12. Kapitel

SCHNEEKÖNIGIN

Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine, aber die ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht. So lautete Kafkas Antwort auf ihr Geständnis mit der Kette. Jetzt wusste er um ihre Not, sie hatte mit Ausrufezeichen angefangen und endete mit Schrecken, schrieb er schon am nächsten Abend. Auch er zitterte beim Lesen wie unter einer Sturmglocke, litt mit ihr, wollte es nicht lesen, aber tat es doch. So wie ein verdurstetes Tier trank, voller Angst und auf der Suche nach einem Möbel, unter dem es sich verkriechen könnte. Aber da war auch die andere Milena herauszulesen. Nicht die, die einmal mit Bleistift und einmal mit der Feder schrieb. Er meinte die, die ihn glücklich machte durch ihre Jugend, ihre Frische, ihren Mut. Ihre Stärke milderte auch seine Angst, die immer größer wurde und ihn vor der Welt zurückweichen ließ. Diesen Sätzen von ihr könnte er zu Füßen sitzen, sie wären wie Regen auf seinen brennenden Kopf. Und zu ihrer traurigen Ehe sagte er: Weißt Du Milena, als Du zu ihm gingst, bist Du einen großen Schritt hinabgegangen, kommst Du aber zu mir, so springst Du in die Tiefe.

Doch eine unbekannte Tiefe, in der sie womöglich ein Franz Kafka auffing, war ihr lieber als die Unsicherheit und Willkür bei Ernst Pollak. Ob Fräulein Beer mit ihrem Mann gesprochen hatte oder nicht, erfuhr sie nicht. Alle drei gingen sich möglichst aus dem Weg, sofern das in der beengten Wohnung mit einer gemeinsamen Küche möglich war. Das Pärchen kehrte heim, als Milena schon im Bett war. Sie hatte sich tatsächlich erkältet, schwitzte und fror. Nur Fjodor blieb an ihrer Seite, schnurrte an ihrem Ohr, wenn sie sich die Seele aus dem Leib hustete. Am nächsten Morgen stand sie dennoch zeitig auf, um am Vormittag am Westbahnhof zu arbeiten. Sie brauchte einfach jeden Heller. Sollte doch seine Geliebte fortan das Frühstück für Ernst herrichten, dachte sie, und offensichtlich tat sie das auch. Nachmittags zog sich Milena in ihr Zimmer zurück, inhalierte dampfende Kräuter unter einem Tuch, um sich auszukurieren, und schlief viel. Gelegentlich hörte sie Mitzi in der Wohnung rumoren. Dann war sie wieder für Stunden fort. Was arbeitete sie, fragte sie sich. Oder sorgte ihr Mann, anders als bei ihr, für die Neue? Abends klopfte das Fräulein an ihre Tür und lud sie zum Mitessen ein, Ernstl käme gleich, es gebe Krautfleckerl. Milena antwortete nicht, auch wenn sich ihr Magen verkrampfte, es roch schon eine ganze Weile nach dieser köstlichen Speise, bei der Weißkohl mit Zucker und Kümmel in einem Topf karamellisierten. Aber in Gegenwart des turtelnden Pärchens würde sie nichts zu sich nehmen können, noch dazu war es von dieser Person gekocht worden. Schnell zupfte sie sich ein paar Kräuter aus ihren Pflanztöpfen und kaute sie, um sich von dem süß-sauren Krautfleckerl-Duft abzulenken, der bis in jede Ecke ihres Zimmers gedrungen war, und vertiefte sich wieder in Kafkas Briefe. Franz drängte sie, ihren Mann zu verlassen, er sprach sogar schon davon, dass sein kleiner Verdienst für sie beide reichen würde. War das eine Liebeserklärung? Aber ihrem Vorschlag, sie zu treffen, wich er aus. Er könne heute noch nicht sagen, ob er nach Wien komme, er glaube, eher nicht. Aber ein rechter Grund fiel ihm nicht ein, außer, dass es über seine Kraft ginge.

