8. Kapitel

MARGERITE

Die Wände im Herrenhof wirkten moderner gestaltet, als Milena es in Erinnerung hatte. Sie war schon länger nicht mehr hier gewesen. Großblättrige Ranken, stilisiertes Obst und Schattenrisse von Figuren waren den Stofftapeten und ihren schweren Ölgemälden gewichen. Sie betrat das Kaffeehaus durch die Drehtür und ging an den Fensterlogen vorbei, die Aussicht auf die Hofburg boten und von Reisenden aus aller Welt frequentiert wurden. Die Stammgäste zog es weiter nach hinten, an der Sitzkassiererin vorbei, einer spitznasigen Brünetten, mit einem Schirmband im Haar. Milena hängte ihren alten Mantel an die Garderobe, nahm aber das Bündel mit den Briefen heraus. Nichts war ihr wertvoller als das, noch dazu bestärkten sie Kafkas Zeilen, als wären sie ein Elixier, das ihr Mut verlieh. Obwohl das Glasdach den Saal mit den Plüschbänken erhellte, leuchtete der Qualm, der aus Zigaretten, Zigarren und sonstigen Rauchwaren aufstieg. Milena sah zur Pollak-Loge, die mit mehreren Stühlen erweitert worden war. Wie üblich tummelten sich jetzt, am späten Nachmittag, die bekannten Selbstdarsteller zur großen Weltdiskussion.

Als sie sich an den anderen Tischen vorbeischlängelte, spürte sie Blicke auf sich und hörte Getuschel. »Das ist doch die Böhmische, oder nicht?«

»Du meinst die, die der Pollak aus einem Harem befreit hat?« Die Gerüchte wurden dreister von Mal zu Mal. In der Adler-Loge, die zu Ehren des Arztes und Psychologen Alfred Adler eingerichtet worden war – nur dass der Meister selbst bevorzugt im Central residierte –, glaubte Milena zuerst zwei Männer in einer Umarmung innig umschlungen. Doch als sich das Paar drehte, erkannte sie Franz Blei mit Gina Kaus. Sie war wie immer betont lässig im Garçonne-Stil gekleidet. Eine weite Hose mit Umschlag und Bügelfalte, dazu zweifarbige Schuhe. Mit ihrer Liaison hielten die beiden den Ruf des Herrenhofes, dass angeblich jeder mit jedem mindestens einmal zusammenkam, aufrecht. Eigentlich hatte Gina erst kürzlich Otto Soyka geheiratet, der wie fast alle hier mehr oder weniger von der Schreiberei lebte. Als Milena neu in der Stadt war und Ernst begleitete, hatte sie versucht, sich mit Gina anzufreunden, doch gelungen war es ihr bisher nicht. Und seit der Auseinandersetzung am Tag des Waffenstillstands gingen sie sich aus dem Weg. Vorher war sie zwar freundlich zu ihr gewesen, ließ aber oft schnippische Bemerkungen fallen, wenn sie Milenas Unsicherheit bemerkte. Lange grübelte sie, woran das liegen konnte. Und dann kam sie darauf. Als einzige Frauen in diesem literarischen Zirkel sah Gina sie offensichtlich als Konkurrentin. Nur weil Milena ihr erzählt hatte, dass sie ab und zu fürs tschechische Feuilleton schrieb. Dabei war Gina bereits eine bekannte Schriftstellerin. Ihre Stücke wurden im Burgtheater aufgeführt. Überdies durfte sie aktiv die Politik mitbestimmen. In Österreich gab es seit 1918 das Frauenwahlrecht, wovon Milena als Tschechin immer noch träumte.

Sie hielt Ausschau nach ihrem Mann, entdeckte ihn aber nicht. In seiner Loge saß nur Ministerialrat Inngraf, der sein Hörrohr auf den Dichter Franz Werfel gerichtet hielt.

»… ich liege als Kern im Gehäuse. So windstill im zarten Gesäuse, wohlwollend murmelnder Welt.« Werfel trug etwas aus seinen Manuskripten vor.

»Ja, Frau Pollak, welche Ehre«, unterbrach Inngraf den Dichter, als er sie erkannte. Beide Herren erhoben sich und ein paar eng beschriebene Papiere flatterten zu Boden. »Werfel hat gerade von Ihnen gesprochen.«

»Tatsächlich?«, fragte sie.

»Na ja, indirekt«, gab Inngraf zu. »Mehr von der Schönheit des Weibes allgemein, stimmt’s?« Werfel sammelte seine verstreuten Blätter ein und lächelte gequält.

»Setzn’ s Erna zu uns.« Inngraf rückte einen Stuhl bereit. Fast fühlte sich Milena mit »Erna« wieder nicht angesprochen. »Fesch sehn’s aus, wirklich sehr fesch.«

»Wissen Sie, wo mein Mann ist?« Sie blieb stehen.

