4. Kapitel

KAMELIE

Milenas Schritte klackerten über das Pflaster. Sie drängte sich auf dem Bahnhofsplatz an einer Menschenmenge vorbei, die einen umgestürzten Handkarren umringte. Mehl aus aufgeplatzten Säcken bleichte die Straße. Die Leute bückten sich, stopften den Mehlstaub in die Taschen, kratzten ihn sogar aus den Schienen der Tramway, ungeachtet, was sie sonst noch mit aufklaubten. Das würde ein knuspriges Brot geben, dachte sie, als Polizisten auf Fahrrädern die Leute auseinanderscheuchten. Sie rannte weiter, musste sich beeilen. Sonst zahlten ihr die Herrschaften weniger für die Stunde, auch wenn sie überzog und die Zeit hinten anhängte. Schuld war diese Berlinerin gewesen, die sie mit ihren Massen an Koffern in Beschlag genommen hatte. Einen ganzen Hausstand hatte Milena für sie bis zum Kraftdroschkenstand geschleppt. Sperrige Hutschatullen, mehrere schlecht schließende Coupé-Koffer, die kaum zu umgreifen waren.

»In Berlin leiden wir große Not«, erzählte die beleibte, noch in ein Korsett gezwängte Dame, als sich Milena ihr als Trägerin anbot. »Auf dem Land ist es noch schlimmer, dort verteidigen die Bauern ihre Felder mit Gewehren, wenn unsereins anrückt. Wie ist es hier?«

»Wie meinen, gnädige Frau?«

»Na, gibt’s hier Kartoffeln?«

»In Wien sagt man Erdäpfel, und ja, die Stadt ist wieder versorgt.« Wenn man es sich leisten kann, kriegt man alles, ergänzte sie für sich im Stillen. Um sich ein paar Lebensmittel zu erkämpfen, stand sie oft stundenlang an und feilschte. Erdäpfel zum Beispiel in Form von Zwetschgenknödeln mit Vanillesoße, wie sie die Hausverwalterin zubereitete, hatten schon lange nicht mehr auf ihrem Speisezettel gestanden. Schnell verdrängte Milena die Gedanken an solche Köstlichkeiten, konzentrierte sich auf die Bodenplatten, zählte sie, als durchquerte sie ein Himmel-und-Hölle-Spiel. Die Kundin wartete beim Droschkenfahrer, bis sie mit den Koffern eintraf, und hakte ihre Gepäckstücke mit ihren behandschuhten Händen auf einer Liste ab. Nummer siebzehn war ein großer zugedeckter Käfig, den Milena mit den Armen umfasste und vor sich hertrug. Dabei drückte sie ihren Kopf an das Tuch, das über dem Gitter lag, lauschte und hoffte, dass der Vogel noch lebte. Der Lärm in der Bahnhofshalle war ohrenbetäubend. Ein Einbeiniger rief die neuesten Schlagzeilen aus, ein Trafikant pries seine Rauchwaren an. Züge fuhren mit einem Quietschen und Zischen ein und wieder ab. Dennoch glaubte Milena ein leises Glucksen zu vernehmen und unterdrückte die Versuchung, den Käfig zu öffnen und den Vogel freizulassen. Wie die Tauben, die sie schon lang nicht mehr im Westbahnhof gesehen hatte, würde man ihn sonst noch erwischen und verspeisen. In Gefangenschaft überlebte er wenigstens. Bei der Übergabe erhaschte sie einen Blick unter das Tuch und staunte. Eine grün schillernde Echse mit eingerolltem Schwanz sah sie aus halbgeschlossenen Augen an. »Sbohem«, leb wohl, flüsterte sie auf Tschechisch, stellte den Käfig vorsichtig auf die Rückbank der Kraftdroschke und eilte zum Gepäckwagen zurück. Bloß noch ein Koffer, Nummer achtzehn, wartete auf sie. Doch das zweiflügelige Monstrum ließ sich partout nicht alleine stemmen. Milena bat einen Dienstmann um Hilfe und musste sich das knapp bemessene Trinkgeld mit ihm teilen, das die Berlinerin am Ende bereithielt. Als es endlich geschafft war, stand sie immer noch keuchend vor dem Eckpalais der Familie Pichler und zog an der Klingel. Der Himmel war bewölkt und von der Sonne noch nichts zu sehen, trotzdem stand die Luft in den Gassen. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht und strich sich eine Locke hinter das Ohr, die sich sofort wieder löste und ihr in die Stirn zurückfiel. Erneut versuchte sie ihre kinnlange Frisur zu glätten, griff in den Wirbel am Haaransatz, wo maminka sie geküsst hatte, wenn sie als Kind das Haus verließ. Nun war ihre Mutter schon zehn Jahre tot, trotzdem vermisste Milena sie noch immer.