Das konnte sie nicht hinnehmen, sofort setzte sie einen neuen Brief auf, tastete sich weiter vorwärts, formulierte es erst durch die Blume und dann ganz direkt. Trotzdem wusste sie bald nicht mehr, wie sie es ihm noch näher herantragen sollte, damit er begriff, wie wichtig sein Besuch für sie war.

»Jemand zugestiegen?«, fragte die Kondukteurin am nächsten Tag in der Tramway auf dem Rückweg durch die Stadt. Milena reichte ihr die Fahrkarte und staunte, als sie die Frau in Uniform erkannte. Es war Mitzi Beer. Wortlos knipste sie ihre Fahrkarte ab, offenbar wollte sie sich außer im Herrenhof noch nicht in der Öffentlichkeit als Liebchen ihres Mannes zu erkennen geben. Damit wusste Milena nun auch, wo sich die beiden über den Weg gelaufen waren. So simpel, in der Straßenbahn! Wieder nagte die Eifersucht in ihr, rasch dachte sie an Kafka und die Aussicht, dass sie ihn bald in Wirklichkeit traf. Doch erst musste sie ein quälend langes Wochenende ohne Briefe hinter sich bringen, um seine Entscheidung zu erfahren.

Normalerweise zehrte die Arbeit als Kofferträgerin an ihren Kräften, sodass keine Gelegenheit fürs Sinnieren blieb. Doch wegen einiger Streckensperrungen gab es am Montag kaum Reisende. Das wenige Gepäck übernahmen Dienstmänner mit ihren blauen Kappen, auf denen eine emaillierte Nummer prangte. Diese Zahlen konnten sich die Fahrgäste merken, falls sie etwas zu beanstanden hatten. Das verlieh der Gepäckträgerei etwas Amtliches. Milena, als groß gewachsene Frau, in ihrem abgetragenen Mantel, den sie wegen ihrer Erkältung trotz der sommerlichen Temperaturen trug, erhielt nur Aufträge, wenn die Züge überfüllt und die Uniformierten ausgelastet waren. Einen Moment überlegte sie, ob sie mit der Linie dreiundvierzig in den Wienerwald fahren sollte, um nach halbwegs trockenem Brennholz zu suchen, das sie dann verkaufen konnte. Aber als sie an den weiten Weg und die Lasten dachte, die sie sich schon oft genug aufgeladen hatte, zögerte sie. Im Wald war die Konkurrenz noch größer. Frauen, Greise und Kinder sammelten jedes Stöckchen ein und zwängten sich danach mit ihren schweren Bündeln in die Tramway, die bald aussah, als sei sie mit Holz verstopft. In den engen Waggons verletzten sich die Träger gegenseitig und beschimpften sich. Das alles nur, um die Last in das oberste Stockwerk eines abgelegenen Bezirks zu schleppen, wo man dann gnädigerweise, wenn alles glatt ging, zwei Kronen pro Kilo von einer Herrschaft erhielt. Für diese Schinderei fühlte sich Milena gesundheitlich noch zu geschwächt. Nicht zuletzt wollte sie auch vermeiden, dass die Schaffnerin Mitzi Beer sie mit einem Holzbündel auf dem Rücken erblickte und über sie spotten würde: Von wegen Reporterin für Kultur, dafür reicht es wohl doch noch nicht ganz!

Also blieb Milena nichts weiter übrig, als den Tag in ihrem Zimmer zu verbringen. Körperlich tat es ihr gut, ihr Kreislauf schwankte noch. Zwischendurch hatte sie schon geglaubt, an der Spanischen Grippe zu leiden, angeblich hatte diese Epidemie sämtliche Länder erreicht. Dann dachte sie wiederum auch an die Lungenschwäche, unter der Kafka litt, als sie sich letzte Woche wund gehustet hatte. Sie schrieb ihm von ihren Beschwerden und sofort überschüttete er sie mit Ratschlägen. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann, der ihre Krankheit nicht einmal zur Kenntnis nahm, sorgte er sich wirklich um sie und empfahl ihr ebenfalls eine Kur. Doch wie sollte sie die bezahlen?

