10. Kapitel

LAVENDEL

Die restliche Nacht verbrachte Milena in Gewahrsam, wie Wurz das finstere Loch nannte, in das er sie einschloss, als wäre sie wirklich eine Diebin. Zuvor hatte er doch noch die Einzelheiten des Vorgangs und ihre Personalien aufgenommen, und auch den Pfandschein und das Geld beschlagnahmte er. Nur mit der Entscheidung, ob Milena wieder in ihre alte Kleidung schlüpfen sollte, war er überfordert. Er durchsuchte die Tasche, zog Kafkas Briefe heraus und hielt die Umschläge mit der Empfängeradresse unter die Lampe. »Frau Kramer, wer soll das sein? Ich dachte, Sie heißen Pollak, geborene Jesenský?«

»Jesenská, bitte«, erklärte Milena, obwohl sie es ihm richtig aufgeschrieben hatte. »Kramer ist so etwas wie …« Sie überlegte kurz. »Ein Künstlername. Ich bin Journalistin und schreibe für Prager Zeitungen.« Das war nicht nur eine Behauptung, sondern Tatsache, gestand sie sich selbst ein.

»Und warum leben Sie dann in Wien?«

Das frage ich mich auch, jeden Tag, jede Stunde und Minute, dachte sie. »Weil ich über die Stadt und die Stimmung seit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs berichte«, antwortete sie aber stattdessen. »Verzeihung, ich meine, seit dank der sozialdemokratischen Regierung Frieden herrscht.«

»Dann sind Sie von der politischen Presse? Warum sagen Sie das nicht gleich? Spielen mir hier etwas von einem Diebstahl und Pfandschein vor. Dabei wollen Sie sich hier einschleusen und mich über die Verhältnisse in unserem Strafvollzug aushorchen. Gleich vorweg, da gibt’s nichts zu beanstanden. Und solche wie die Hahnenschwänzler vorhin, das gehört leider schon fast zum täglichen Ablauf.« Er holte Luft, wirkte, als wäre das die längste Rede seines Lebens gewesen.

»Ich finde, dass Sie sich vorbildlich benommen haben«, sagte sie. »Aber ich schreibe nicht über Tagespolitik und auch keine Polizeireportagen, ich arbeite fürs Feuilleton.« Und als er bei dem französischen Wort die Augenbrauen hob, ergänzte sie schnell: »Die Kulturseite.«

»Ach so. Kultur.« Er winkte ab. »Und da haben Sie als kulturell gebildete Frau mal eben etwas mitgehen lassen, oder wie?«

»Sie verstehen es nicht. Wie kann ich es nur erklären?«

»Das klären wir später.« Wurz sah auf die Uhr, als fragte er sich innerlich, warum ausgerechnet er jetzt und heute Dienst hatte. »Ich muss Sie in Gewahrsam nehmen, sagen wir zu Ihrem Schutz, wie es Ihr Vater verlangt hat. Das Ehepaar Pichler werde ich so spät nicht mehr herausklingeln. Ihre Tasche lassen Sie hier, folgen Sie mir.« Milena schob den gepressten Lavendel zurück ins Kuvert, den ihr Kafka in einem der letzten Briefe mitgeschickt hatte, wollte den Inspektor schon bitten, ja auf ihre Sachen achtzugeben, schwieg aber dann besser. Sie schritten den Gang entlang und hinab in den Keller bis zu einer Zelle neben den Heimwehrlern, die sofort zu grölen anfingen, als sie sie erblickten, und durch die Gitterstäbe nach ihr grabschten. Gott sei Dank trennte sie bald eine dicke Ziegelwand voneinander. Eine Weile vernahm sie noch anzügliche Bemerkungen und Lockversuche, dann gaben die Kerle auf. Milena kauerte sich auf die Pritsche. Ihre Gedanken kreisten. Wie so oft in ihrer Jugend war sie vorgeprescht, hatte sich in etwas hineingeritten, ohne an die Folgen zu denken, und sich womöglich das letzte Stück Hoffnung auf Freiheit genommen. Sie dachte an Kafka. Er träumte von ihr, mal war es ein Albtraum, dass sie ihn ablehnte, als sie sich in der Wirklichkeit gegenüberstanden. Sie habe sich ihn anders vorgestellt und war enttäuscht, in einem anderen Traum nahm er sie wie selbstverständlich mit auf einen Spaziergang, als lebte sie schon an seiner Seite. Milena fragte sich, wie das Leben mit ihm wohl wirklich war, jenseits von Traum und Schreiberei? Würden sie sich im Alltag genauso vorsichtig umkreisen wie in ihren Briefen? Oder schlich sich auch da dann bald ein abfälliger Ton à la Ernst Pollak ein?

