11. Kapitel

KATZENMINZE

Gleich in der Straßenbahn überprüfte sie, ob ihre Sachen noch vollzählig waren. Die Schleife des Briefbündels wirkte ungeöffnet. In ihrer Börse fehlte der Pfandschein, aber das Geld war noch darin. Ein Zettel lag dabei, darauf stand auf Tschechisch:

Milena, der Schmuck war wertlos, behauptet Oberst Pichler, wie hast du nur so viel dafür herausschlagen können? Offenbar hast du doch aufgepasst, als ich dich einmal in die Spielhalle mitgenommen habe. Ich habe das Geld dem Pfandhaus zurückgezahlt, behalte du den Rest. Ich muss zurück, wollte dich nicht wecken, aber melde dich, Vater.

Das war mehr, als sie erwartet hatte. Hin- und hergerissen, ob sie ihn gleich anrufen oder ihm wenigstens schreiben sollte, strich sie über seine eckige Handschrift. Sie wagte sich kaum auszumalen, was mit ihr geschehen wäre, wenn er sich nicht eingesetzt und ihre Schulden im Pfandhaus beglichen und mit den Pichlers geredet hätte. Zugleich zögerte sie. Einerseits sehnte sie sich nach ihrem Vater, andererseits wollte sie überhaupt nie mehr etwas mit ihm zu tun haben. Warum dachte man bei seinen Eltern immer zuerst an die schönen Momente und blendete die traurigen und verletzenden Erinnerungen aus? Wie war wohl Kafkas Verhältnis zu seinem Vater? Sie beschloss, ihn das gleich im nächsten Brief zu fragen. Da Vater ihr das restliche Geld gelassen hatte, konnte sie jetzt auf den Markt gehen und einkaufen. Auch ihre Schulden beim Schuhmacher beglich sie endlich. Zu Hause empfing sie Fjodor, hungrig miauend strich ihr der Kater um die Beine. »Heute gibt’s keine Reste, mein Lieber.« Sie überraschte ihn mit ihrem kleinen Festmahl, wenigstens ihn. Dem fehlenden Mantel und Hut nach war Ernst schon im Bureau. Die Zimmertür war versperrt, das tat er öfter in letzter Zeit, anscheinend wollte er nicht mehr, dass sie in seinen Unterlagen stöberte. Auch zum Saubermachen ließ er sie nicht mehr in seinen Teil der Wohnung. Die Kakteen hatte er in die Küche gestellt, damit sie nicht in Versuchung kam. Milena hatte den Verdacht, dass es mit ihren Veröffentlichungen zusammenhing. Womöglich glaubte er, sie holte sich Inspiration aus seiner Lose-Blatt-Sammlung. Die Mappe mit Kafkas Mitteilungen hatte sie zurückgelegt. Dass ihre erste Übersetzung von Kafkas Erzählung in der Prager Zeitschrift »Kmen« erschienen war, hatte sie ihrem Mann gar nicht gesagt. Auch wenn sie vor Freude und Stolz fast zersprungen war, als sie das Belegexemplar im Briefkasten vorfand, beherrschte sie sich diesmal und behielt es für sich. Vielleicht wollte Ernst vermeiden, dass sie beim Aufräumen Unterwäsche von seinen Liebchen fand. Hoffentlich zog dieses Fräulein Beer nicht wirklich in nächster Zeit hier ein.