Dank jeder Menge Hausmittel und warmer Brustwickel in der Nacht, wie sie es noch von Renata, der Prager Bediensteten, kannte, aber vor allem vieler lieber sorgender Worte von Kafka aus Meran, die am heilsamsten waren, hatte sich Milena auch ohne Kur einigermaßen erholt. Nun spazierte sie, in Schal und Mantel durch die sommerlich warme Stadt. Beim Volksgarten stellte eine Marktfrau einen Tisch und einen Schirm auf. Milena sah ihr zu, wie sie ihre Waren ausbreitete. Aus einem Korb lachten ihr dunkelrote Kirschen entgegen. Sie beschloss, sich ein paar davon zu gönnen. Der Glanz und die Vorstellung, wie sich gleich die Süße der Früchte auf der Zunge ausbreiten würde, erheiterte sie. »Hundert Gramm Schattenmorellen bitte«, sagte sie zu der Verkäuferin, deren faltiges Gesicht im Kopftuch an eine in Stoff gehüllte Wurzel erinnerte.

»Das ist ja fast nichts, Gnädigste, aber meinetwegen.« Mit verformten Händen griff die Frau in den Korb und wog eine Handvoll ab. Als sie die Kirschen einwickelte und ihr geben wollte, kullerten sie aus dem losen Papier und fielen aufs Pflaster. »Herrje, meine Gicht hat wieder zugeschlagen. Kein Doktor weiß etwas Gescheites dagegen, auch wenn ich bald gar nicht mehr zupacken kann. Meinen seligen Mann hat es schon dahingerafft und ich muss hier stehen, bis ich umfalle.«

Milena hörte sich ihre Klagen an, bückte sich und sammelte die Kirschen auf. Nur wenige waren zerdrückt. »Was macht das?« Sie leckte sich die Finger, schloss kurz die Augen, als der Geschmack in ihrem Mund explodierte. Am liebsten würde sie mehr kaufen, aber das konnte sie sich nicht leisten. Sie kramte in ihrer Manteltasche nach der Börse.

»Nichts natürlich. Die nehmen Sie so und hier, die dazu.« Die Frau legte ihr noch ein paar unversehrte in die Hand.

Milena bedankte sich, wünschte gute Besserung und betrat den Volksgarten. Dabei schob sie eine Kirsche nach der anderen in den Mund. Sie schmeckten köstlich, waren voll ausgereift und zuckersüß. Die Kerne wollte sie einfach auf den Weg spucken, besann sich aber dann und schob sie in die Manteltasche. Vielleicht würde sie sich selbst einen Kirschbaum auf der Fensterbank ziehen. Warum nicht? Bei dem Gedanken, dass nächstes oder übernächstes Frühjahr weißblühende, von Bienen umsummte Zweige aus dem zweiten Stock der Lerchenfelder Straße ragten, sogar ein ganzer Kirschbaum die graue Fassade auflockerte, musste sie grinsen. Sie schlenderte an den kunstvoll angelegten Blumenrabatten vorbei und sog den herrlichen Duft ein. Unzählige Rosenarten breiteten sich hier aus, viele davon hatten sogar den Krieg überstanden. Eine Augenweide. Milena steckte die Nase in die Blüten und sog den Duft ein. Bald glaubte sie sich mit dem teuersten Parfüm besprüht.

Als sie ihre klebrigen Hände in einem Brunnen wusch, sprach sie ein Mann in aufpolierter Livree an. »Na, schönes Fräulein, eine Rundfahrt gefällig?« Er lupfte den Stößer und zeigte auf den Fiaker, der hinter der Hecke am Straßenrand wartete.

Milena wollte ablehnen, räusperte sich, weil es plötzlich im Hals kitzelte, und musste husten.

