7. Kapitel

FLIEDER

Auch wenn ihr das schlechte Gewissen wegen des Schmucks auf der Seele lag, konnte sie nun kaufen, was sie begehrte. Auf dem Weg zum Naschmarkt blieb Milena vorm Schaufenster von Ludwig Zwieback & Bruder stehen, einem achtstöckigen Kaufhaus in der Kärntner Straße. Kopflose Puppen trugen prunkvolle Kleider, mit Perlen bestickt und aus feinsten Stoffen gearbeitet. Es wirkte wie für sie gemacht. Spontan entschied sie sich, kurz hineinzugehen, Zeit, Lebensmittel einzukaufen, war immer noch, auch wenn der Hunger weiter an ihr nagte, aber das war sie gewohnt. Meist reichten ihre Einnahmen für kaum mehr als einen Eintopf pro Woche. Am Sonntag war das ein Festmahl mit allen Zutaten, danach verdünnte sie das Essen täglich, bis eine Wassersuppe mit ein paar Fettaugen übrigblieb. Sogar Kater Fjodor schnaufte nur in seinen Napf, wenn sie mit ihm den Rest teilte. Wie gut, dass sich Frau Koller, ihre Hausverwalterin, die sich auch um die Wäsche kümmerte, ihrer oft erbarmte.

Sie betrat die Eingangshalle, in der überall Spiegel und Kristalllüster hingen. Nur schauen, sagte sie sich, sich wenigstens vorstellen, ihre alten abgetragenen Sachen gegen echte Mode tauschen zu können. Gläserne Schubladenschränke lockten mit Kostbarkeiten und präsentierten erlesene Ware aus aller Welt. Anders als es in Prag selbstverständlich gewesen wäre, wo die ganze Stadt sie kannte, trat kein Verkäufer auf sie zu und fragte nach ihrem Begehr. Die Leute beäugten Milena abschätzig, wie der Diener der Pichlers es getan hatte, fragten sich vermutlich, was sie hier wollte, ob sie sich verirrt hatte oder zum Putzpersonal gehörte und den falschen Eingang benutzt hatte. Derart ärmlich gekleidet und Schmutz hereintragend war sie hier fehl am Platz. Genau das forderte sie heraus. Sie trat auf einen älteren Herrn zu, der an der geschwungenen Treppe stand. Er hatte nur einen strichbreiten Schnurrbart auf der Oberlippe, der wie mit Kohle aufgemalt wirkte. »Ich bin gerade von einer Weltreise zurück, Persien, Ostindien, Himalaya. Waren Sie schon einmal in der Wüste?« Milena machte eine Pause, sah den Verkäufer eindringlich an, als würde sie ihn in Erdkunde abfragen. »Der Mensch allein mit sich, nichts als unendliche Weite ringsum.« Sie breitete die Arme aus, merkte, wie eine Schweißwolke aus ihrem Ärmel stieg, und senkte sie wieder.

Er rang mit sich, seine Mundwinkel zuckten, offenbar hatte er sämtliche Geschäftsfloskeln vergessen und schielte zu seinen Kollegen, die aber auch keine Hilfe boten. Der Betrieb, der einen Augenblick stillgestanden hatte, als Milena hereinkam, wurde wieder aufgenommen, als sei sie unsichtbar.

»Meine Koffer lagern noch am Bosporus«, fuhr sie fort. »Ein Versehen, was die Schiffsgesellschaft teuer zu stehen kommen wird. Darum brauche ich dringend neue Garderobe. Doch nun bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich hier richtig bin. Man hat mir Ihr Geschäft empfohlen, aber …« Sie fasste in die Manteltasche und zog einen von Franz’ Briefen heraus, tat so, als lese sie ein paar Zeilen nach, und ließ dabei wie aus Versehen eine Krone fallen.

Im Nu taute der Verkäufer auf, bückte sich, gab ihr das Geld zurück und hatte auch seine Sprache wiedergefunden. »Selbstverständlich, Gnädigste, ich bediene Sie sofort und versichere Ihnen, dass wir das beste Haus für Konfektionskleidung in ganz Wien sind. Wie ist Ihr Name?«

Milena überlegte kurz und entschied sich dann für ihren Künstlernamen, den sie für die Artikel in den Prager Zeitungen benutzte.