Nachdem Milena für sich und Fjodor ein köstliches Frühstück bereitet hatte – Speck und Sahne für ihn, Rühreier, frisches Brot und echte Butter für sich –, setzte sie Wasser auf. Sie mahlte sich in der Wandmühle eine Handvoll echte Arabica Kaffeebohnen, die sie sich ebenfalls gegönnt hatte, keine Zichorie oder anderen unbestimmbaren Ersatz, und brühte sie auf. Bald zog ein selten herrlicher Duft durch die Wohnung. Im Grünen, umgeben von ihren Pflanzen, fühlte sie sich wie an einem exotischen Ort. Sie goss sich Sahne in den Kaffee und setzte die Buchteln auf einen Teller, die der Bäcker vom Vortag im Angebot gehabt hatte. Sie musste geduldig sein, auch wenn sie sich am liebsten gleich auf das Gebäck stürzen wollte. Nicht, dass ihr schlecht wurde. Satt zu werden, war sie nicht mehr gewohnt. Sie schrieb einen neuen langen Brief an Franz, erzählte ihm, was geschehen war, und hoffte, dass wenigstens er ihr glaubte. Wieder breitete sich dieses warme Gefühl in ihr aus, als sie an ihn dachte und sich vorstellte, wie er als Mensch in der Wirklichkeit war. Aus einer Eingebung heraus bat sie ihn, sie endlich zu besuchen. Sie schreckte hoch, als sie Geräusche von nebenan hörte.

Plötzlich stand Fräulein Beer in der Küche, in einem geblümten, viel zu kurzen Nachthemd, das ihr kaum bis zu den Knien reichte. »Habe ich mich doch nicht getäuscht, Kaffee, ich dachte schon, das Aroma zöge durch die Fußbodenritzen vom Nachbarn herauf«, sie leckte sich die Lippen, »und was Süßes gibt’s auch noch.« Ihre Schminke war verschmiert und ihr Haar am Hinterkopf plattgedrückt. Sie setzte sich auf den zweiten Küchenstuhl und schlug die nackten Beine übereinander. »Ich hoffe, wir verstehen uns. Wollen wir du sagen? Ich bin die Maria, aber alle nennen mich Mitzi.« Ohne zu fragen, nahm sie sich eine Buchtel und biss hinein. »Mmh, köstlich. Was schreibst du denn da?« Sie schielte auf den Brief.

Rasch hielt Milena die Hand darüber, faltete ihn und schob ihn in ein Kuvert. Kafkas Meraner Adresse würde sie später draufschreiben.

»Ernstl hat erzählt, dass du Reporterin bist. Finde ich großartig, ich meine, so als Frau über die Weltg’schicht schreiben, Respekt.«

Ernstl, so nannte sie ihn also, dachte Milena.

»Ich lese zwar keine Zeitungen, das macht nur schlechte Laune und schlechte Laune gibt Pickel«, plapperte Mitzi weiter, »aber Romane les ich viel. Ich verschling sie im Grunde, warte!« Sie schob sich die halbe Buchtel in den Mund, sprang auf, lief ins Schlafzimmer. Prompt kehrte sie mit einem Stapel zerfledderter Groschenhefte zurück und breitete sie auf dem Küchentisch aus, als wäre sie eine Kioskverkäuferin. Milena warf einen Blick auf die Titel: »Tapfere Elisabeth«, »Im Wirbel des Schicksals«, »Anitas Ehen«. Ehen in der Mehrzahl! Na, bravo, dachte sie, das war die richtige Lektüre für eine, die sich in die Beziehung anderer Leute drängte.

»Schreib doch mal so etwas, dann lese ich es auch.« Mitzi nahm Milenas Tasse und schenkte sich Kaffee nach.

»Über uns drei, meinst du?« Eigentlich hatte sie sich beherrschen und überhaupt nichts sagen wollen. »Ernst Pollak und seine Weiber, oder wie denkst du, könnten wir den Roman dann nennen? Wobei, bei drei wird es vermutlich nicht bleiben, vielleicht zieht bald noch eine hier ein, du hast doch hoffentlich nichts dagegen, das Bett mit einer ganzen Revuemädchengruppe zu teilen!« Sie kochte innerlich, zugleich war ihr bewusst, wie eifersüchtig das klang, was sie von sich gab. Trotzdem spie sie die Worte hinaus.

Fjodor war in die Küche getrottet, hatte vermutlich noch Appetit auf einen Nachschlag. Als Milena losschrie, duckte er sich und sprang Mitzi auf die nackten Beine.