Sie überlegte, ob sie den Inspektor um Papier und Stift bitten sollte, um Kafka zu schreiben. Womöglich saß sie tagelang ein, bis sich ihr Vater herbequemte. Wenn er es überhaupt tat. Vielleicht hatte er den Inspektor nur abwimmeln wollen. Ein Schrecken durchfuhr sie. Wer kümmerte sich in der Zeit um Fjodor und ihre Blumen? Würde Ernst vor lauter »Mitzi« den Kater füttern und ihre Pflanzen gießen? Sie musste Frau Koller Bescheid geben, auf sie war Verlass. Doch wie erklärte sie ihr, dass sie im Gefängnis saß? Würde sie sich nicht sofort bei Ernst beschweren und sie aus der Wohnung werfen? Wurz drehte von draußen das Licht ab. Das Mondlicht, das durch den vergitterten Kellerschacht fiel, teilte den Steinboden in Streifen. Im Finstern drehte sich Milena auf die Seite, legte den Kopf auf ihre Handflächen und zog die Beine an. Ganz leicht nahm sie den Duft von Lavendel wahr, der noch an ihren Fingern klebte. Sie sog ihn tief ein, stellte sich dabei Kafkas Gesicht vor, tauchte langsam in seinen Blick, als springe sie von einem Sprungbrett aus in einen See.

»Frau Pollak, aufstehen.« Wurz weckte sie. Sie blinzelte gegen das grelle Licht, das er wieder aufgedreht hatte. »Es ist fast Mittag, Sie können gehen. Es ist alles geklärt.«

Milena setzte sich auf und bewegte die taubgewordenen Schultern. »Heißt das, mein Vater ist hier?« Sie zupfte ihr verschwitztes Kleid zurecht und versuchte, den zerknitterten Rock glatt zu streichen, fragte sich zugleich, wie sie bloß in dieser unbequemen Haltung auf der harten Bank so lange hatte schlafen können. Gleich würde sie Vater nach so langer Zeit wiedersehen und sich bestimmt einiges anhören müssen. Ihr Gedankenspiel hatte funktioniert. Hätte sie ihn direkt gebeten, ihr beizustehen, hätte er vermutlich nicht einmal reagiert. Aber die Jesenský-Ehre verteidigte er, egal, was seine Tochter anstellte. Dann ließ er alles liegen und stehen und fuhr die Nacht im Automobil bis nach Wien durch.

»Der Herr Professor hat mit den Pichlers gesprochen und die Angelegenheit selbst bereinigt. Seinem Leumund und guten Ruf ist es zu verdanken, dass keiner, auch nicht wir, der Sache nachgehen werden. Alles Weitere bereden Sie am besten mit ihm, das geht die Polizei nichts mehr an. Nun kommen Sie, ich habe in fünf Minuten Dienstschluss.« Er gab ihr die Tasche zurück und scheuchte sie fast hinaus. »Ich belasse es bei einer Verwarnung. Aber wenn Sie das nächste Mal bei der Polizei auftauchen und noch mal Lügenmärchen auftischen, von wegen Presse und Schmuck gestohlen, wird es nicht mehr so glimpflich für Sie ausgehen, Frau Pollak, Jesenský oder wie Sie sonst noch heißen.«