5. Kapitel

GLOCKENBLUME

Wenn das Ehepaar Pichler diesmal den Sprachunterricht bezahlte, konnte sie einkaufen gehen und zu Hause ein richtiges Mahl zubereiten. Ihr fehlte zwar das Talent zum Kochen, aber sie würde Frau Koller um Hilfe bitten oder sich streng an ein Rezept halten und Ernst überraschen. Vielleicht würde er dann wieder zu ihr zurückkehren oder sie wenigstens wieder bemerken. Sie wollte nichts unversucht lassen. Milena knöpfte ihren Mantel auf, wusste aber dann nicht, wohin damit, und behielt ihn an. Sie überprüfte, ob die Seitennaht des Futters gehalten hatte, fand einen neuen Riss, den sie nachher sofort ausbessern musste, und beschloss, den Mantel besser anzubehalten. Rasch klopfte sie ihn nochmal aus, richtete ihr Kleid darunter und setzte sich ein wenig verkrampft auf die grüne Chaiselongue. Als sie das Lehrbuch aus ihrer Tasche holte, um die neue Lektion aufzuschlagen, fiel der Zeitungsausschnitt heraus. Ein Inserat in der »Neuen Freien Presse«, das ihr Kafka spendiert hatte:

Tschechisch unterrichtet akademisch gebildete Lehrerin. Frau Milena Pollak, Adresse: Lerchenfelder Straße Nr. 113, Tür 5.

Er unterstützte sie, wo er nur konnte. Endlich hatte sie jemanden, der an ihrem Leben Anteil nahm, sich in sie einzufühlen versuchte und sie ermunterte, weiterzumachen.

Kafka hatte auch den Einfall gehabt, dass sie Unterricht geben könnte. Allerdings hatte sich bisher niemand auf die Anzeige gemeldet. Die Pichlers waren durch Hofrätin Zuckerkandl auf sie aufmerksam geworden. Milena sollte den literarischen Salon im ersten Bezirk, im Palais Lieben-Auspitz, auch einmal aufsuchen und sich bei der Grande Dame bedanken. Es würde sie reizen, sich an einem Sonntag mit der besseren Gesellschaft über Bücher und Kunst auszutauschen. Laut Frau Pichler war Berta Zuckerkandl Schriftstellerin und eine erfahrene Journalistin, die sogar als Diplomatin in Frankreich gewesen war und sich für den Frieden eingesetzt hatte, vergleichbar mit Bertha von Suttner, von der Tante Mařena so geschwärmt hatte. Doch Milena bezweifelte, dass sie überhaupt Zutritt zu diesem erlauchten Kreis erhielt. Überdies musste sie auch am Wochenende arbeiten. Sonntags verkehrten die meisten Reisenden am Westbahnhof. In Freizeitstimmung erwiesen sie sich häufig als großzügiger und gaben mehr Trinkgeld, das sie sich nicht entgehen lassen konnte. Wenn Milena mit langen Armen und schmerzendem Rücken ihre Arbeit beendete, war sie zu müde, um sich aufzuraffen und auszugehen.

Noch dazu fehlte ihr die passende Garderobe für einen Besuch bei Hofrätin Zuckerkandl. Aber das machte nichts. Früher hätte sie sich deswegen gegrämt, sich in ihrem Leid gewälzt, aber nun gehörten ihre Abende Kafka. Sie las seine Briefe und antwortete ihm, schrieb sich alles von der Seele weg, was sie bewegte. Sie schickte ihm auch ihre erste Veröffentlichung, und Kafka teilte die Freude mit ihr. Er behauptete, dass er fortan fast jede Zeitung sorgsam durchging, auf dass er nur ja keinen Artikel von ihr mehr verpasse. Dazu verglich er ihre Sprachmusik, wie er es nannte, mit der von Božena Němcová, der großen tschechischen Schriftstellerin. Auch ihrem Vater hatte Milena einen Abdruck geschickt. Antwort erhielt sie keine. Durch Staša erfuhr sie, dass er ihrem Vater, seinem Arztkollegen, den Artikel gezeigt hatte. Er nahm also sehr wohl auch aus der Ferne weiterhin alles zur Kenntnis, was seine Tochter tat.

Wann wird man endlich die verkehrte Welt ein wenig gerade richten? Manche von Kafkas Zeilen erklangen auswendig in ihrem Kopf, so oft hatte sie sie gelesen.

