JASMIN
Entschlossen betrat sie die nächstbeste Wache. »Guten Abend, ich möchte ein Missverständnis melden«, sagte sie zu einem Polizeibeamten, der säbelbewaffnet vor einer Schreibmaschine saß und die Tastatur anstarrte, als erobere er einen neuen Kontinent. Laut des Schildes, das auf dem Tresen stand, handelte es sich um Revierinspektor Wurz.
Es dauerte eine Weile, bis er sich erhob und zu ihr trat. »Soso, Fräulein, ein Missverständnis?« Hinter vorgehaltener Hand gähnte er, schielte dabei auf die Wanduhr, die Viertel vor zehn zeigte.
»Frau, bitte, nicht Fräulein«, verbesserte sie ihn. »Wie soll ich es erklären, es gab da ein Vorkommnis, das zu einem Missverständnis geführt hat.«
»Und wie kann die Polizei bei dieser Angelegenheit behilflich sein?«
»Es geht um einen Diebstahl, also einen vermeintlichen Diebstahl. Jedenfalls könnte man es dafür halten und ich möchte Ihnen als Erstes die Wahrheit sagen, damit es nicht noch zu weiteren Missverständnissen kommt.«
Der Inspektor seufzte. »Also gut, gnä’ Frau, was ist Ihnen denn gestohlen worden?«
»Nichts.« Sie räusperte sich, wie sollte sie anfangen zu erklären, dass es ihr um Gerechtigkeit ging, für sich und für andere? Milena wollte nicht weiter gebeugt durchs Leben schreiten, sondern aufrecht, mit reinem Herzen. »Ich wollte sagen, nicht mir ist etwas gestohlen worden, sondern ich habe gestohlen, also nicht direkt, man könnte meinen, dass ich es getan hätte.« Langsam und deutlich wendete sie die korrekte grammatische Vergangenheit an, als befände sie sich im Deutschunterricht.
»Aha.« Wurz holte Luft und griff sich unter die kakaobraune Dienstkappe, als müsste er seine wenigen verbliebenen Haare ordnen. »Und was haben wir gestohlen?« Er wirkte nicht sonderlich beeindruckt. Diebe oder welche, die man dafür hielt, schienen hier tagtäglich hereinzuspazieren wie Kaffeehausbesucher.
»Eine Kette oder genauer gesagt, ein Collier«, gab sie zu. »Es ist sehr wertvoll, ich habe es versetzt und eine Menge Geld dafür erhalten. Doch das wollte ich eigentlich alles nicht. Es ist ganz aus Versehen in meiner Tasche gelandet.« Sie merkte, wie unglaubwürdig das klang, sie konnte sich selbst kaum glauben, wenn sie sich so reden hörte. Darum schüttete sie die restlichen Scheine samt Münzen aus der Geldbörse und breitete sie vor ihm aus. Trotz ihres üppigen Einkaufs ergab das noch eine beachtliche Menge.
»Verstehe ich richtig? Sie haben Schmuck gestohlen und nun bereuen Sie es und wollen sich selbst anzeigen?«
»Ich habe nicht gestohlen, aber die Herrschaft meint, dass ich es getan hätte.« Dabei sah sie ihn so aufrichtig wie möglich an.
»Haben Sie getrunken?«
Sie nickte. »Etwas Limonade und danach Jasmin.«
»Ist das ein Likör?«
Wurz stützte sich auf die Ablage, was ein knarrendes Geräusch erzeugte, und näherte sich ihrem Gesicht. »Hauchen Sie mich mal an«, forderte er sie auf. Sie hauchte, er roch. »Jasmin, soso, ich dachte, das ist eine Blume.«
»Ist es auch, aber die Chinesen machen einen sehr feinen Tee daraus, wurde mir erklärt. Ich habe ihn auch zum ersten Mal probiert.«
»Also, chinesischer Tee, von mir aus.« Der Inspektor blies die Luft aus den Wangen und brachte seine Bartschnecken zum Zittern. »Und was sagt Ihr Ehemann dazu? Ich meine nicht zu der Teetrinkerei, sondern, dass Sie hierherkommen und sich selbst des Diebstahls bezichtigen?«
Milena schwieg kurz. »Er weiß nichts davon, das soll bitte auch so bleiben.«
»Wir werden sehen, stecken’s das vorerst wieder ein.« Wurz wedelte mit der Hand, als hätte sie Exkremente vor ihm ausgebreitet. »Dann nehmen’s dort drüben auf der Bank Platz, bis sich wer um Sie kümmert.« Nachdem Milena das Geld wieder verstaut hatte, setzte sie sich an die Wand. Er nickte ihr kurz zu, so als wäre sie nun abgehandelt und aufgeräumt, und schlurfte zu seinem Pult zurück. Sie legte die schwere Tasche mit ihren alten Kleidungsstücken neben sich ab und sah sich um. Die Säulen spiegelten sich auf den blankgescheuerten Dielen. Über sich glaubte sie Schritte und gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Ein Telefon klingelte, minutenlang, ohne dass jemand abhob. Sie blätterte in der Polizei-Rundschau namens »Öffentliche Sicherheit«, die auf einem Tischchen neben einem Aschenbecher auslag. Eine Tuschezeichnung zeigte einen Verkehrspolizisten, der mit einer Hand einen Fiaker, ein Automobil ohne Verdeck, einen Radfahrer und eine Tramway gleichzeitig am Justizpalast vorbeidirigierte. Es gab auch eine Kinderseite in der Mitte des Heftes. »Das Kind zeichnet Wiener Wachleute, Folge vierzehn.« Die Seite zeigte einen Polizeibeamten, erst als Strichzeichnung ohne Kleidung und dann in Uniform, von vorne und im Profil, wie sonst nur Straftäter abgelichtet wurden. Mit seinem eingedrehten Schnurrbart und dem angedeuteten Doppelkinn entsprach die Vorlage ziemlich genau dem Inspektor, der sie allerdings vergessen zu haben schien. Sie stellte sich Kinder vor, die an einem Regentag zu Hause am Tisch saßen und sich konzentriert abmühten, ihre Version von Wurz zu Papier zu bringen.