»Jesses, ein Katarrh«, sagte der Kutscher. »Dann bleiben Sie besser hier in der Sonne, und erholen sich. Nicht, dass er sich verschlimmert. Es ist noch gar nicht so lange her, da habe ich niemanden ansprechen müssen, damit ich eine Fahrt kriege. Da sind die Leute von selbst auf mich zugekommen, oft sogar angestanden wie am Riesenrad. Doch wer will heutzutage noch chauffiert werden, wenn jeder allein mit einem Automobil durch die Weltgeschichte rasen kann?« Er zupfte sich am Ohr. »Der vermaledeite Krieg hat alles verändert. Früher hat man sich wenigstens noch aufs Heiraten verlassen können. Mindestens ein Brautpaar in der Woche, samt ganzer Verwandtschaft, habe ich durch die Stadt kutschiert und mir auf diese Weise mein Einkommen gesichert. Aber welche Jungfer findet heutzutage noch einen Ehemann, wo die meisten Kavaliere im Feld geblieben sind? Meine drei Schwestern sind alle noch ledig, die jüngste ist bereits dreiundfünfzig.« Er trat einen Schritt näher, nahm den Stößer ein weiteres Mal ab. »Hat denn so ein fesches Mäderl wie Sie einen Verehrer in Aussicht?« Milena blickte ihn an. Den Falten nach, die seine Augen umkränzten wie Sonnenstrahlen, könnte er ihr Vater oder sogar Großvater sein.

»Ich bin verheiratet.« Das zumindest konnte sie noch behaupten. Sie drückte den Schal an den Hals und hustete noch mal. Er wich zurück.

»So jung und schon unter der Haube? Der Glückliche ist zu beneiden«, sagte er fast mechanisch und eilte mit großen Schritten davon. Milena sah, wie er als Nächstes ein Paar ansprach, das Arm in Arm den Volksgarten betrat. Die Frau hielt ein rüschenbesetztes Schirmchen und faltete es zusammen, als sie dem Kutscher nach einigem Zögern folgten.

Dass sie zu schwitzen anfing, hielt sie für ein Zeichen der Genesung, sie knöpfte den Mantel auf. Ein wenig zittrig steuerte sie auf das Grillparzer-Denkmal zu, um sich auszuruhen. Die Büste des österreichischen Dichters hatte letztes Jahr für Schlagzeilen gesorgt. Jemand hatte sie mit Eisenlack verunstaltet, man vermutete, dass es eine Gruppe Halbstarker gewesen war. Darum war die Statue bis nach der Reinigung lange mit einem Sack verhüllt gewesen, als wäre Grillparzer der Übeltäter. Völlig hatte man die Farbe nicht entfernen können, stellte Milena nun fest. Die Weste schimmerte immer noch rosa unter dem Jackett und bei genauem Hinsehen erkannte sie auch noch die dunklen Schnecken des aufgemalten Zwirbelbarts in Grillparzers Gesicht. Ihr fielen die leeren Buchschuber beim Ehepaar Pichler ein, in den besseren Kreisen schmückte man sich mit dem Dichter, aber man las ihn nicht. Wie es ihr Vater wohl angestellt hatte, die Sache mit der billigen Kette, bei der sich die Mundwäscherin so verschätzt hatte, zu bereinigen, fragte sie sich oft. Bestimmt war er als Herr Professor aufgetreten und hatte ein Machtwort gesprochen.

Unter der Sappho, einer Reliefdarstellung aus Grillparzers Dramen, setzte sie sich auf die Marmorbank und entdeckte an der Seite des Denkmals eine Schneekönigin. So hieß die prächtige weiße Rosenart. Milena rutschte zu ihr und roch an einer der gefüllten Blüten. Der Duft war schwach, kaum merklich, aber einmal erfasst, himmlisch gut. Sie notierte sich ihre Erlebnisse auf dem Briefblock, den sie eingerollt, zusammen mit einem Bleistift und einem kleinen Anspitzer, stets bei sich trug, falls ihr eine Geschichte oder interessante Figuren, wie jetzt eben, über den Weg liefen. Die gichtkranke Obstkrämerin und der Kutscher, der von seinen drei Schwestern erzählt hatte. Dann zog sie willkürlich einen von Kafkas Briefen aus der Manteltasche.

Gewiss, auch der Dienstagsbrief hat seinen Stachel und er schneidet sich seinen Weg durch den Leib, aber Du führst ihn und was wäre – dies ist natürlich nur die Wahrheit eines Augenblicks, eines Glück- und Schmerz-zitternden Augenblicks – was wäre von Dir zu ertragen schwer?

