MIMOSE
Da war sie, die langersehnte Antwort: Dienstag bin ich, wenn nichts unerwartetes innen oder außen geschieht, in Wien. Kafka erklärte, dass er dann auch ihre Fragen aus den zwei übervollen lieben Briefen beantworten würde, die sie ihm geschickt hatte. Endlich ging ihr Wunsch in Erfüllung. Milena schwebte fast, als sie die Nachricht erhielt, las diese wenigen Zeilen wieder und wieder und konnte es nicht fassen, dass es endlich so weit sein sollte. Dienstag, das war schon morgen. So lang ersehnt, hatte sie insgeheim nicht mehr daran geglaubt, dass er ihre Bitte ernst nahm. Würden sie sich wiedererkennen? Wenn Milena die Augen schloss und sich stark konzentrierte, sah sie noch immer Kafkas markante Ohren, die leicht schräge Nase und besonders den Blick seiner Augen unter den buschigen Brauen vor sich. Er dagegen behauptete, sich nur noch vage an ihre Gestalt zu erinnern, als er sie in Prag zum ersten Mal gesehen hatte. Typisch Franz, er scherzte, wie so oft. Auffälliger als sie damals in ihrem Hypatia-Kleid hätte man sich kaum benehmen können. Garantiert wusste noch jeder, der dabei gewesen war, wie sie ausgesehen hatte. Wenn sie heute, mit dem Abstand der Jahre, daran dachte, konnte sie nicht mehr glauben, dass sie das gewesen war. Mutig und selbstbewusst, waren bei ihr erst Zweifel aufgetaucht, als sie bei ihrem Mann nicht die erhoffte Wirkung erzielte. Trotzdem hatte sie erneut versucht, Ernst mit ihrem Äußeren zu verzaubern. Anscheinend war sie unbelehrbar oder Ernst resistent gegen ihre Avancen. Kein Wunder vor lauter Mitzis, Sissis oder wie diese Wienerinnen alle hießen. Doch genug zu Pollak, nun war Herr Kafka an der Reihe. Wenigstens bei ihm hatte sie mit ihrem Auftritt eine bleibende Wirkung erzielt. Sie hatte noch immer vorm Postamt gesessen, nun stand sie auf, klopfte sich ab und wollte nach Hause gehen und stutzte. In der Aufregung hatte sie überlesen, wo genau sie sich eigentlich treffen würden. Sie las den Brief erneut, dieses Mal langsam, Wort für Wort. Davon stand aber nichts drin. Franz zögerte, einen Ort zu nennen, sonst würde er nach dem Abschicken dieses Briefes bei der Vorstellung ersticken, drei Tage und drei Nächte diesen leeren Platz vor sich zu sehen, auf dem er sie erwartete. Er wies sie noch darauf hin, dass am Dienstag in Wien ein Feiertag war, Peter und Paul, an dem vermutlich das Postamt geschlossen habe. Trotzdem würde er versuchen, ihr nach seiner Ankunft zu telegraphieren. Gibt es überhaupt Milena, auf der Welt so viel Geduld wie für mich nötig ist?
Kann sein, dachte sie, dass nach dem vielen Hin und Her der Dienstag noch zu einem Kafka-Milena-Feiertag umbenannt wird.
