EDELWEISS
Kaum stand sie mit dem Geld in der Hand auf der Straße, überlegte sie, ob sie zurückgehen und auf mehr bestehen sollte. Herr Pichler hatte ihr etwas, aber doch noch zu wenig gegeben, auf jeden Fall nicht die vereinbarte Summe für den ganzen Kurs. Milena sah am Palais nach oben. Eigentlich hatte sie keine Lust, sich erneut dem ganzen Hickhack auszusetzen, aber sie brauchte das Geld. Sie schob die Scheine ein und stutzte. Wie kam Frau Pichlers Halsschmuck in ihre Manteltasche? Vor lauter Aufregung hatte sie ihn eingesteckt. Jetzt musste sie zurückgehen und alles erklären. Sie zögerte. Würde man ihr glauben? Würde man sie nicht des Diebstahls bezichtigen und die Polizei verständigen? Was würde dann mit ihr geschehen? Musste sie das Land verlassen oder sperrte man sie in Wien ins Gefängnis zusammen mit richtigen Straftätern? Frau Pichler war ohnehin froh, den Schmuck los zu sein, so wie die behängt war, würde sie den Verlust wahrscheinlich nicht einmal bemerken. So betrachtet, war die Kette der fehlende Teil ihrer Bezahlung. Was sie wohl wert war? Milena könnte sie schätzen lassen und danach immer noch entscheiden, was damit geschehen sollte.
Auf dem Weg zum Pfandhaus bereute sie, was sie getan hatte und was sie tun wollte, aber gab es ein Zurück? Wenn herauskam, dass sie fremdes Eigentum behalten und sogar versetzt hatte, war es auch mit jedem anderen Sprachunterricht vorbei, empfehlen würde sie keiner mehr. Was, wenn der Geldverleiher sie fragte, woher der Schmuck stammte? Bestimmt würde sie auf der Stelle verhaftet werden. Am besten sie kehrte um, tat so, als habe sie ihr Lehrbuch im Salon vergessen, und legte die Kette an ihren Platz zurück. Zugleich begann sich Milena auszumalen, was sie sich gleich leisten konnte, vorausgesetzt, der Schmuck mit den blasslila Steinen brachte ein paar Kronen ein und war keine optische Täuschung wie die Kunstblumen. Erst würde sie auf den Markt gehen und all die Delikatessen kaufen, die sie sich seit Monaten verwehrt hatte. Kartoffeln, Gurken, etwas Fleisch oder auch Fisch. Bei dem Gedanken daran zog sich ihr Magen zusammen. Sie malte sich aus, wie sie zu Hause auf ihrem einfachen Küchentisch ein Essgelage à la Pichler zaubern würde, samt Servietten, Kerzen und Wein. Und Blumen natürlich, Schwertlilien vielleicht, in eine hohe Vase gestellt, oder langstielige Rosen. Pfeifentabak durfte sie nicht vergessen, damit sich ihr Mann rundum wohlfühlte. Vielleicht würde er dann wieder zu ihr zurückkommen und sie wären glücklich wie zu Beginn.
Anders als vermutet, waren die Dinge im Pfandhaus versteckt. Keine Auslagen, Pulte oder Vitrinen verrieten, welche Werte hier versetzt worden waren. Der kahle Empfangsraum könnte auch ebenso eine Leichenhalle ohne Sitzgelegenheit sein. Was zu Geld gemacht worden war, verbarg sich vor jedermann. Nur der Linoleumboden wirkte abgewetzt, als hätten hier schon Unzählige in Notgeratene ihr Hab und Gut verhökert. Hinter einer Art Fahrkartenschalter hockte eine gedrungene Frau, deren Busen auf der Theke ruhte wie eine schläfrige Katze.
»Geschlossen«, sagte sie, als Milena nähertrat und durch die Löcher in der Scheibe ihr Anliegen vortragen wollte. Sie vertilgte ein Wurstbrot, Krümel fielen ihr in den Ausschnitt, was sie nicht zu stören schien.
»Draußen steht durchgehend geöffnet«, erwiderte Milena auf Deutsch und entzifferte den Namen der Frau von einer Stecktafel: Cäcilie Oberlehner.
»Unsereins muss auch mal Mittag machen. Sie haben Glück, dass ich überhaupt da bin.« Sie schmatzte ungerührt.
»Dann komme ich ein anderes Mal.« Wenn das kein Wink des Schicksals war. Am besten sie ging, gab den Schmuck zurück und versuchte das Ganze zu bereinigen. Vielleicht sogar unbemerkt. Sie machte kehrt.
»Jetzt sind’s schon da, Fräulein, also, was wollen’s?« Frau Oberlehner schob das restliche Brot auf einmal in den Mund, klopfte die Hände aus, wischte die Krümel vom Pult und schluckte schwer.
»Ich habe das hier«, sagte Milena auf Deutsch und legte die Kette in die Vertiefung der Theke. Erst jetzt sah sie, dass im Verschluss noch dunkle Haare von Frau Pichler hingen. Allein das besagte, dass sie nicht ihr gehörte. Zu spät. Als Milena den Schmuck zurücknehmen wollte, hatte die Pfandhausdame bereits einen Hebel gedrückt und die Schublade zu sich herangezogen. Ihre Augen weiteten sich. Ein Krümel war auf ihrer breiten Unterlippe zurückgeblieben, drohte herabzufallen. »Die kommt mir bekannt vor.«
Milenas Herz raste. Was meinte sie damit? Kannte sie Frau Pichler oder die Kette? War der Schmuck vielleicht schon einmal versetzt worden?