Sie dachte nach. In ihrer eleganten Kleidung wirkte sie auch nicht wie eine Dienstbotin oder Sprachlehrerin, eher wie eine entlaufene Ehefrau. Das fehlte noch, dass Ernst hier aufkreuzte und sie herausboxte. Wen könnte sie stattdessen um Unterstützung bitten? Ihren Vater nicht, er hatte ihr jegliche Hilfe untersagt. Es sei denn …, ihr fiel etwas ein. Sie hustete mehrmals, suchte umständlich nach einem Taschentuch, versuchte so, auf sich aufmerksam zu machen. Womöglich war diese Missachtung bereits Teil der Bestrafung. Aber, wenn dem so war, dann sollte man ihr das mitteilen. Gerade als sie sich erhob und noch mal mit dem Inspektor reden wollte, wurde die Tür aufgerissen, zwei Schutzleute zerrten zwei Männer herein. Die Verhafteten trugen ebenfalls Uniform, allerdings keine neuen braunen, sondern graue abgewetzte Offiziersmäntel, dazu Trachtenhüte mit wippenden Federn. Milena erkannte sie als Hahnenschwänzler der Heimwehr. Erst neulich war ein Trupp von diesen Kerlen auf der Straße vorbeigezogen, als sie um Brot anstand. Man sah immer mehr von ihnen in der Wiener Innenstadt. Mit ihrer nationalpatriotischen Gesinnung setzten sie alles daran, die rote Regierung zu stürzen, um die alte Ordnung, wie sie sie nannten, wiederherzustellen. Am liebsten hätten sie den Kaiser zurück. Kaum waren sie an der Bäckerei vorbeimarschiert, ging ein leiser Spottvers durch die Reihe: »Hahnenschwänzler, Hahnenschwänzler, bist ein armer Tropf. Was der Hahn am Hintern hat, trägst du stolz am Kopf.«
Im Gegensatz zu Milena waren die Männer angetrunken. Sie randalierten, spuckten und traten um sich. Die Polizisten hatten Mühe, die beiden trotz der Handeisen zu halten. Der eine blutete aus einer Wunde unter der Hutkrempe, die Uniformärmel des anderen hingen in Fetzen herab. Sie wehrten sich mit aller Kraft, grölten und randalierten. Ein Tumult entbrannte. Der Stirnverletzte fegte mit einem Schlenker seiner breiten Schulter das gerahmte Porträt des Polizeipräsidenten von der Wand und zerbrach zusätzlich eine Wandleuchte. Inspektor Wurz gab die Schreibmaschine auf, sprang überraschend wendig für seine Statur über den Tresen und wollte eingreifen. Kaum kam er auf die Stiefel, bereit, den Säbel zu ziehen, streckte man ihn mit einem Tritt nieder. Die Aufrührer traten auf ihn ein, als wäre er Ungeziefer, bis die Pfeife eines Beamten schrillte, um Verstärkung zu rufen.
»Was will das Weibsbild hier, ist das auch eine Rote?« Ein Hahnenschwänzler hatte Milena entdeckt. »Schickt ihr nun schon die Weiber vor?« Vier weitere Polizisten rannten mit Waffen die Treppe herunter. Milena kauerte sich hinter eine Säule, wagte kaum zuzusehen. Gleich würde Blut spritzen, glaubte sie schon, doch dann, wider Erwarten, gelang es den sieben, die zwei Kerle doch noch ruhig zu stellen. Auch Inspektor Wurz rappelte sich hoch.
»Alles in Ordnung?«, fragte einer der Beamten in Milenas Richtung. Davon fühlte sich Wurz angesprochen, er nickte tapfer, schwankte leicht und straffte seine Uniform. Die Aufrührer wurden den Gang hinuntergezerrt, wo vermutlich die Zellen lagen. Kaum waren alle fort, rieb sich der Inspektor die Seite, seufzte und humpelte zu seinem Schreibtisch zurück. Als sei nichts gewesen, kehrte erneut Stille ein. Wurz schlug in unregelmäßigen Abständen in die Maschine, als komponiere er gerade eine etwas zähe Buchstabenmelodie. Bald war es Mitternacht.
