3. Kapitel

NARZISSE

Erschöpft vom Koffertragen am Bahnhof, konnte sich Milena einige Monate später zu überhaupt nichts mehr aufraffen. Die Jesenský-Mitgift war durch das Einrichten der Wohnung und die Miete längst aufgebraucht. Ernst bezahlte seinen Anteil, verweigerte ihr aber sonst, kaum dass sie sich in Wien eingerichtet hatte, die finanzielle Hilfe, jeder sollte in allen Bereichen frei sein und für sich selbst sorgen, erinnerte er sie, als sie ihn um Unterstützung bat. Ihr Freibrief war die Ehe gewesen, nur so war sie der Strenge ihres Vaters entkommen, doch nun musste sie sich selbst durchschlagen. Also verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt als Gepäckträgerin am Westbahnhof wie einst ihr Vater. Wenn sie müde und hungrig nach Hause kam, war die Plagerei noch nicht zu Ende. Dann musste sie noch Kohlen aus dem Keller in den zweiten Stock schleppen, um die tagsüber ausgekühlte Wohnung zu heizen. Wenigstens gab es neuerdings wieder Heizmaterial, und es war schon März, hoffentlich fror man bald nicht mehr. Unterwegs nach oben wechselte sie mit Frau Koller ein paar Worte, erfuhr, ob sie wollte oder nicht, den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft, und erhielt einen Rest »Letscho«, ein Schmorgericht aus Paprika, Tomaten und Zwiebeln, für das sie sehr dankbar war. Endlich in ihrer Wohnung angekommen, schaffte sie es gerade noch, die Pflanzen zu gießen und nach dem Kater zu sehen. Sie liebte Blumen über alles. In unzähligen Töpfen, kaputten Emailkannen, Krügen mit abgebrochenem Henkel hegte und pflegte sie Gewächse aller Art. Zog sie aus gefundenen oder abgezweigten Samen, Kernen und Zwiebeln und hoffte jedes Mal, dass etwas Grünes aus der Erde spitzte. Zwar dauerte es eine Weile, bis sie alles weggeräumt hatte, um ein Fenster zu öffnen, doch dafür blühte es bei ihr auch zur kalten Jahreszeit.

Ernst beschwerte sich über den Treibhausdunst, der seine Bücher und Dokumente wellte. »Du musst mehr lüften«, verlangte er.

»Das brauchst du mir mit deinem Pfeifenqualm nicht zu erzählen«, entgegnete sie. In seinem Teil der Wohnung, in dem ausschließlich schwarz gestrichene Möbel standen, wirkte es nicht nur düster, es roch auch stickiger. Auf dem Fensterbrett dümpelten ein paar Kakteen vor sich hin. Um die kümmerte sich Milena ebenfalls, damit sie nicht völlig vertrockneten oder unter den Papierbergen erstickten. Sie würde sich ihren Heimgarten nicht verbieten lassen. Er schenkte ihr jeden Tag Duft und Schönheit, wie sonst sollte sie es in dieser lieblosen Stadt aushalten? Immerhin hatte das Jahr gut angefangen, als sie im Januar endlich wieder Post aus Prag erhielt. Steinhartes Weihnachtsgebäck von Staša und eine nette Fotografie ihrer einjährigen Zwillingsmädchen Olga und Klein-Staša. Wer hätte geglaubt, dass die Jüngste aus ihrem Dreiergespann als Erste Mutter sein würde. Milena erhielt noch ein weiteres Päckchen, ein großes, dickes Kuvert. Neugierig öffnete sie es, als sie den Absender las. Dem Anschreiben lagen drei gleiche Zeitungen bei. Und dann begriff sie, dass das ihre Belegexemplare waren. Ihr Artikel über Wien war wie selbstverständlich in der »Tribuna« gedruckt worden und bereits am 27. Dezember 1919 erschienen. Milena konnte es kaum glauben. Aufgeregt faltete sie die Seiten auf. Dort war er und füllte eine halbe Seite. Diese vielen kleinen Buchstaben in den Spalten stammten tatsächlich von ihr. Im Begleitbrief bedankte sich der Redakteur für ihre erfrischend neue Stimme aus Wien und legte einen Wechsel bei, mit dem sie sich das Honorar bei einer Bank abholen konnte. Sie könne weitere Texte einschicken, man würde alles prüfen, versprach er. Milena hätte ihr Glück am liebsten zum Fenster hinausgeschrien. Vielleicht änderte sich doch bald etwas, dachte sie, jetzt, wo der Frühling nahte und die ganze Welt im Umbruch war.