»Ach, der wird schon wo sein. Er musste nur kurz etwas erledigen. Jetzt trinken’s doch erst mal einen Schluck und leisten’s uns Gesellschaft. Der Herr Werfel liest uns, mit Verlaub, einstweilen noch etwas aus seinen Ergüssen vor, das wird spaßig, ich versprech’s Erna.« Bevor sie weiterging, nickte Milena Werfel zu. Sie mochte ihn, kannte ihn noch aus Prag. Ein Franz wie ihr Franz Kafka. Zu Kaiserzeiten war Franz der beliebteste Vorname überhaupt gewesen. Kein Elternpaar huldigte seiner Majestät besser, als wenn es den eigenen Sohn nach dem Kaiser benannte. Daher wurde ständig ein deutscher Franz, ein österreichischer Franzl oder ein böhmischer Franzen getauft. Werfel und Ernst kannten sich seit Schulzeiten. Seither suchte Milenas Mann nach der schriftstellerischen Formel und entzündete bis dahin weiterhin in seinen Freunden das Feuer, bestärkte sie in ihrer Kunst und lockte neue Werke aus ihnen hervor. Auch wenn Milena all seine Anregungen, die er seinen Schützlingen gab, sofern sie sie mitbekamen, aufsaugte, als wären sie für sie bestimmt, hatte sie bisher nicht in seiner Gunst gestanden. Also war es an der Zeit, dass auch Ernst von ihrem neuen Beruf erfahren sollte. Als ihr Mann ausnahmsweise zu Hause übernachtet hatte und auf das Frühstück wartete, wollte sie ihn überraschen. Sie stellte sich den Wecker früher als gewöhnlich und lief leise aus der Wohnung, das Treppenhaus hinunter, um das »Wiener Tagblatt« aus dem Briefkasten zu holen. Beim Hinaufgehen tauschte sie die Kulturseite gegen das Prager Feuilleton, faltete die Bögen wieder fein säuberlich und brachte ihm die Zeitung zusammen mit dem Kaffee an den Tisch. Angespannt fixierte sie Ernst.

Er ließ sich Zeit, las die Zeitung von vorne weg, trank und aß, blätterte weiter. Im Schneckentempo näherte er sich dem Kulturteil, den er sonst als Erstes aufschlug, stutzte, blätterte zurück und wieder vor. »Drucken die neuerdings auch auf Tschechisch?«, fragte er.

»Wieso, was meinst du?« Milena biss in eine krümelige Brotscheibe, die Frau Kollers Marillenmarmelade halbwegs zusammenhielt, und gab sich möglichst unbeteiligt.

»Hier steht ein Artikel von einem gewissen A. X. Nessey in deiner Sprache.«

»Und um was geht’s?«

»So viel ich verstehe, um Freundschaft. Der Schreiber behauptet, dass nur ein junger Mensch die Fähigkeit zur Freundschaft besitzt. Je älter man ist, desto schwerer wird es, Freundschaften zu schließen. Aber es gibt Ausnahmen. Haha«, er lachte und Milena hüpfte das Herz, »Beethovens Freundin war angeblich ein alter geschnitzter Schrank. Das ist amüsant.« Er lehnte sich zurück, formte die tschechischen Wörter mit den Lippen.

»Und wie geht’s weiter?«, fragte Milena.

»Nessey erzählt von seiner Freundin, die er sogar nach Amerika mitnähme, falls er auswandern würde, als sein umfangreichstes Gepäckstück. Sehr prägnant, diese Charakterzeichnung.« Er senkte die Zeitung und sah auf die Uhr. »Aber lies es doch einfach selbst, wenn ich weg bin. Ich muss los.«

»Und wie heißt die Freundin?«, versuchte ihn Milena noch kurz festzuhalten.

»Frau Kohler.«

»Wirklich?« Sie konnte sich nicht mehr beherrschen und strahlte ihn an. »Was du nicht sagst. Ist das nicht ein Zufall? Unsere Frau Koller, die uns die Marillenmarmelade geschenkt hat, steht in der Zeitung?«, half sie ihm auf die Sprünge.

»Kohler mit H, nicht Koller mit zwei L«, erwiderte Ernst, trank aus und sprang auf.

»Warte, bitte.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Was würdest du sagen, wenn ich die Verfasserin wäre?«

Er blickte sie an, dann noch mal auf die Zeitung. »Du?«

Milena nickte. »Nessey war mein Spitzname als ›Minervistin‹, weil ich mich mit Vorliebe in englischer Literatur vergraben habe wie das Ungeheuer von Loch Ness. Das da ist von mir …«, sie strich über die Zeitungsseite, als wäre es Fjodors Fell, »und die Redaktion hat mich gefragt, ob ich noch weitere Artikel habe.«

Ernst zog die Augenbrauen hoch. »Du machst Witze.«

»Nein, die Witzeseite macht jemand anderes, ich schreibe Stimmungsberichte über Wien.«

Milena schritt weiter die Nischen im Herrenhof ab. In der hinteren Sitzgruppe des Kaffeehauses, neben dem Billardtisch, saß eine Frau alleine. Sie drehte eine Margerite in der Hand, roch an der Blume und rümpfte die Nase. Bevor sie sie ansprechen konnte, trat Ernst aus der Toilettentür, strich an ihr vorbei und schob sich zu der Dame auf die Bank. Er umschlang die Neue, küsste sie auf den Mund, winkte dem Kellner, um zu bestellen.