Mit einem Knarzen öffnete sich die schwere Haustür. Der Diener namens Paul, ein bleicher Bursche mit narbigen Wangen, musterte sie von Kopf bis Fuß, verweilte an ihren staubigen Schuhen.

»Das ist bloß Mehl«, erklärte Milena. »Es gab einen Unfall am Bahnhof.« Sie biss sich auf die Lippen. Eigentlich konnte es ihr egal sein, was er von ihr dachte, was überhaupt irgendein Wiener von ihr dachte. Sie hatte sich doch vorgenommen, mehr auf sich zu achten und nicht jedem alles recht machen zu wollen. Auch wenn sie in Wien ein Niemand war, eine Ausländerin. Sie musste immer auf der Hut sein und jedes Wort abwägen. Sobald sie den Mund aufmachte, entlarvte man sie mit ihrem Akzent, betrachtete sie mitleidig, als ob sie dankbar sein sollte, hier zu sein. Dabei merkten die Wiener nicht, dass sie ihr als Anschauungsmaterial dienten, dass sie die Eigentlichen waren, die Milena in sich abspeicherte und später in ihren Reportagen verarbeitete. Über das Unsagbare schreiben, darin hatte sie Franz Kafka bestärkt, mit dem sie sich seit einigen Wochen schrieb.

Aber sie fasste sich, wollte beim Ehepaar Pichler, das sie seit zwei Monaten unterrichtete, keinen schlechten Eindruck hinterlassen und Schmutz ins Palais tragen. Ein Taschentuch, um sich die Schuhe zu polieren, hatte sie vergessen, darum schlug sie ihre Schuhspitzen an die Fassade, wie ein Bergsteiger angetrockneten Lehm aus der Sohle klopfte.

Paul sah ihr mit hochgezogenen Brauen zu, als brächte Milena mit ihrer Aktion das Haus zum Einsturz. Endlich schob er die Tür weiter auf und ging die mit grünem Teppich gesäumte Treppe voraus nach oben. »Die Herrschaft ist noch beschäftigt«, sagte er hochnäsig und führte sie mit dem Handschuh weisend in den Salon. Der Geruch von Tafelspitz mit Semmelkren erfüllte die Etage. Klirren von Besteck, das auf Porzellan traf, ertönte von nebenan durch die Schiebetür. Bei der Vorstellung, selbst vor einem gefüllten Teller zu sitzen, knurrte Milena der Magen. Zartes Rindfleisch, dazu in Fleischbrühe gekochte Semmelwürfel, die scharfer »Kren« würzte. Außer einem Apfel auf dem Weg zum Bahnhof hatte sie heute noch nichts gegessen. Sie seufzte, streckte das Kreuz durch und rieb sich die schmerzenden Schultern. Eigentlich hatte sie geglaubt, abgehärtet zu sein. Doch sie wusste nie, was sie beim Koffertragen erwartete. Federleichte Kolosse, bleischwere Damentäschchen oder sperrige Instrumentenkästen, die eine Piccoloflöte, aber auch einen Kontrabass beherbergten. Noch dazu musste sie mit den Dienstmännern um die Reisenden buhlen. Ob sie nichts gelernt habe, so hässlich sei sie doch nicht, als dass man keine andere Beschäftigung für sie fände? Wie hatte ihr Vater das damals nur durchgestanden? Was würde er sagen, wenn er wüsste, dass sie ganz und gar in seinen Fußstapfen getreten war? Das wiederum brachte sie zum Schmunzeln. Vermutlich erhoffte er sich, dass sie diesen Teil seines Werdegangs übersprang. Sie sollte eigentlich als Ärztin promovieren, seine Praxis übernehmen und Kieferchirurgin werden. Ihm zuliebe hatte sie es versucht und nach der Matura Medizin studiert. Voller Erwartung stürzte sie sich in die ersten Vorlesungen. Doch schon beim Leichenzerteilen im Sektionssaal kämpfte sie gegen die Ohnmacht und sank beim Abziehen der Gesichtshaut in die Knie. Noch den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein verfolgte sie das Geräusch der Knochensäge, die den Kopf zerteilte. Es kostete sie einiges an Überwindung, in die nächste Vorlesung zu gehen. Um sich abzulenken, dachte sie sich das Gekröse, das aus dem aufgeschnittenen Leib quoll, als eine Kamelienblüte. Blatt für Blatt, anstelle der Rippen, die sie zerteilen sollte, beschwor sie sich den betörenden Duft dieser Blume herauf, versuchte den Gestank des Todes mit Schönheit zu überdecken. Es misslang. Sobald die Eingeweide auf den Sektionstisch klatschten, war Milena verloren. Blut rauschte in ihren Ohren, Stimmen redeten auf sie ein. Sie versank im Nichts.