Unterzeichnet war der Brief nur mit »F«. Milena suchte nach dem Folgebrief, fand gleich zwei Briefe, die er am nächsten Morgen hintereinanderweg geschrieben hatte. Wieder ein F darunter, im nächsten nur ein Dein. Und erneut beschrieb er seine Zweifel, ob er sie überhaupt treffen wollte.

Nichts war besser, fand sie, solange sie sich nicht in der Wirklichkeit begegneten, nicht nur auf dem Papier. Er schrieb es doch selbst, was sie einander sonst weiterhin zumuteten: Diese Kreuz- und Querbriefe müssen aufhören, Milena, die machen uns toll, man weiß nicht, was man geschrieben hat, nicht, worauf geantwortet wird und zittert immer, wie es auch sei. Einerseits verstand sie ihn, auch sie hatte als Backfisch ihrer geliebten Lehrerin innigliche Briefe geschrieben, ihr all ihren Seelenkummer aufgedrängt, doch sie und Kafka waren erwachsen. Es war Zeit, nicht nur zu träumen, sich gegenseitig mit Worten zu liebkosen, es war Zeit, zu leben, sich zu fühlen und wirklich zu lieben. Er bemerkte ihre Klagen, wenn sie genau das auszudrücken versuchte, schrieb sich mit Erklärungen und schönen Bildern in ihr Herz, aber entschloss sich nicht.

Trotzdem widerstand sie der Versuchung, Kafka ein weiteres Mal mit Nachdruck anzuflehen, sie endlich zu besuchen, und beschloss, ihm auch nichts von ihren Notizen zu schicken. Hauptsache, ihre Wiener Eindrücke waren festgehalten, allein das genügte, damit sie sich von der Stadt und ihren quälenden Gedanken befreit fühlte. Sie würde das Geschriebene zusammen mit ihren sonstigen Einfällen verwahren und beim Abtippen noch einmal überarbeiten, um es Franz später zu zeigen, oder besser noch, vielleicht würde sie ihn bitten, ihr vorzulesen, damit sie endlich seine Stimme hörte. Den Klang, mit dem er ihre auf Tschechisch geschriebenen Briefe las und sie, umgekehrt, die seinen auf Deutsch. Bisher hatte sie seine Zeilen nur in ihrem Tonfall verinnerlicht und auf diese besondere Weise besser Deutsch gelernt. Auf einmal wusste sie auch, dass es nicht die Stadt war, über die sie schreiben würde, sondern die Menschen und ihre Eigenheiten, und die waren überall auf der Welt zu finden. Vor lauter Lesen und Sinnieren kam sie zu spät zum Postamt. Es hatte bereits geschlossen. Sie glaubte schon, noch einen weiteren Tag warten zu müssen, um Kafkas Antwort auf ihre Bitte um ein Treffen zu erfahren. Da erbarmte sich der freundliche Schalterbeamte, der sie als Frau Kramer kannte, und gab ihr den heißersehnten Brief. Auf den Stufen vor dem Postamt sitzend, zögerte sie, das Kuvert zu öffnen. Wellen purer Freude wechselten mit Zittern, als sie sich ein Ja oder Nein ausmalte. Welche Ausrede würde Franz dieses Mal vorbringen? Dass er gesundheitlich zu geschwächt sei oder einfach keinen Abstecher von Meran über Wien nach Prag machen konnte?

Wahrscheinlich war es leichter, erfundene Figuren in Abgründe zu lotsen, als sich selbst in eine Geschichte hineinzuwagen. Sie seufzte. Warum musste alles in ihrem Leben so kompliziert sein? Abgesehen von der Liebe selbst, die flog ihr zu wie ein Blumenduft, schlängelte sich durch die Widrigkeiten und half ihr, den Alltag zu bestehen. Jeden Morgen aufs Neue. Sie hatte sich in Kafka verliebt, ob er wollte oder nicht. Schnell riss sie das Kuvert auf und zog den Brief heraus, las ihn, einmal, zweimal, und atmete auf.