Erst dann bemerkte er Milena. »Servus, ich hätte Sie fast nicht erkannt, irgendetwas ist anders mit Ihnen, waren Sie beim Friseur?«

Dass er sie siezte, traf Milena mehr als alles andere. Sie drückte das Briefbündel an sich, als wollte sie sich tröstende Worte herausquetschen. Obwohl sie Kafka schon vieles über die Beziehung zu ihrem Mann geschrieben hatte, hielt er noch immer große Stücke auf ihn. Er habe ihn wohl anders beurteilt, antwortete er nach ihrer letzten Klage. Pollak war ihm im Kreis der Arconauten wie der verlässlichste, verständigste, ruhigste, fast übertrieben väterliche Mensch erschienen.

Ja, das war er auch für mich, dachte sie jetzt. Obwohl sie nicht nur blind, sondern auch taub und vor allem sehr einfältig gewesen war. Von wegen »die Jesenská«, die junge Grande Dame. Sie hatte sich von ihm einlullen lassen. Er sah in ihr nur eine Spielfigur, die er auswechselte, wie es ihm beliebte.

Allerdings wirkte Pollak auch undurchsichtig, räumte Franz schließlich ein. Und dann diese Eigenheit, sich im Kaffeehaus anrufen zu lassen. Auch noch spätabends. Mehrmals hintereinander, als sei Pollak die wichtigste Person. Da saß wohl jemand, statt zu schlafen beim Apparat, schrieb er, dämmerte hin, den Kopf auf der Rückenlehne und schreckte von Zeit zu Zeit auf, um zu telephonieren.

Ein Schausteller bist du, Ernst, dachte Milena jetzt.

Ein Kulissenschieber vom Varieté, der von der Begabung anderer lebt. Sie holte Luft, wusste aber noch nichts zu erwidern, beobachtete die beiden, die sich von ihrem Geturtel nicht abbringen ließen.

»Bei der Gelegenheit kann ich Ihnen Fräulein Mitzi Beer vorstellen«, sagte Ernst zwischen zwei Schmatzern. »Sie wird bei uns einziehen.«

»Was soll das heißen?« Dass gelegentlich seine Geliebten bei ihm übernachteten, kam vor, aber einziehen?

»Ja, sie wohnt ab sofort bei uns. Fräulein Beer kann sogar kochen, Sie werden sehen. Der Kater gewöhnt sich schon an sie und wenn nicht …«

»Fjodor geht euch nichts an«, unterbrach sie ihn, bevor er noch weitere Grausamkeiten aussprechen konnte. »Und noch etwas«, sie wandte sich an die Frau. »Margeriten duften nicht, das haben Sie bestimmt schon bemerkt. Sie stinken nach Käse, werte Dame, genau wie Herrn Pollaks Füße. Also seien Sie gewarnt.« Ihr reichte es. Ihrem Mann zuliebe hatte sie sich bisher noch nicht mit Kafka verabredet. Dabei würde Ernst es nicht einmal bemerken, wenn sie sich mit ihm traf. Sie lebte in dieser fremden Stadt und musste sich mit Hilfsarbeiten herumschlagen, während Pollak sein Gehalt mit seinen Liebschaften durchbrachte. Wo blieb die Gerechtigkeit? Und nun hatte sie auch noch Geld für etwas herausgeschlagen, das ihr nicht gehörte, in der Hoffnung, Ernst mit ihrem Auftritt zurückzugewinnen. Wo war die Milena in ihr, die sich von nichts und niemandem etwas gefallen ließ? Dass jetzt auch noch eine von seinen Liebchen bei ihnen einzog, war das Letzte. Wie lange wollte sie sich weiter von Ernst demütigen lassen und vor lauter Rücksicht ihre Selbstachtung verlieren? Schluss damit, entschied sie. Sollte Ernst doch all seine Fräuleins gleichzeitig um sich scharen. Von nun an würde sie ihren eigenen Weg gehen und sich nicht mehr nach ihm richten. Das Fünkchen Aufmerksamkeit, das er ihr gelegentlich schenkte, durfte er gerne behalten. Milena würde Franz zu sich einladen. Es war Zeit herauszufinden, ob Herr Kafka nicht nur schreiben, sondern auch sprechen konnte. Aber zuerst musste sie das, was sie angestellt hatte, wieder in Ordnung bringen, oder es zumindest versuchen.