Zu ihrer großen Freude erhoben sich aus den Zwiebeln, die sie im Herbst vor dem Küchenfenster eingepflanzt hatte, die ersten Narzissen und fingen wie kleine Sonnen zu leuchten an. Sie öffnete das Fenster und rief nach Fjodor, aber der Kater war nirgends zu sehen. Er genoss wohl auch die ersten Sonnenstrahlen und war vielleicht einer Katzendame auf der Spur. Auf der Suche nach etwas zu lesen und vielleicht in eine fremde Welt einzutauchen, ging Milena in Ernsts Arbeitszimmer. Wie immer war sein Schreibtisch mit Papieren übersät. Zeitungsartikel, Manuskripte von Autoren, die ihr Mann weiter betreute. Auch die blaumarmorierte Mappe lag dabei. Neugierig zog Milena sie aus dem Stapel. Sie hatte Lust, »Die Verwandlung«, diese merkwürdig beklemmende Geschichte, noch einmal zu lesen. Was war eigentlich aus Franz Kafka geworden, lebte er noch in Prag, in der neuen Tschechoslowakei? Hatte er noch weitere Erzählungen geschrieben, und stand Ernst mit ihm noch immer in Verbindung? Sie nahm die Mappe mit in die Küche, wo der Ofen inzwischen bollerte und eine angenehme Wärme verbreitete, kochte sich Tee aus ihren getrockneten Kräutern, die ihr Zimmer schmückten wie Lampions, schmierte sich Brote mit Ersatzbutter und tauchte sie in Frau Kollers Eintopf. Ihr Magen gluckste, als ihn die erste Nahrung erreichte. Milena atmete auf. Das Tagwerk lag hinter ihr, nun begann die Zeit der Entspannung. Sie wischte sich die Finger am Geschirrtuch ab und blätterte durch die Mappe, las sich durch eine Reihe von Texten, die offenbar alle von Kafka stammten. Kurze, mit der Maschine getippte Geschichten, ausgeschnittene Zeitungsabdrucke und auch ein paar handschriftliche Entwürfe. Der restliche Tee in der Kanne wurde kalt, sie las weiter, bis sie das Miauen nicht als Teil der Geschichten, sondern wirklich von draußen wahrnahm. Fjodor hockte auf dem Fenstersims und klagte. Mit einem Blatt in der Hand ließ sie ihn herein, ihre Augen auf den Zeilen. Der Kater sprang auf den Tisch, schnurrte auf den Blättern und stupste Milena so lange an, bis sie sich fügte. Rasch gab sie ihm ein Stück geräucherten Fisch, den Ernst bei sich verwahrt hatte, und las weiter, schnappte sich den endlich zufrieden schnurrenden Fjodor und legte sich mit ihm aufs Bett. Anders als der Kater, der sich nach ausgiebigem Putzen bald einrollte und schnarchte, konnte Milena nicht stillliegen. Eine Unruhe ergriff sie, je mehr sie sich in Kafkas Zeilen vertiefte. Sie musste etwas tun, um sich mit diesen Geschichten und vielleicht auch mit dem Autor zu verbinden. Sie wollte herausfinden, wer sich hinter diesen Rabenaugen verbarg, die sie durch all diese Zeilen hindurch ansahen, als wäre sie wieder in ihrer Heimat. Um eine Veröffentlichung für ihn musste sie sich nicht mehr bemühen. Abgesehen davon, dass ihr die Kontakte fehlten, hatte Kafka schon einen deutschen Verlag, wie er Ernst in einem Brief mitteilte. Seine Erzählungen erschienen in Büchern. Aber was war mit tschechischen Zeitungen? Schließlich lebte er in Prag. Wurde er bereits übersetzt? Milena stand auf und überbrühte die Teeblätter ein zweites Mal. Mit der dampfenden Tasse in der Hand ging sie in ihrem Zimmer auf und ab und überlegte. Sie könnte Staša anrufen. Trotz ihrer Kinder hatte sie angefangen, als Journalistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen zu arbeiten. Außerdem stand sie mit vielen Kulturschaffenden in Prag in Verbindung. Vielleicht hatte sie eine Idee, wie auch Milena den Einstieg finden könnte. Sie würde ihr schreiben und ihr von ihrem Einfall erzählen. Sie könnte sich auch ohne Umweg direkt an die Prager Zeitungen selbst wenden, doch dazu müsste sie eine Probeübersetzung beilegen, um einen Eindruck von ihrer Ausdrucksweise zu vermitteln. Aber zuerst brauchte sie die Zustimmung des Autors, ob er überhaupt mit einer Übersetzung einverstanden war und ob es nicht schon eine gab. Am besten, sie schlug Kafka eine geeignete Geschichte vor. Aber welche? Er versetzte seine Figuren immer in ausweglose Lagen. Je mehr sie sich wehrten, desto mehr zog es sie in den Abgrund. Das Schicksal des jungen Karl Roßmann berührte sie besonders. Er versuchte, vor seiner Schuld zu fliehen, geriet aber mehr und mehr in sie hinein. Milena las den Anfang von »Der Heizer« erneut:

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.