Obwohl sie hundemüde war, konnte sie nicht einschlafen, wälzte sich im Bett hin und her und malte sich die Begegnung mit Kafka aus. Wie würden sie sich gegenübertreten? Hatten sie sich überhaupt etwas zu sagen oder bedeuteten sie sich nur aus der Distanz etwas? So gesehen war es ein Glück, dass die Pichlers den Unterricht beendet und Milena keinerlei Verpflichtung mehr hatte. Beim Koffertragen würde sie wohl kaum jemand vermissen, im Gegenteil, die Berufsgepäckträger waren froh, die leidige Konkurrenz los zu sein. Milena wusste noch nicht einmal, wie lange Franz vorhatte, in Wien zu bleiben. Stunden, Tage, eine Woche vielleicht sogar? Am besten sie lief morgen früh gleich zum Bahnhof und überraschte ihn. Sie hatte extra noch im Kursbuch nachgesehen, wann der erste Zug aus Meran eintraf. Neun Uhr dreiundzwanzig. Dann konnte sie noch in Ruhe frühstücken und nach Ernst und hoffentlich auch Mitzi aus dem Haus gehen, ohne dass ihr Mann etwas bemerkte. Sie hörte Geräusche im Flur und lauschte in die Dunkelheit. Offenbar war Ernst allein oder das Fräulein Beer verhielt sich ausnahmsweise leise, kicherte und plapperte nicht wie sonst pausenlos. Jemand öffnete ihre Zimmertür. Das war ungewöhnlich. Normalerweise sah ihr Mann nicht mehr nach ihr, wenn er heimkehrte. Zu Beginn ihrer Ehe hatte er ihr gelegentlich noch einen Gute-Nacht-Kuss aufs Haar gedrückt, aber auch das war lange vorbei. Was hatte er vor? Angespannt lag sie auf dem Kissen und rührte sich nicht. Da sprang ihr etwas auf die Brust. »Fjodor, du hast mich vielleicht erschreckt«, zischte sie. Die Tür wurde wieder zugezogen. »Hat Ernst dich hereingelassen? Du warst doch nicht auf der Straße, oder?« Als Antwort leckte ihr der Kater die Nase, fing an zu schnurren und knetete sich die Decke zurecht. Milena seufzte auf, drückte ihre Nase in sein Fell, drehte sich um Fjodor herum auf die Seite und zog die Beine an. Sie hatte schon befürchtet, ihr Mann wollte wieder etwas von ihr, oder schlimmer noch, er würde sogar diese Mitzi mit in ihr Bett bringen. Dies und mehr wurde in den Kaffeehauskreisen erörtert, den körperlichen Freuden des Mannes sollte man keine Grenzen setzen und wenn eine Frau nicht genügte, dann eben zwei. Dabei war es Ernst gleichgültig, wie es Milena ging, wo sie war, ob sie lebte oder starb. Sofort ärgerte sie sich, dass sie immer noch Gedanken an ihn verschwendete, ihre Ehe war nicht mehr zu retten, ein für alle Mal. Räumlicher Abstand würde ihr helfen, um auch seelisch wieder gesund zu werden. Am besten Heimatluft, doch so einfach war das mit einer Reise nach Prag nicht. Sofort sah sie die neblige Stadt wieder vor sich, die in der Wintersonne langsam zu leuchten angefangen hatte. Sie stellte sich vor, wie sie eines Tages zusammen mit Kafka durch die Gassen spazierte, die altbekannten Gerüche einatmete, das heimatliche Pflaster unter den Füßen spürte, seine und ihre Lieblingsorte zusammen entdeckte. Mit ihm die Ewige Stiege auf den Laurenziberg hinaufwanderte und überhaupt alles in ihrer geliebten Stadt erkundete. Sie wollte erfahren, welches seine Lieblingsplätze waren, was welche Erinnerung in ihm weckte. Außerdem könnten sie besondere Geschäfte aufsuchen und alte Bekannte wiedertreffen, seine und ihre, erforschen, was sich seit Kriegsende verändert und vielleicht auch verbessert hatte. Dann dachte sie auch zum wiederholten Male an Staša und Jarmila, stellte sich vor, mit den beiden eingehakt, lachend und in einem fort redend durch Prag zu schlendern, wie sie es früher getan hatten, ohne jemals an ihrer großartigen Zukunft zu zweifeln. Die Erinnerung daran beruhigte Milena. Mit einem Lächeln und ihren Händen in Fjodors Fell schwebte sie auf einmal über einem Gewirr aus Dächern voller Kamine und Spitztürme, tauchte in die Pawlatschen ein, die Innenhöfe mit ihren umlaufenden Laubengängen, schritt den Königsweg entlang, wie einst die Majestäten, flog am Pulverturm vorbei, über die Karlsbrücke mit ihren sechzehn Bögen bis zur Hradschin, der Burg, hinauf.