»Nessey.«

Ein Runzeln glitt über seine Stirn, dann straffte er sich wieder. »Herzlich willkommen, Fräulein Nessey. Haben Sie an etwas Bestimmtes gedacht?«

»Frau Nessey, bitte.« Wenn schon, denn schon, dachte sie. »Mein Mann erwartet mich bereits, aber in diesem Aufzug kann ich ihm unmöglich gegenübertreten.« Sie musste aufpassen, dass sie sich nicht in Rage phantasierte, ein zweites Mal würde sie das Kaufhaus nicht mehr betreten können. Aber es machte Spaß, die alte Lebenslust keimte in ihr auf. Sie dachte an Staša und Jarmila, zu gern hätte sie jetzt ihre Freundinnen an ihrer Seite.

»Wenn Sie mir bitte folgen, Frau Nessey.« Der Verkäufer führte sie hinter die Treppe, wo sich ein Laufsteg verbarg, und schnippte mit den Fingern. Ein Angestellter trug einen Sessel herbei. »Möchten Sie ein Trotteurkleid, ein Mantelkleid oder ein Jumperkleid, geht es um ein Nachmittagskleid oder etwas zum Tanz oder die ganz große Abendgarderobe?«

»Äh, wie gesagt, ich will mich erst umsehen.«

»Umso besser. Nehmen Sie Platz, gnädige Frau, ich lasse Ihnen von unseren Vorführdamen unsere Frühjahrskollektion zeigen, ich bitte nur um einen Moment Geduld. Ist Ihnen einstweilen nach einer Erfrischung? Etwas Gespritztes oder darf es ein Gläschen Champagner sein?«

»Ich hatte heute noch keine Gelegenheit zu frühstücken und auf nüchternen Magen vertrage ich keinen Alkohol. Haben Sie vielleicht etwas Brot?«

»Leider nein, wie wäre es stattdessen mit ein paar Pralinés oder einem Stück erlesener Torte? Wir haben auch Sacher. Hans, lauf und bring der Dame ein paar Kostproben aus unserer hauseigenen Konditorei«, wies er den Sesselträger an. Sie streckte sich in den Polstern, legte die Beine übereinander und wippte mit den staubigen Schnürstiefeln. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass die Berater und Kundinnen aus den anderen Abteilungen neugierig herüberlugten. Wahrscheinlich rätselten sie, wer sich in Gottes Namen hinter diesem schäbigen Aufzug verbarg. Bald tauchten von allen Seiten Mitarbeiter auf und bedienten Milena, das ganze Kaufhaus geriet in Bewegung. Nun kam sie sich selbst wie eine Königin vor. Sie probierte sämtliche Delikatessen, die man ihr auf einem Tablett reichte, und musste sich beherrschen, nicht zu schlingen. Dazu trank sie gekühlte Limonade, was ihren Durst löschte, und später Tee aus feinstem Porzellan. Sie blätterte in Katalogen, begutachtete die Modelle der beiden Vorführdamen. Der Verkäufer kommentierte das Gezeigte, ließ sie die Stoffe befühlen. Crêpe de Chine, Crêpe Georgette, Lamé, Panne, Chiffon. Röcke, die wie Blütenkelche aussahen, gezackt am Saum oder glockig weit, mit betonter Hüfte. Lange, schmale Ärmel, aber auch Trichter- oder Fledermausärmel, manche am Bündchen zusammengenommen, andere ausgestellt wie Flügel. Dazu die herrlichen Muster, wie Gemälde, auf Seide, Leinen oder Krepp gestickt oder gedruckt. Vor lauter Auswahl schwirrten Milena die Sinne, sie machte sich Notizen für einen Modebeitrag. Doch wie schaffte sie es dann wieder aus dem Kaufhaus hinaus, ohne dass man die Polizei verständigte und sie als Hochstaplerin entlarvte? Sie könnte sich ein Kleid kaufen, ein einfaches, aus feinem Material, aber nicht zu schlicht vom Schnitt her. Es durfte schon ein wenig auffällig sein, damit Ernst sie wieder bemerkte. Aber welches? Die Entscheidung, ob überhaupt und wenn ja, welches, fiel ihr schwer. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sich die Mode seit Kriegsende verändert hatte. Allerdings hatte sie auch kaum noch einen Gedanken auf ihr Äußeres verschwendet, nur versucht, ihre wenigen Habseligkeiten einigermaßen in Ordnung zu halten. In Prag noch hatten sich ihre Freundinnen und sie für Expertinnen in Haute Couture gehalten. Hier in Wien trug Milena nur die einfachsten Sachen, verhüllte ihren Körper mehr, als dass sie ihn betonte. Die Ehe mit Ernst forderte sie so stark, dass sie sich fast selbst vergaß. Wenn sie für sich selbst schon fast unsichtbar war, wie sollte ihr Mann dann noch Gefallen an ihr finden? Sie liebte ihn doch, würde ihn auch weiterhin lieben, egal, was geschah. Aber die Arbeit am Bahnhof verlangte praktische Kleidung, die schmutzig werden durfte, und auch als Lehrerin trug sie besser etwas Einfaches. Doch jetzt war es so weit, sie würde sich selbst beweisen, was von der Jesenská, die gern etwas riskierte und nicht zurückstand, noch in ihr steckte. »Wie viel kostet das fliederfarbene Kleid?«, fragte sie den Verkäufer.