Er dachte und fühlte wie sie, spürte die Ecken und Kanten der Welt überall. Zugleich schenkte er ihr Geborgenheit, all das, was sie nicht nur in der Ehe mit Ernst, sondern viel länger, schon seit dem Tod ihrer Mutter vermisste. Dennoch überraschten sie seine Sätze immer noch, selten ging er direkt auf das ein, was Milena ihm mitteilte oder fragte. Noch dazu überschnitten sich ihre Briefe ständig. Während sie wartete, zog sie einen seiner Briefe aus der Tasche und las ihn erneut. Er genoss ihre Post portionsweise wie gesunde Mahlzeiten und benannte sie nach den Wochentagen. Sie sollte ihm ruhig auf Tschechisch schreiben, er verstünde es hervorragend. Das sei keine Kritik an ihrem Deutsch. Er fand sogar, dass sie es erstaunlich gut beherrsche. Manchmal würde sich das Deutsche vor ihr verbeugen und zwar freiwillig, das wäre dann besonders schön. Aber eigentlich würde er lieber Tschechisch von ihr lesen, weil sie dieser Sprachwelt doch angehöre. Nur so käme er in den Genuss der ganzen Milena.

Also schrieb sie ihm fortan in ihrer Muttersprache, und er antwortete ihr auf Deutsch, erzählte ihr von seinen drei Verlobungen mit zwei Frauen, denn mit der ersten hatte er sich zweimal verlobt. Und erneut getrennt. Dann war er ein weiteres Eheversprechen mit einer anderen eingegangen, das nun wieder zu scheitern drohte. Die Verbindung bestehe zwar noch, sei aber eigentlich tot. Vielleicht war Milena der Grund, vielleicht lag es aber auch an etwas anderem. Das wollte sie herausfinden. Sie zog einen weiteren Brief aus dem Stapel. Kaum, dass ein Weilchen Zeit bleibt an die wirkliche Milena zu schreiben, da die noch wirklichere den ganzen Tag hier war, im Zimmer, auf dem Balkon, in den Wolken. Er sah sie schon überall vor sich.

Zwei Wochen, aber dreizehn Briefe später ging er endlich ins »Du« über. Was war er jenseits der Schreiberei für ein Mensch? Der Papier-Franz gefiel ihr über alle Maßen, ob sie den echten Franz ebenso sehr mochte, wusste sie noch nicht.

Die Pichlers stellten Süßwaren her, wollten in die neugegründete Tschechoslowakei expandieren, und verlangten, die zukünftige Kundschaft und ihre Angestellten zu verstehen. Trotz ihres Drängens ging der Unterricht mühsam voran, meist hatte nur einer von beiden Eheleuten Zeit, und Milena musste die Lehrstücke ständig wiederholen. Außerdem teilte man sie zu anderen Arbeiten ein, wenn sie schon einmal hier war. So sollte sie oft mit dem Hund Gassi gehen, einem gefleckten Basset namens Burli, mit kurzen Beinen und stets entzündeten Augen, dessen überlange Ohren auf dem Boden schleiften. Danach musste sie ihn selbstverständlich noch bürsten, Augen und Ohren reinigen, ihn von allem Wiener Unrat befreien, damit er die Pichlerischen Orientteppiche wieder betreten durfte. Manchmal sollte sie auch in der Küche aushelfen oder die Wäsche abholen und erhielt am Ende nur ein paar Münzen.

»Schauen’s her, für Ihr Bemühen«, betonte Frau Pichler und drückte ihr ein paar Kreuzer in die Hand. Fand tatsächlich Tschechischunterricht statt, musste sie fast jedes Mal von vorne anfangen, nie schien etwas von dem Geübten hängenzubleiben. Das Fabrikantenpaar weigerte sich außerdem, Wörter in den Mund zu nehmen, die nichts mit dem Geschäft zu tun hatten. Fast bei jeder neuen Vokabel wägten sie ab, ob es sich lohne, dass sie in ihren Sprachschatz einziehen durfte. In der heutigen Lektion würde es um die Bezeichnungen des menschlichen Körpers gehen. War der für die Pichlers bedeutsam? Vermutlich scherten sie sich wenig um schlechte Zähne und zu viel Speck auf den Rippen, solange der Umsatz von Schokolade stimmte, und das tat er, unverkennbar. Milenas Blick schweifte über die Intarsien-Möbel zu den Samtvorhängen und die mit Goldfäden durchwirkten Wände. Über einer bauchigen Kommode, in einem auf Hochglanz polierten Rahmen hing das Porträt des Hausherrn. August Pichler als Kadett in voller Montur, säbelbewaffnet und strammstehend. Seine Himbeernase war auf dem Gemälde noch nicht so durchfurcht wie jetzt, fand Milena, das Bild musste uralt sein. Vielleicht hatte der Maler die Nase auch dezent geschönt. Die oberste Kommodenschublade stand eine Handbreit auf. Schmuck lag darin, achtlos hineingeworfen. Ineinander verknäulte Goldketten, Ohrringe und Armbänder. Was das wohl wert war? Wie lange würde sie davon leben können, wenn sie etwas davon verkaufte? Eine Woche, einen Monat oder länger vielleicht? Dann bräuchte sie keine Koffer mehr schleppen, konnte nur noch schreiben und essen, was sie wollte. Sie begriff nicht, wie man so leichtsinnig mit seinen Wertsachen umgehen konnte. Wenn sie solchen Schmuck besäße, würde sie ihn unzugänglicher aufbewahren. Sie drehte sich um und knickste, als Frau Pichler hereinkam.