Das Fräulein kreischte auf, ließ die Tasse fallen. Kaffee ergoss sich über Anita und Konsorten. »Was ist das denn für ein Mistvieh, die hat mich gekratzt, ich blute!« Sie stieß Fjodor fort und trat noch nach ihm. Er jaulte auf, stob in Milenas Zimmer und verkroch sich unterm Bett.

Das ging ihr zu weit. »Rühr den Kater ja nicht noch einmal an, sonst …«

»Was sonst?« Mitzi zog ein Geschirrtuch vom Ofengriff und wischte erst über die bekleckerten Romanhefte, dann über ihre Haut.

»Sonst werfe ich dich hinaus.«

»Ach ja? Glaubst du, das schaffst du?«

»Willst du es ausprobieren?« Milena sah sich schon mit ihr schlagen und ballte kampfbereit die Fäuste. Dann fing sie zu husten an, so sehr hatte sich ihre Stimme überschlagen.

Doch Mitzi beachtete sie nicht, beschäftigte sich weiter mit ihren Blessuren und betupfte sich vorsichtig die Oberschenkel. »Das brennt vielleicht. Wenn sich das entzündet oder Narben gibt, bist du dran. Und für das Drecksvieh werden wir uns auch etwas überlegen.«

Wenigstens Fjodor stand Milena bei. Mit vollstem Einsatz hatte er sie verteidigt. Zehn Krallenspuren aus zwei geballten Katzenpfoten zogen sich quer über Mitzis Schenkel. Rache pur.

»Dachte ich es mir, dass du so ein bockiges Böhmerweib bist, das meinem Ernstl das Leben schwermacht, aber ich habe es freundlich mit dir versucht.« Nun sah sie doch zu ihr hoch. »Kein Wunder, dass er dich nicht mehr beachtet. Allein wie du ausschaust. Sag mal, hast du in dem Fetzen geschlafen?« Milena trug noch das zerknautschte und verschwitzte neue Kleid, aber vor dieser Mitzi würde sie sich nicht umziehen. »Wenn Ernstl nach Hause kommt, erzähle ich ihm alles und dann werden wir sehen, wer als Erstes fliegt.«

»Von mir aus. Ich tu, was ich will«, erwiderte sie ruhig, um ihre Kehle zu schonen, die auf einmal höllisch schmerzte. Hoffentlich hatte sie sich im Gefängnis nicht erkältet. »Aber rühr mein Essen nicht weiter an, wenn du Hunger hast, kauf selbst ein.« Eigentlich wollte sie sich nicht vertreiben lassen, doch sie brauchte dringend frische Luft, sonst ging sie ihr tatsächlich noch an die Gurgel. Sie musste ohnehin auf die Post. Zuvor schaute sie unters Bett und sprach beruhigend auf Fjodor ein. Dann stellte sie den Topf mit Katzenminze, aus der schon die ersten Halme sprossen, ins geöffnete Fenster, so blieb es einen Spaltbreit offen, und der Kater konnte übers Dach hinaus- und wieder hereinklettern. Die besonders geformten Blüten dieser Pflanze erinnerten an Gesichter und sahen in ihrer Vielzahl wie ein kleines Blumenvolk aus, die Minze half auch gegen Bronchitis und schmeckte nicht nur Katzen. Später würde sie sich einen Tee aus Minze und Thymian bereiten. Geschwind zog sie sich doch noch schnell um, damit das neue Kleid länger hielt, und außerdem war es für besondere Anlässe gedacht. Bevor sie ging, sperrte sie ihre Zimmertür ab, steckte den Schlüssel ein und verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Draußen nahm sie erst einmal mehrere Atemzüge, um ihre Nerven zu beruhigen. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Wie sollte sie bloß damit zurechtkommen? Und arrangierte sie sich eines Tages damit, was erwartete sie dann als Nächstes? Lange würde sie es in Wien sowieso nicht mehr aushalten. Hingegen war die Stadt, so unbarmherzig sie auch erschien, für sie inzwischen ein Teil ihres Lebensunterhaltes geworden. Anderswo musste Milena wieder ganz von vorne anfangen. Doch bevor sie hier weiter zugrunde ging und Fjodor dazu, musste sie sich etwas Neues suchen. Für die Prager Zeitungen konnte sie vielleicht auch neue Inhalte finden, über die sie schrieb. Vielleicht hatte Franz eine Idee? Mit jeder Faser ihres Daseins sehnte sie sich nach ihm.