Morgens erwachte sie aus einem Tiefschlaf und wusste nicht gleich, welcher Tag heute war. Als es ihr einfiel, war sie sofort hellwach. Es war Kafka-Tag! Sie sprang aus dem Bett und lief ins Bad. Endlich, endlich würden sie sich sehen, würden sich begreifen, feststellen, ob sie nicht doch nur Gespenster waren, wie Franz ihr rastloses Schreiben bezeichnet hatte. Nach seiner Unentschlossenheit hatte sich auch bei ihr ein Zögern eingestellt. Ein Zusammensein hatte sich ferner und ferner angefühlt und die Hoffnung war geschwunden. Am Ende dachte Milena sogar, dass es vielleicht besser war, wenn sie nur Brieffreunde blieben. Doch nun war alles anders, die Hoffnung wurde neu geschürt. Als sie vor der Entscheidung stand, ob sie ihr neues, feines Kleid anziehen sollte, ergriff sie wieder diese Unruhe. Würden sie sich gefallen, würden sie sich riechen können? Sie öffnete das schmale Badfenster mit der Milchglasscheibe und sah hinaus. Warme Luft strömte herein und der Himmel färbte sich blau. Es versprach, ein richtig schöner Sommertag zu werden. Sie beschloss, heute auf den Mantel zu verzichten, aber das neue fliederfarbene Kleid war für einen Spaziergang durch die Stadt zu elegant. Außerdem musste sie Frau Koller bitten, es für sie zu plätten, gewaschen hatte sie es schon. Sie wollte doch noch etwas für den Abend haben, falls sie eine Veranstaltung besuchten. Sonst hätte sie ja nichts mehr, um sich zu verwandeln. Also wählte sie das pastellfarbene Samtkleid, das sie aus Prag mitgebracht und seither nie mehr getragen hatte. Erstaunlicherweise passte es noch, stellte sie fest, als sie die Schleife auf der Hüfte locker band. Ernst war noch da, kleidete sich auch gerade bei offener Zimmertür an. Das brachte sie aus dem Konzept. Hoffentlich merkte er nicht, was sie vorhatte. Wie jeden Morgen heizte sie ein und spülte das Geschirr vom Vortag, bis das Wasser kochte. Als sie den Tisch deckte, zögerte sie kurz, überlegte, ob sie nur für sich oder für drei decken sollte. An diesem Glückstag entschied sie sich, über ihren Schatten zu springen. »Guten Morgen«, rief sie ihm zu. »Möchtet ihr mit mir frühstücken?«
»Mitzi ist nicht mehr …« Er stockte. »Sie hat Dienst. Aber ich will gerne. Gibt’s Kaffee? Bitte stark, wenn möglich, mir dröhnt der Schädel.« Also hatte sie richtig gehört, gestern Nacht, er war ohne seine Geliebte heimgekommen. Sein Zögern musste nichts bedeuten. Vielleicht hatte sie wirklich nur schon Frühschicht. Die Tramway ratterte seit halb fünf auf den Schienen. Und wenn schon, was kümmerte es sie? Heute war ihr Tag, den sie sich von nichts und niemandem verderben lassen würde. Dennoch, als Milena die Emailkanne mit dem kochenden Wasser über den Porzellanfilter hob, presste sie den Topflappen fest um den Henkel, damit er ihr vor Aufregung nicht entglitt.
»Vorsicht, Fjodor.« Maunzend strich ihr der Kater um die Beine. Wasser schwappte aus der Kanne und platschte auf den Boden. Um ein Haar hätte sie den Kater verbrüht. Normalerweise erhielt er morgens als Erstes sein Fressen, doch heute hatte sie ihn vergessen. Sie gab ihm rasch ein Stück Butter und etwas von der Leberwurst, bevor sie den Rest auf einem Teller anrichtete.