»Du Ferdl, schau mal, was wir reingekriegt haben«, rief sie mit einer leichten Rückwärtsbewegung, ohne den Blick vom Prüfstück zu nehmen. Niemand erschien. »Ferdl? Wo steckst du?« Frau Oberlehner rutschte aus dem Sichtfeld und sprach mit jemandem, Milena verstand nicht, was sie sagten. Bestimmt holte dieser Ferdl oder wer auch immer die Polizei, eine andere Erklärung gab es nicht. Sie könnte davonlaufen, auf der Stelle, aber wohin? Wenn das Fehlen der Kette bemerkt wurde, war sie so oder so entlarvt. Am besten sie blieb hier und erklärte, wie es sich wirklich zugetragen hatte. Nach einer Weile kletterte Frau Oberlehner umständlich auf ihren Stuhl zurück, wischte sich über die Lippen und schob sich den Krümel in den Mund, kaute. Dann klemmte sie sich ein Vergrößerungsglas in ein Auge und prüfte jeden Goldzentimeter und jeden Stein. »Sind Sie sicher, dass Sie das Collier hergeben wollen?«
Heiliger Strohsack, ein Collier? Das klang, als hätte sie Kaiserin Zitas letzte Brillanten geraubt.
»Ja oder nein?« Die Dame blieb hartnäckig.
Milena hämmernder Puls schnürte ihr fast die Kehle zu.
»Wirklich schön, eingelegte Saphire, genau in den Edelweiß-Anhänger eingeschliffen, das ist feinste Goldschmiedearbeit.« Dass das ein stilisiertes Edelweiß sein sollte, war Milena gar nicht aufgefallen.
Frau Oberlehner wog die Steine in der Hand, als würde sie ihr Gewicht schätzen, legte sie dann auf eine Briefwaage und zog die Augenbrauen hoch, ohne das Gewicht zu nennen. Aber offenbar musste es viel sein. »Also, nun, was ist? Ich verstehe ja, dass solch eine Entscheidung nicht leicht ist. Ein Familienerbstück nehme ich an?« Doch sie erwartete zum Glück keine Antwort von ihr und redete weiter. »Sie geben und wir helfen, das wollen Sie doch? Wir haben vier Wochen Leihfrist mit Zins. Auf Tag und Stunde genau, wenn Sie das Collier bis dahin nicht abholen, ist es weg.« Sie hielt Milena fest im Blick, zupfte an ihrem Ausschnitt wie an einem kaputten Instrument und brachte bloß ein Rascheln zustande. Dann seufzte sie. »Wenn Sie mich fragen, Fräulein …«, sie beugte sich dicht vor die Sprechlöcher, die Scheibe beschlug unter ihrem Atem, »auch wenn es gegen das ganze Geschäft ist, ich würde es nicht hergeben. Ein Butterbrot ist schnell gegessen und ein solches Schmuckstück hat man für die Ewigkeit.«
Milena räusperte sich, inzwischen badete sie in ihren Sachen vor Hitze. Ihre Beine zuckten, als wollten sie ohne sie fortlaufen. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg, sie brauchte Abstand zu sich selbst und ihrer Lage. Das war’s! Neugier für andere, auf der Suche nach einer Geschichte, half am ehesten gegen das Herzflattern. »Alle Achtung. Sie sind Expertin für Schmuck, wo haben Sie das gelernt, wenn ich fragen darf?«
»Nun ja, Expertin …« Die Pfandleiherin lächelte. »Doch es stimmt, jeder hat ein Talent für etwas. Dabei bin ich erst seit acht Jahren im Geschäft, habe als Mundwäscherin beim Kronprinzen angefangen und musste mir dann leider im Krieg, als es nicht nur mit unserem Prinzen aus war, sondern insgesamt mit unserer Monarchie die Donau hinunterging, eine neue Beschäftigung suchen. Sie sind aus Böhmen, gell?«
Milena nickte. Sie beherrschte sich, nicht wie sonst darauf hinzuweisen, dass es Böhmen nicht mehr gab und sie Tschechin war. Stattdessen fragte sie: »Was ist eine Mundwäscherin?« Diese Berufsbezeichnung hatte sie tatsächlich noch nie gehört. War die Frau eine Art Wiener Zahnärztin wie ihr Vater? Langsam beruhigte sich ihr Puls, obwohl sie sich immer noch mitten in der Höhle des Löwen befand.
»Zusammen mit dem Kämmerer war ich für die Kleidung des ganzen Hofstaates zuständig. Ich musste dafür sorgen, dass ihre Ornate angemessen gesäubert wurden und für jeden Anlass das Passende bereitstand. Gott sei Dank hat sich die Mode vereinfacht. Ich sag’s Ihnen, was eine Hofdame an Ausstattung bei einer einzigen Zeremonie trug, reicht unsereinem heute für ein ganzes Leben an Stoff und Schichten. Eine anstrengende Arbeit war das, allerdings gut bezahlt. Trotzdem bin ich froh, dass ich das hinter mir habe, das Schlimmste waren die Dämpfe in der Wäscherei und die giftigen Methoden der Fleckentfernung. Und wie oft habe ich mir die Hände verbrüht.« Sie hob ihre Handflächen an und drehte sie wie zum Beweis. Narben oder Blessuren konnte Milena durch die zerkratzte Scheibe nicht erkennen. Die Haut spannte sich und ihre Handlinien kreuzten sich wie die Wiener Straßenbahnschienen.
»Gott sei Dank hat mich der Ferdl gerettet«, fuhr sie fort. »Er hat gleich gespürt, dass ich ein Feingefühl für Wertsachen habe, als wir uns im Prater begegnet sind. Mir entgeht nichts. Also, was ist jetzt, sagen wir siebenhundertachtzig Kronen für das Stück?«