Doch kaum hatte sie den Brief mit den neuesten Ereignissen aufgegeben und der Postler seinen Stempel auf die Briefmarke über der Meraner Adresse gedrückt, bereute sie es. Wie würde Kafka reagieren? Belastete sie ihn nicht auf seiner Erholungskur, wenn sie ihm all ihre Sorgen anvertraute, ihn jetzt sogar bedrängte, sie zu besuchen?

»Wollen Sie auch Ihre Post mitnehmen, Frau Kramer?«, fragte der Beamte, der sie bereits kannte.

»Gern«, erwiderte sie und erhielt zwei neue Briefe aus Meran. Sie setzte sich auf eine Bank im Postgebäude und las, vergaß dabei alles um sich herum. Als hätte Kafka ihre Gedanken erraten, erzählte er von sich als Kind und welche Macht die Köchin über ihn ausübte, weil sie ihn beim Lehrer wegen seiner Unartigkeit verpetzen wollte. Milena, was für Narrheiten und wie gehöre ich Dir mit allen Köchinnen und Drohungen und diesem ganzen ungeheueren Staub, den 38 Jahre aufgewirbelt haben und der sich in die Lungen setzt. Er übertrieb, auch wenn er die Zeit im Mutterleib dazuzählte, wurde er am dritten Juli erst siebenunddreißig. Und selbst wenn er dreiundsiebzig wäre, ihr war sein Alter egal. Danach schilderte er das Viertel von Prag, das zu seinem Schulweg gehört hatte. Der Altstädter Ring und die Jakobskirche. Sofort befiel Milena die Sehnsucht nach ihrer Heimat. Auch das Grab ihres kleinen, viel zu früh verstorbenen Bruders hatte sie noch nie besucht. Damals durfte sie bei der Beerdigung nicht dabei sein, und Jahre danach hatte sie sich nicht aufraffen können, dort hinzugehen. Wider Erwarten hatte auch Kafka ein ähnlich schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, fühlte sich ständig missverstanden und nicht gut genug. Da er bei ihm nicht zu Wort kam oder missverstanden wurde, hatte er einen Brief an seinen Vater verfasst, ihn bisher aber noch nicht überreicht. Nun bot er Milena an, ihr diesen Riesenbrief zu schicken, darin würde sie erfahren, wie es ihm früher ergangen war.

Doch den wollte sie nicht lesen, jedenfalls jetzt noch nicht. Sie würde lieber von Angesicht zu Angesicht mit Franz über seine Eltern und alles andere sprechen.

Ich werde nicht schlafen können, weil ich dir zu schreiben aufgehört habe, endete er und gab damit preis, dass er in einem ähnlichen Teufelskreis wie sie steckte. Langsam verhakten sich ihre Gedanken. Es war an der Zeit, dass sie sich in der Wirklichkeit trafen, um ihr Inneres zu entwirren. Trotzdem fühlte sie sich von Kafkas Zuneigung bestärkt. Ihr war heiß und dann wieder kalt, obwohl es ein warmer Junitag war. Sie beschloss, nach vorne zu blicken, es konnte nur besser werden, nun, da das Schreiben sogar zu ihrem Lebensunterhalt beitrug. Sie würde zurück nach Hause gehen, ihr Essen genießen, oder das, was davon noch übrig war. Oder sich auch einfach ausruhen. Sie hatte genauso das Recht, in der Lerchenfelder Straße zu wohnen, schließlich trug sie zur Hälfte der Miete bei. Noch ließ sie sich nicht vertreiben.