Damals fand sie kaum in den Schlaf, und wenn doch, watete sie durch Schlangenleiber aus Gedärmen. Zusätzlich musste sie ihrem Vater bei Operationen assistieren. Dabei fragte er sie über das Gelernte ab. Molare, Prämolare, Canini, Incisivi, das waren noch die einfachen lateinischen Bezeichnungen der Zähne und ihr von klein auf geläufig. Schwieriger wurde es bei den Fehlstellungen oder Missbildungen am Kiefer. Anders als ihr Vater schaffte Milena es einfach nicht, die Begeisterung für die chirurgische Kunst von ihrem Mitgefühl zu trennen. Für sie blieben die mit Lachgas betäubten Patienten Menschen, deren Krankheiten und Sorgen sie persönlich beschäftigten. Professor Jesenskýs Spezialität waren Kriegsverletzungen. Er behandelte Entstellte, versuchte ihre zerfetzten Gesichter zu rekonstruieren, und wenn das misslang, ihnen wenigstens das Essen, Schlucken oder einwandfreies Atmen zu ermöglichen.

Bis Jahresende hielt sie durch, dann fand sie endlich die Kraft, sich den Irrtum einzugestehen. »Ich höre auf«, sagte sie zu ihrem Vater, noch vor dem vánočka – dem Weihnachtsbrot –, und sprach damit aus, was sie innerlich schon längst beschlossen hatte.

»Was soll das heißen?«

»Ich breche das Medizinstudium ab. Ich kann das nicht, so wie du, und ich will es auch nicht können.« Schnell versuchte sie ihm zuvorzukommen, bevor er ihr einen Vortrag hielt, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen wäre, er sich auch alles hart erarbeitet habe und vieles mehr. »Ich will etwas anderes machen, lieber Musik.« So, nun war es gesagt.

»Musik?« Vater stellte sein Weinglas ab. »Du spielst nicht einmal ein Instrument? Als du Klavierunterricht nehmen solltest, hast du dich geweigert.«

»Vater, da war ich vier. Der große Flügel mit den vielen Tasten, den ich mit zwei kleinen Händen bedienen sollte, hat mir Angst gemacht. Mir gefällt die Musikwissenschaft, Stilkunde, Harmonielehre, aber auch Gesang oder Tanz, Bewegung, vielleicht fange ich damit an.«

»Und ich dachte, du willst eines Tages unabhängig sein und selbst auf beiden Beinen stehen.« Vater klang enttäuscht. »Wie es aussieht, strebst du eher nach einem Höhenflug. Doch erwarte nicht, dass ich dich auffange, wenn du stürzt.«