Wie immer sah ihr die Hausherrin nicht in die Augen, sondern ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, als würde sie innerlich abzählen, ob von ihrem Besitz noch alles vorhanden war. Dabei nestelte sie an ihren vielen Halsketten. »Ach, Frau Pollak, was tun Sie hier?«

»Wir haben für heute eine Tschechischstunde vereinbart«, erklärte Milena und fragte sich, warum sie sich überhaupt abgehetzt hatte.

»Ist das so? Na, wenn Sie das sagen. Aber wir speisen erst noch. Doch wenn Sie schon einmal hier sind, so helfen Sie mir doch bitte aus diesem vermaledeiten Schmuck, bevor ich ihn noch abreiße.«

»Möchten Sie alles ablegen?« Milena trat hinter sie.

»Nein, nur die oberste Kette mit den harten Klunkern, sie erwürgt mich sonst noch.« Sie fuhr mit dem Daumen unter die Steine.

Milena zog sie vorsichtig aus dem hochgeschlossenen Spitzenkragen und suchte den Verschluss, was gar nicht so leicht war, da sich auch etliche Haare in den Kettengliedern verfangen hatten.

»Machen Sie schon. Au, das ziept.« Ungeduldig fuchtelte Frau Pichler mit den Armen, streifte dabei eine große Blumenvase, die auf der Kommode stand, und warf sie hinunter. Sie zerschellte auf dem Parkett. »Auch das noch!«, rief sie aus. Wenigstens hatte Milena endlich die Kette gelöst. »Räumen Sie das auf, schnell, wir erwarten Gäste.« Schon rauschte Frau Pichler hinaus. Milena bückte sich, hob eine Scherbe nach der anderen auf. Vielleicht waren die Glockenblumen, die zwischen den Splittern lagen, noch zu retten. Dann stutzte sie, hob eine Blume an und befühlte die Blätter. Seide, täuschend echt genäht. Sie dufteten sogar. Wie konnte das sein? Sie roch an einer Blüte. 4711. Man hatte die Kunstblumen parfümiert. Und richtig, jetzt entdeckte sie es, auf der Kommode stand ein kleines Sprühfläschchen mit Eau de Cologne. Unschlüssig, ob sie die Kunstblumen zusammen mit den Scherben wegwerfen sollte oder ob man die Vase noch kitten konnte, legte sie Scherben und Blumen in einen Kübel und stellte ihn hinter den Vorhang. So war das Malheur wenigstens nicht mehr zu sehen. Dann lauschte sie ins Nebenzimmer. Man redete, speiste. Es klang auch, als würde ein Grammophon spielen. Eine Sinfonie von Dvořák, wenn sie sich nicht täuschte. Ja, der Dramatik nach die neunte, die er über die neue Welt komponiert hatte, als er Amerika besuchte. Offenbar hörten die Pichlers einen tschechischen Komponisten, um sich auch musikalisch auf ihre neue Heimat einzustimmen. Wie Dvořák, der aus einem Dorf stammte und mit seiner Musik für die Herrschaftshäuser der Welt komponiert hatte, träumte Milena ebenfalls davon, in die Ferne zu reisen und die Welt zu erkunden, die sie bisher nur aus Romanen kannte. Das Russland von Dostojewski und Tolstoi, das England von Jane Austen. Immerhin war sie bis Wien gelangt, ein Anfang, wenn auch eher eine Reise vom Regen in die Traufe.