In den Duft eines neuen Rasierwassers gehüllt, setzte sich Ernst an den Tisch und fädelte sich die Manschettenknöpfe in das von Frau Koller geplättete und gewaschene Hemd. »Du hast dich aber fein gemacht«, sagte er, als sie noch die Marmelade holen wollte. »Das Kleid hattest du an, als wir uns kennenlernten.«
»Wirklich?« Daran hatte Milena gar nicht gedacht. Sie wandte sich ihm zu. Kaum war Mitzi aus dem Haus, duzte er sie wieder, das mit dem »Sie« war anscheinend nur ein Teil seines wichtigtuerischen Pascha-Gehabes gewesen.
»Im Ständetheater damals, weißt du nicht mehr? Ich jedenfalls werde es nie vergessen. Du warst so umwerfend schön mit der Blume im Haar.« Warum kam er ihr nun wieder so, ausgerechnet heute? Noch immer vor dem Schrank stehend, wusste sie nicht mehr, was sie dort gewollt hatte.
Er lachte und hob eine Gabel. »Soll ich etwa damit das Brot schmieren?«
»Oh, tut mir leid.« Mit Schwung zog sie an der Besteckschublade, riss sie fast heraus. Es schepperte laut. Fjodor, der sich auf dem Fensterbrett zwischen den Kräutertöpfen putzte, fauchte und stob aus der Küche. Der Arme musste zurzeit einiges aushalten. »Hier.« Sie reichte Ernst ein Messer. Er ergriff ihre Hand. Sie wich zurück, als hätte sie sich an ihm verbrannt.
»Was ist los? Du wirkst so zerstreut.«
»Nichts, ich …« War es mit Mitzi etwa vorbei oder warum bemerkte er sie auf einmal wieder? Normalerweise tat er morgens kaum den Mund auf, auch bei seiner Geliebten nicht. Milena hörte meist nur eine Frauenstimme aus der Küche wie ein Summton ohne Atempause, bis er ins Bureau aufbrach.
»Ach, ich mache mir Gedanken um einen meiner Schüler«, erwiderte sie und versuchte, es so aufrichtig wie möglich klingen zu lassen. »Es ist nicht ganz einfach mit ihm.« Ernst wusste noch nicht, dass sie ihre Stelle als Lehrerin verloren hatte, und sie würde es ihm auch nicht verraten.
»Wie alt ist er denn, der Herr Schüler, dass du dich so ausgehfein für ihn zurechtmachst?«
»Er ist …« Sie merkte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Auch das noch. »Es ist besser gesagt ein Ehepaar, auch mit ihr ist es nicht ganz leicht. Aber das wird schon, ich bin zuversichtlich.« Hastig goss sie sich Kaffee ein, trank und zuckte zurück, als sie sich die Zunge verbrannte. Sie hatte die Milch vergessen. Seelenruhig strich sich Ernst ein Brot und musterte sie weiter. Sie mied seinen Blick, drehte sich zum Fensterbrett, überprüfte die Erde in den Töpfen und Tiegeln, ob ihre Pflanzen Wasser brauchten, damit auch sie diesen aufregenden Tag gesund überstanden. Dann fiel ihr ein, dass sie gestern Abend noch alles gegossen hatte, kurz bevor sie zu Bett gegangen war, weil sie es am Morgen vielleicht vergaß. Sie wusste noch nicht, wann sie wiederkäme. Sie wusste sogar noch nicht einmal, ob sie überhaupt wieder zurückkehrte und nicht mit Kafka zusammen durchbrennen würde? Womöglich nach Amerika, wie die Figur in seiner Geschichte. Die Vorstellung, Hand in Hand mit Franz quer durch Wien zu rennen, auf einen unbekannten Horizont zu, der ein Paradies versprach, entlockte ihr ein Schmunzeln.
»Was erheitert dich so, komm, verrat’s mir?« Heute entging Ernst aber auch gar nichts. Sonst verschanzte er sich hinter der Zeitung und murrte nur, wenn man ihn störte.
»Ach, jetzt habe ich die Zeitung vergessen«, fiel ihr ein. »Warte, ich hole sie schnell.« Sie erhob sich.