»Welches meinen Sie?«

»Das aus dem Schaufenster, es ist mir aufgefallen, als ich hereinkam.« Milena ging zurück und zeigte es ihm.

»Das ist aber keine Maßarbeit, Gnädigste, sondern Konfektion.« Der Verkäufer wirkte verschnupft, als er sich nach dem Preisschild bückte. »Es ist reduziert.«

»Fein, kann ich es anprobieren?«

»Selbstverständlich.« Er zog es von der Puppe und trug es mit ausgestrecktem Arm hinter einen Paravent. Das Kleid passte wie für Milena geschneidert. Ein doppellagiger Rock, der vom ärmellosen Oberteil über ihre Taille floss. Eine lange Schleife betonte ihre linke Schulter. Sie trat aus der Umkleide und drehte sich vor dem Spiegel.

»Wollen Sie noch farblich passende Unterwäsche? Dann möchte ich Sie an Frau Hofweiler verweisen, sie berät Sie gerne«, sagte der Verkäufer, als sie die Träger ihres vergilbten Unterkleides unter den feinen Stoff schob.

»Nicht nötig, danke. Aber Handschuhe würden mir gefallen, lange, bis über die Ellbogen.«

»Wir hätten welche in Handajour, mit Plissees und Perlmuttknopf verziert?« Er zeigte ihr das Sortiment.

»Gibt es auch welche mit Ermäßigung?«

»Da muss ich im Lager nachsehen.«

»Sind Sie so nett, bitte.« Milenas Laune besserte sich von Minute zu Minute. Auch wenn sie Geld ausgab, das ihr eigentlich nicht gehörte, war es das wert. Der Verkäufer brachte ihr elfenbeinfarbene Handschuhe, bei denen einer einen Webfehler auf der Innenseite hatte. Sie kosteten die Hälfte des ausgeschriebenen Preises. Den Spangenschuhen aus Samt widerstand sie, obwohl sie den gleichen Fliederton des Kleides besaßen und ihre abgetragenen Schnürstiefel wie ein Fauxpas dazu aussahen. Auch gegen Abendstrümpfe entschied sie sich. In Prag hatte sie auch keine Strümpfe getragen und war sich moderner denn je vorgekommen. Doch einen Hut brauchte sie noch und die Schminke gab es umsonst, aus den Näpfen und mit Pinseln zum Ausprobieren. Sie trug sie gleich selbst auf, umrandete ihre Augen mit dunkler Kreide, legte Rouge auf die Wangen und bemalte ihre Lippen. Unter dem fliederfarbenen Cloche-Hut zupfte sie ihre kurzen Haare zurecht, zog die widerspenstige Locke unter der Krempe hervor. Nach einem letzten Blick in den Spiegel bezahlte sie und war bereit, ihren Mann zurückzuerobern.