Die Sehnsucht nach Freiheit und zugleich der Kampf mit Anspannung und Entsagung steckte in diesen Zeilen. Und wieder war es, als würde Franz Kafka sie kennen, wissen, was Milena empfand. Nicht zuletzt, weil er auch die Gepäckträger in seiner Geschichte erwähnte, als hätte er sie bei ihrer Arbeit beobachtet. Schließlich setzte sie einen Brief auf Deutsch auf: Lieber, nein, werter Herr Kafka oder einfach nur, Sehr geehrter Herr Kafka? Milena hielt inne, sah vom Küchentisch aus auf ihr Bett, auf dem Katerchen gähnte, sich streckte und sich leicht schwankend aufsetzte. »Ach, Fjodor.« Sie seufzte. »Allein mit der Anrede stelle ich mich schon an, wie soll ich da überhaupt einen ganzen Brief zusammenkriegen?« Der Kater blinzelte, als wollte er sagen, das schaffst du, ich weiß es, mach einfach weiter, meine Liebe. Sie holte Luft und schrieb: Mit Begeisterung, nein, mit sehr großer Begeisterung habe auch ich Ihre Erzählungen gelesen, die Sie meinem Mann freundlicherweise überließen.

Das klang viel zu förmlich, eher wie ein Geschäftsbrief, und drückte nicht aus, was sie wirklich empfand. Sie strich den ganzen Absatz durch und begann von Neuem. Kafka wirkte so einsam wie sie oder, wenn er glücklich liiert war, dann wusste er noch von dem Davor, wie es war, verloren zu sein.

Sie scheinen die vielen unsichtbaren Dämonen wahrzunehmen, schrieb sie, die den Einsamen bedrohen und ihn zu vernichten suchen. Wieder machte sie eine Pause. Das war zu persönlich. Sie kannte den Mann gar nicht und doch sah sie ihn unentwegt vor sich, stumm und mit sprechenden Augen zugleich. Durch seine Art zu schreiben glaubte sie zu wissen, was er dachte. Vielmehr, sie verstand durch das Lesen seiner Texte, warum er damals im Kaffeehaus nichts zu ihr gesagt hatte.

Vielleicht ist in Ihnen auch diese unbezwingbare Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben, nach einem Leben mit einem Kind und Familie, das der Erde sehr nah ist und trotzdem beflügelt? Und dann schrieb sie ihm einfach alles, was ihr durch den Kopf ging, von dieser fremden Stadt, in die sie voller Erwartung gezogen war, von ihrer Liebe zu den Blumen und dass sie manchmal vor lauter Beklemmung glaubte, nicht atmen zu können. Auf Tschechisch, nicht auf Deutsch, einfach so, wie es ihr gerade durch den Kopf ging. Zuletzt schlug sie ihm vor, die Geschichte »Der Heizer« zu übersetzen und, sein Einverständnis vorausgesetzt, es einer Tageszeitung zum Abdruck anzubieten. Sie schloss mit deutschen Worten: Es grüßt Sie herzlich, Ihre Milena. Dann zögerte sie, ob sie ihren Ehenamen und ihre richtige Adresse angeben sollte. Was, wenn Ernst Kafkas Antwort abfing und als Erstes las? Wie würde er reagieren? Auslachen würde er sie und alles verderben. Also ergänzte Milena den Brief mit einem PS auf Deutsch: Bitte senden Sie Ihre Antwort postlagernd, an das Postamt 65, Bennogasse 1, an Frau Kramer.

Als sie eine Woche später am Postschalter nachfragte, ob etwas für Kramer eingetroffen war, erhielt sie gleich zwei Briefe. Erstaunlicherweise waren sie nicht in Prag abgestempelt worden, sondern in Meran, wo Herr Kafka sich zur Kur aufhielt. Er erwartete Stillschweigen von ihr oder ein paar Zeilen, und er grüßte sie ebenfalls sehr herzlich. Dabei war sie schon nahe daran gewesen, einen Rückzieher zu machen. Jetzt, da er der Übersetzung zustimmte, sich sogar darüber freute, traute sie es sich nicht mehr so recht zu. Kafkas literarische Wucht war zu groß für ihren kleinen Wortschatz. Sie fragte sich, ob sie ihm in ihrer Muttersprache gerecht werden konnte. Doch versuchen musste sie es. Langsam, mit Kafkas Briefen in der Hand, spürte sie wieder die alte Kraft in sich.