»Nicht nötig, bleib hier.« Er wollte sie wieder berühren, doch sie wich ihm erneut aus, schob ihre Hände unter dem Tisch.
»Musst du nicht in die Arbeit?«, fragte sie mit Blick auf die Wanduhr, die kurz vor acht zeigte. Normalerweise machte er sich spätestens um Viertel nach sieben auf den Weg.
»Ich habe frei, ist doch Feiertag. Darum gibt es auch keine Zeitung. Aber du unterrichtest trotzdem?«
Milena nickte und schwieg.
»Fleißig, ich hoffe, du verlangst einen Sonntagszuschlag. Ich gehe gleich in den Herrenhof. Heute kommt Franz mit seiner neuen Liebe.«
Sie horchte auf. »Welcher Franz?« Hatte sich Kafka ohne ihr Wissen bereits in der Kaffeehausrunde angekündigt, samt ihr?
»Franz Werfel natürlich, wer sonst? Er ist doch jetzt mit Alma zusammen, der Frau des verstorbenen Komponisten Gustav Mahler.«
»Ich dachte, sie ist mit Walter Gropius verheiratet.«
Er zuckte mit den Schultern. »Das war einmal. Jedenfalls scheint diese Beziehung Werfel zu beflügeln, er ist einfallsreich wie nie und schreibt und schreibt. Alma bewacht ihn streng, damit er täglich ein bestimmtes Seitenpensum schafft, erst dann darf er ausgehen. Vielleicht solltest du das auch mit mir tun, Milka?« Er grinste sie an, und ihr ging das Gesäusel langsam auf die Nerven. Sie strich sich nun doch ein Brot.
»Haben Alma und Walter Gropius nicht auch Kinder?« So viel hatte sie bei den wenigen Kaffeehausbesuchen mitbekommen.
»Eine Tochter, glaube ich, der Sohn war ein Frühchen und ist letztes Jahr gestorben. Werfel glaubt, dass es seiner war, hat er mir anvertraut. Wir haben erst neulich darüber gesprochen, weil uns doch auch etwas Ähnliches passiert ist.«
»Uns?« Milena glaubte, sich verhört zu haben, und verschluckte sich fast.
Ernst stellte die Tasse ab. »Du weißt, was ich meine. Dass wir auch fast einen Sohn zusammen gehabt hätten.« Er hatte noch nie davon gesprochen, ihr gemeinsames Kind in all den Jahren niemals erwähnt. Wie konnte er nur jetzt damit anfangen, ausgerechnet an diesem Morgen?
»Dann unterhaltet euch weiter, von Mann zu Mann«, sagte sie und stand auf. In ihr pulsierte es, als würde sie gleich platzen, doch sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Dafür hatte sie schon zu viel ertragen.
»Wo willst du hin? Setz dich, ich muss mit dir reden.«
»Was ist los?« Milena blieb in der Tür stehen und verschränkte die Arme, die Uhr im Blick, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Was wollte Ernst loswerden, wusste er etwa von ihr und Kafka? Oder wollte er sich scheiden lassen, um Mitzi zu heiraten?
Er brauchte eine Weile, bis er antwortete, rang sichtlich mit sich. »Ich habe mir überlegt, die Matura nachzuholen. Ich will studieren, so wie du und fast all meine Freunde es getan haben. Mir fehlt noch so viel Wissen, um richtig zu schreiben.«
»Ist das dein Ernst?«
»Mein vollster. Nicht umsonst heiße ich so.«
»Mit fast vierunddreißig willst du noch mal die Schulbank drücken?« Damit hatte sie nicht gerechnet. »Wie soll das gehen, nachmittags anstelle des Herrenhofs?« Zeit hatte er, wenn sie es sich recht überlegte. Sollte er ruhig den Müßiggang gegen ein bisschen Pauken tauschen, wenn ihm danach war. »Und was sagt das Fräulein Beer dazu?« Sofort biss sie sich auf die Lippen, sie hatte sich geschworen, ihn nie nach der Meinung seiner Geliebten zu fragen.