Wie lange dauerte das Essen denn noch? Milena schaute auf die Tischuhr, die unter einem Glassturz tickte. Viertel nach eins. Sie war dem Stephansdom nachgebildet und würde ihrem Vater gefallen, weil sie zu seiner Sammlung passte, dachte sie. Er besaß eine ähnliche Uhr, fast ein Pendant zu dieser hier. Seine war vermutlich noch kostbarer: Die Miniatur der astronomischen Uhr des Prager Rathausturms. Sie zeigte nicht nur die Tageszeit, die Monate und den Lauf der Planeten mit ihren Tierkreis- und Mondphasenscheiben, zu jeder vollen Stunde zogen zusätzlich die zwölf Apostel vorbei. Zuletzt läutete der Tod als Gerippe ein Glöckchen und drehte eine Sanduhr um.

Zeitmessung hin oder her, in fünfzehn Minuten wäre die Stunde zu Ende. Sollte Milena einfach in den Speisesaal platzen? Sie stand auf, wandte sich einem Regal zu, strich über eine Ausgabe von Goethes »Wahlverwandtschaften« und wollte das Buch herausziehen, aber es war nur eine Attrappe, ein hohler Pappkarton mit Beschriftung. Auch der Schiller daneben und Grillparzers Dramen bestanden aus nichts als leeren Schubern. Der Telefonapparat schrillte im Flur. Sie hörte einen Aufschrei, dann Stühlerücken. Entweder waren die Pichlers an diese Form der Nachrichtenübermittlung noch nicht gewöhnt oder sie rechneten mit einer schlimmen Botschaft.

Nach einer Weile öffnete sich die Schiebetür. »Die gnä’ Frau hat ein wichtiges Ferngespräch aus Übersee ereilt, darum lässt sie ausrichten, dass der Unterricht beendet ist«, sagte Paul. »Man wird sich gegebenenfalls bei Ihnen melden, wenn wieder Bedarf wäre.«

Wahrscheinlich verlegten sie die Schokoladenproduktion nach England oder Amerika, mutmaßte Milena, klappte das Lehrbuch zu und zog ihren Mantel an. »Ich bekomme aber noch meinen Lohn«, rief sie in das Speisezimmer, als der Diener die Schiebetür wieder schließen wollte.

»Für was? Es hat doch kein Unterricht stattgefunden.« Frau Pichler hob ein Rotweinglas an, eines jener Kristallgläser, die allein mehr wogen als der Inhalt.

»Den ganzen Kurs haben Sie noch nicht bezahlt und auch diese Stunde, in der Sie mich warten ließen. Ich muss darauf bestehen.« Milena trat in die Tür, lehnte sich dagegen. Paul wusste nicht, was tun, war nahe dran, sie zurückzustoßen, doch dann hätte er womöglich seine weißen Handschuhe an ihrem Mantel beschmutzt. Also ließ er die Schließe los und faltete die Hände wie zum Gebet.

»So eine Unverschämtheit.« Frau Pichler warf die Serviette fort. Sie blies sich auf, ihre Ohrgehänge baumelten wie Christbaumkugeln. »Drohen Sie uns? Und dann diese Stunde, wir bezahlen doch nicht fürs Nichtstun. August, sag was.« Sie wandte sich an ihren Mann, der eine Tagesreise entfernt von ihr an der Stirnseite des Tisches logierte und Milena den Rücken kehrte. Neben ihm auf einem roten Samtsessel lag Burli und glotzte aus traurigen Augen zu ihr herüber. Herr Pichler schob sich einen weiteren Bissen in den Mund, legte dann das Besteck zur Seite, drehte sich kauend um und musterte sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Schwerfällig kratzte er sich an der Nase. Dann erhob er sich, sie glaubte schon, er würde sie hinauskomplimentieren, doch Oberst Pichler wählte die Tür gegenüber und trat hinaus.

Seine Gattin wirkte irritiert. »Was führst du im Schilde, August?« Und an Milena gewandt sagte sie: »Was wollen Sie noch hier? Gehen Sie endlich, los, Paul, begleiten Sie diese Person hinaus.« Zurück im Salon klappte Milena das Lehrbuch zu und knöpfte ihren Mantel zu. Sie zuckte zusammen, als Herr Pichler plötzlich hinter ihr stand, ein paar Scheine in der Hand.

»Děkuji!«, sagte er überdeutlich und mit sichtlichem Stolz. Wenigstens einer bedankte sich.