Milena hielt es nicht mehr aus, sie stand auf, ging zur Toilette, kam zurück, ohne beachtet zu werden. »Was geschieht mit mir?«, fragte sie und trat an den Tresen, der mit Glassplittern übersät war.
»Ach, die gnä’ Frau.« Wachmann Wurz schreckte hoch, als wäre er überrascht, dass sie noch immer da war.
»Können Sie mir bei der Klärung der Angelegenheit behilflich sein?«, fragte Milena.
»Wir sind nur für Straftaten zuständig. Am besten, Sie gehen nach Hause und reden mit Ihrem Ehemann. Oder Sie klären das mit den Geschädigten selbst. Sie haben doch gesehen, was hier los ist. Ich kann mich nicht zerreißen, mich noch in Ehestreitigkeiten einmischen.«
»Es geht nicht um meine Ehe, es geht um Gerechtigkeit. Haben Sie sich das nicht auf die Fahnen geschrieben?« Sie bückte sich und hob die Fotografie des Polizeipräsidenten auf, die noch immer am Boden gelegen hatte.
»Von mir aus, dann schildern Sie mir den Sachverhalt noch mal, und ich überlege, was man tun kann.« Umständlich suchte er unter den Akten, bis er ein Formular fand, wischte mit dem Ärmel die Glasscherben zur Seite. »Sie heißen?« Er griff nach einem stumpfen Bleistift und leckte daran.
»Milena.«
Der Bleistift schrieb ein vages M aus Spucke, mehr nicht. Offenbar Wiener Geheimschrift, dachte sie. Rasch holte sie ihren Bleistift aus der Tasche und reichte ihn Wurz. Murrend nahm er ihn. »Und weiter?«
Sie zögerte, rollte die langen Handschuhe über den Ellbogen und zog sie Finger für Finger aus.
»Ihr Nachname, Frau äh?« Wurz wirkte verunsichert. »Wie heißt Ihr Ehemann? Können Sie sich ausweisen?«
Einen gültigen Reisepass besaß sie nicht mehr und für einen Neuantrag musste sie ihren Mann um eine Vollmacht bitten. Also zeigte sie anstelle ihres Ausweises den Pfandschein vor. »Ich werde die Kette wieder auslösen und zurückgeben. Ich werde alles wieder zurückgeben, sobald ich das Geld zusammenhabe.« Sorgfältig faltete sie die Handschuhe und legte sie zu der Fotografie. »Ein Teil ist leider schon verbraucht, aber vielleicht kann mein Vater für mich bürgen. Professor Doktor Jan Jesenský. Er wohnt in Prag.«
»Ach, Sie sind aus Böhmen, dachte ich es mir doch.«
»Ich bin Tschechin«, sagte sie mit Stolz in der Stimme. Er griff zum Telefon. Es dauerte, bis die Vermittlung die Verbindung herstellte. Milena flehte innerlich, dass ihr Vater zu Hause sein möge – und wurde erhört.
»Jesenský.« Seine markante Stimme bellte aus der Sprechmuschel.
»Polizeiinspektion Innere Stadt Wien. Wurz am Apparat.« Er sprach langsam und deutlich, als habe er am anderen Ende einen Schwerhörigen. »Es geht um Ihre Tochter, Herr Professor …« Sofort fiel ihr Vater in einen halb tschechisch, halb deutschen Redeschwall, Milena nahm nur Bruchstücke wahr. Seit zwei Jahren hatte sie seine Stimme nicht mehr gehört. Sie drang ihr durch Mark und Bein, aber zugleich berührte sie auch ihr Herz.
»Nein, Herr Professor, ihr ist nichts passiert, so hören Sie doch …«, lenkte Wurz ein und strafte Milena mit einem Seitenblick. Dabei rieb er sich selbst über den Brustkorb, als habe er beim Atmen Beschwerden, doch niemand trüge Sorge um ihn. »Vielmehr, Ihre Tochter behauptet, gestohlen zu haben.« Milena schüttelte den Kopf. »Nein, oder besser gesagt, sie wird des Diebstahls beschuldigt, hat es aber nicht getan. Darum meine Frage an Sie, trauen Sie ihr so etwas zu?« Es knackte in der Leitung. Milena glaubte schon, Vater hätte eingehängt. »Herr Professor, sind Sie noch dran?«, fragte Wurz ebenfalls verunsichert.
»Ja, das tue ich«, sagte ihr Vater in überspitzt betontem Deutsch.
»Meine Frage war, ob Sie Ihrer Tochter …«, wiederholte Wurz, hielt das Telefon nun so, dass Milena mithören konnte. »Eigentlich ist das eine Angelegenheit für den Ehemann, doch Ihre Tochter sagte, ich sollte Sie zuerst verständigen.«
»Herr Inspektor, ich habe Sie sehr gut verstanden, und ja, natürlich, alles was Sie sagen, ist Milena. Ich bitte Sie nur um eines, halten Sie sie fest. Ich beeile mich auch und fahre sofort los. Wo, sagten Sie, ist Ihre Inspektion in Wien?«