»Mitzi versteht nichts davon. Sie hat andere Qualitäten, ist lieb und nett, aber von Kultur hat sie keine Ahnung.«
»Tut mir leid.« Milena gab sich alle Mühe, den Spott in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden. So, ich muss gehen.«
»Ich dachte, du begleitest mich ins Café, wäre doch nett.«
Sie wusste nicht, was sie auf einmal von diesen Vertraulichkeiten halten sollte. »Ich habe Unterricht, das habe ich dir doch gesagt.« Zugleich kam sie sich schäbig vor, ihre Lüge zu wiederholen. Aber manchmal ging es nicht anders und rettete Leben, und ihr Leben gehörte dringend gerettet.
Voller Freude sah sie eine halbe Stunde später der Lok entgegen, die dampfend in den Westbahnhof rollte. Dann, als der Zug endlich hielt, schritt sie die Kurswagen ab. Reisende strömten an ihr vorbei. Milena drehte sich in alle Richtungen, spähte in die Gesichter unter den Hüten. Nicht, dass sie Franz verpasste oder übersah. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr sicher, wie er ausgesehen hatte. Zwei Jahre konnten einen Menschen verändern, auch sie war älter und magerer geworden, ihre Wangenknochen traten stärker hervor, wenn sie sich im Spiegel betrachtete. Außerdem hatte sie kurze Haare, vielleicht erkannte er sie auch nicht mehr. Bisher nahm niemand Notiz von ihr, und keiner ähnelte auch nur im Entferntesten Kafka. Doch dort drüben, der Herr, der seinen Koffer aus dem Abteil wuchtete und ihr den Rücken kehrte, das könnte er sein.
Sie lief hinüber und berührte ihn am Arm. »Verzeihung, Franz?«
»Habe die Ehre, mein Fräulein, mit was kann ich dienen?« Ein Fremder mit einem roten Spitzbart wandte sich um und lupfte bei ihrem Anblick den Hut.
»Entschuldigen Sie, ich habe Sie verwechselt.« Sie rannte weiter, entdeckte einen gebeugten Mann mit Brille, der sich beim Aussteigen an die Waggonwand klammerte. Vielleicht hatte die Lungenschwäche Kafkas Statur und seine Augen beeinträchtigt? Beim besten Willen nicht, dieser Herr musste über siebzig sein. Oder verbarg er sich dort drüben unter dem weißen Sommerhut? Sie eilte nach vorne, rempelte einen Dienstmann an und entschuldigte sich. Erneut Fehlanzeige. Hatte Franz den Zug verpasst? Sie stellte sich am Fahrkartenschalter an. Als sie an der Reihe war, fragte sie, wann der nächste aus Meran einträfe.
»Um neun vor fünf«, sagte der Beamte.
»So spät erst?«
Er nickte. »Heute am Feiertag fällt ein Zug aus.« Richtig, der Peter-und-Paul-Tag, schon wieder hatte sie nicht drangedacht! Doch was sollte sie bis zum späten Nachmittag tun? Zurück in die Wohnung gehen und an einem Artikel schreiben? Die Konzentration würde ihr bestimmt schwerfallen. Da fiel ihr etwas ein, sie wunderte sich, warum sie nicht als Erstes daran gedacht hatte. »Verzeihung, noch eine Frage.« Sie wandte sich erneut an den Bahnangestellten, drängte sich vor eine ältere Frau, die sich kaum wegschieben ließ. »Wissen Sie, ob die Post heute geschlossen hat?«
»Ich glaube nicht, alle staatlichen Einrichtungen haben geöffnet, so wie wir.« Seinem Gesichtsausdruck nach und der langen Schlange, die sich vor seiner Sichtscheibe staute, hätte er das lieber geändert.
