fand sie in einem Schrank eine Schachtel Bleistifte. Manche angenagt und zu Stummeln gespitzt, andere noch wie neu. Hier lagerten noch weitere kleine Dinge. Zuerst glaubte sie, dass es sich dabei um Spenden handelte, die im Keller gesammelt wurden, um sie an Weihnachten oder einem anderen besonderen Anlass zu verteilen. Dutzende Brillengestelle mit und ohne Gläser, benutzte Tabakspfeifen, deren Mundstücke abgenutzt wirkten, Bilderrahmen, Schreibblöcke, Ansichtskarten, eine mit einem gemalten Strauß Sonnenblumen, manche mit Grüßen beschrieben. Doch dann entdeckte sie auch Brieftaschen, in denen noch Fotos von Angehörigen stecken. Aus einer zog sie eine zusammengebundene Haarsträhne. Und schließlich, anhand der Ausweise, die viele noch enthielten, begriff sie. Das alles waren Gegenstände verstorbener Patienten, die keiner der Angehörigen abgeholt hatte. Vielleicht bestand auch kein Interesse an den Hinterlassenschaften oder es gab schlicht keine Verwandten mehr. Was würde von Milena bleiben, wenn sie nicht mehr lebte? Hastig nahm sie sich einen der Bleistifte und einen Schreibblock und dachte auf dem Papier darüber nach, notierte auch ihre Kino-Gedanken. Und je mehr sie schrieb, desto stärker kehrte die alte Rebellion zurück. Milena spürte sich wieder. Ihr Kind war tot, aber sie lebte noch, und sie würde nicht aufgeben, nicht bis zum letzten Atemzug. In den folgenden Wochen schrieb sie nicht nur über sich, sondern hielt auch die Geschichten der Mitpatienten fest, die sie beobachtet und miterlebt hatte. Wider Erwarten duldete die Oberschwester es, als sie sie eines Tages mit dem Block erwischte. Milena schenkte ihr einfach eine Miniatur, die sie über das Schloss und ihre Insassen verfasst hatte, und erwarb sich auf diese Weise ihre Gunst. Die Oberschwester leitete für sie sogar einen Brief an Staša weiter. So erfuhr auch Ernst von Milenas Aufenthaltsort, und nach langen neun Monaten besuchte er sie endlich. Sie trafen sich am vergitterten Tor in der Schlossmauer. Noch bevor sie ihn um irgendetwas bitten konnte, sagte er, dass er bei ihrem Vater vorgesprochen und um ihre Hand angehalten habe.
»Du willst mich?« Milena konnte ihr Glück kaum fassen.
Ernst nickte. »Aber dein Vater hat eine Bedingung gestellt.«
»Sollst du katholisch werden?«
»Das nicht.« Seine Mundwinkel zuckten bloß. »Ich glaube, da sieht er keine Hoffnung. Einmal Jud’, immer Jud’, sagt er.« Er zögerte. »Es geht um deine Mitgift.« Wieder hielt er inne, tastete nach ihrer Hand. »Er verweigert dir Geld zu geben, wenn …«
Sie küsste seine Finger, wie sehr hatte sie ihn vermisst. »Wir brauchen das Geld nicht. Ich kann arbeiten gehen und du auch, gemeinsam …«
»Was willst du mit einem abgebrochenen Medizin- und Musikstudium anfangen?«
»Mir fällt schon etwas ein, bring mich nur hier heraus. Dann …«
»Dein Vater will dich entmündigen«, unterbrach Ernst sie und ihre Küsse, »wenn wir nicht die Stadt verlassen.«
»Da muss er sich beeilen. In zwei Monaten bin ich großjährig.« Obwohl es wie ein Scherz klingen sollte, blieb ihr das Lachen im Hals stecken. Es konnte kaum noch schlimmer kommen, dachte sie. Wäre sie erst einmal entmündigt, würde ihr Vater sie für immer wegsperren. Sie glaubte sich jetzt schon lebendig eingemauert, wie Jarmila das von ihren Eltern angedroht worden war.
»Was hältst du von Wien? Ich könnte zur dortigen Länderbank wechseln«, schlug Ernst vor. »Ich habe bereits telefoniert, man hilft mir auch bei der Wohnungssuche. Wir könnten frei leben, Milena. Jeder tut, was er will, unabhängig voneinander.« Er schmiedete Pläne, schwärmte von der ehemaligen Kaiserstadt, als wäre sie aus Tausendundeiner Nacht. Seit die Monarchie aufgelöst worden war und die erste Republik ausgerufen wurde, blühten dort die Künste.
»Ich habe gelesen, dass es in Wien Streiks und Unruhen gibt«, erwiderte sie. »Das Volk hungert.«
»Tun wird das hier nicht auch?« In der Tat, Ernst wirkte schlanker. In der gut bezahlten Anstalt gab es genug zu essen für Milena, wenigstens das. »Ich sehne mich aber nach mehr als nur Brot, du nicht auch? Was meinst du, was Wien zu bieten hat, im Gegensatz zu hier. Dort pulsiert das Leben, es gibt Literatenzirkel, Cabarets, ein großartiges Volkstheater und jede Menge Lichtspielhäuser. Die Menschen leben viel freier, und wir würden mitten unter ihnen sein.« Literatur, Theater und Kino, das gab es doch auch in Prag, dachte sie, aber Ernst redete sich in Rage, ließ sie kaum dazwischenfragen. Dabei war die äußere Welt für sie noch wie die Strophen eines vergessenen Liedes, das sie erst wieder in sich zum Klingen bringen musste.
Ein Hochzeitskleid konnte sich Milena nicht leisten, jetzt, da sie komplett auf sich gestellt war. Den einzigen Luxus, den sie sich in aller Eile gönnte, war eine neue Frisur. Sie ließ sich die Haare kinnlang schneiden, trug nun den Bubikopf, der bereits in Paris und Berlin als Inbegriff der modernen Frau galt. Endlich die langen Flechten losgeworden zu sein, fühlte sich wie der erste große Schritt in ein neues Leben an. Ein Leben als Ehefrau, aber vor allem auch als unabhängige Frau, die das tat, was ihr vorschwebte.
Das Ja-Wort gaben sie sich auf dem Prager Standesamt, mit Willy Haas und Jarmila als Trauzeugen. Staša konnte leider nicht dabei sein, von ihr erhielt Milena einen Brief. Auf Anordnung ihres Vaters musste sie das Bett hüten, schrieb sie. Allerdings diesmal aus einem erfreulichen Grund. Sie war schwanger von einem tschechischen Sänger. Es war viel passiert, während Milena im Niemandsland namens Weleslawin gewesen war. Die Welt hatte sich weitergedreht. So wurde die Pollaksche Hochzeit zugleich ein Abschied von ihren Freundinnen, aber auch von ihrer gesamten Existenz, doch das begriff Milena im Trubel der Ereignisse noch nicht. Und auch unter Freiheit verstand Ernst etwas anderes als sie. Erst im Zug nach Wien, in dem sie ihre Hochzeitsnacht verbrachten, dämmerte es ihr.