Vielleicht hatte Franz ihr telegraphiert? Also fuhr sie mit der Tramway zur Bennogasse. Die Sonne lachte in die Wiener Gassen, die warme Sommerluft umhüllte Milena. Sie begann zu schwitzen, zupfte an ihrer Bluse, damit keine Flecken unter den Armen entstanden. Die meisten Menschen hasteten nicht wie sonst durch die Stadt, sondern schlenderten in ihren Sonntagskleidern auf den Gehwegen und schienen wie sie guter Laune zu sein. Tatsächlich lag im Fach unter »K« eine Rohrpostkarte, kein Telegramm, für Frau Kramer bereit. Sie überflog die Zeilen. Ankommen wird der Brief bis zwölf Uhr wohl nicht oder vielmehr ganz gewiss nicht, es ist schon zehn … Kafka war also bereits in Wien. Milena sah auf die Briefmarken und den Rohrpoststempel, er war von heute. Rasch blickte sie sich um, hatte auf einmal das Gefühl, er stünde ganz in ihrer Nähe und beobachtete sie. Was war das für ein merkwürdiges Spiel? Sie las weiter. Er saß in einem Kaffeehaus am Südbahnhof, nicht Westbahnhof, wie er ursprünglich geschrieben hatte, trank wässrigen Kakao und aß schlechtes Gebäck. Aber er erwartete sie erst morgen, also Mittwoch, vor dem Hotel Riva, heute sei er zu erschöpft, da er in den vergangenen zwei Nächten kaum geschlafen habe. Einstweilen wollte er sich die Sehenswürdigkeiten von Wien anschauen, und dann zählte er die Orte aus ihrem Umfeld auf, das Postamt, die Lerchenfelder Straße, in der sie wohnte, und die Kohlenhändlerin. Meinte er damit Frau Koller, ihre Hauswirtin? Wenn er nach seiner Ankunft schon zu müde war, um sie zu treffen, warum konnte er aber dennoch in der Stadt herumspazieren? Offensichtlich scheute er sich, sie zu sehen. Milena wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er hatte nicht übertrieben, als er die Geduld der Welt auf die Probe stellte, ihre wurde gerade bis zum Anschlag gedehnt. Zuletzt bat er sie noch, ihn morgen nicht zu überraschen.
Nicht durch Von-der-Seite oder Von-Rückwärts-Herankommen, ich will es auch nicht tun. Sie hatte geahnt, dass es mit Kafka schwierig werden würde, aber mit solchen Extravaganzen hatte sie nicht gerechnet. Waren alle Schriftsteller so? Übertrugen sie ihre verzwickten Phantasien ins wahre Leben? Was sollte sie mit diesem verlorenen Tag anfangen? In der Stadt herumschlendern, die Kaffeehäuser abklappern, auf der Suche nach Franz? Würden sie sich so bis morgen gegenseitig versuchen aufzuspüren und sich dann wie zufällig begegnen oder auch nicht? Milena holte Luft und atmete aus. Sie würde nichts dergleichen tun, beschloss sie. Sie tanzte zwar gerne, aber wie und wann, wollte sie selbst bestimmen. Sie hatte genug von Männern, die ihr den Takt vorgaben. Also machte sie sich auf den Heimweg, um den Tag allein zu genießen. Sie würde ihre Notizen sortieren und schreiben. Ihr schwebte ein neuer Artikel vor, etwas über Künstler, über solche, die es werden wollten, und welche, die es waren.
Dabei würde sie diese seltsamen Anwandlungen aufzeigen. Was für den einen selbstverständlich ist, ist für den anderen der größte Schatz. Sie würde von einem Schriftsteller erzählen, der seine Helden in den Kampf schickt und sie leiden lässt, jedoch selbst wagt er sich kaum vor die Tür. Im wahren Leben ist er ängstlicher als eine Mimose. Bis ihn sein Mäzen in seine Villa lockt. Der Mäzen umgibt sich gerne mit Künstlern, weil er hofft, dass so auch etwas vom Glanz des Schöpferischen auf ihn rieselt und ihn endlich beflügelt, ein eigenes Werk zu schaffen. Leider vergebens, so sehr er es auch versucht, Phantasie lässt sich nicht kaufen.