KASTANIE
Obwohl sie am Mittwoch überpünktlich beim Riva ankam, stand Kafka bereits vor dem Hotel. Er sah noch so aus wie damals, wirkte größer, vielleicht etwas schlanker, seine dunklen Augen schienen sie anzuspringen. Auf einmal war er nicht mehr der Herr ohne Unterleib, als der er hinter dem Tisch im Arco gesessen hatte. Wie vor zwei Jahren war er auch heute sehr elegant gekleidet, mit Anzugweste und Jackett. Dazu eine Kreissäge, wie der sommerlich fesche Strohhut mit dem schwarzem Ripsband genannt wurde. Milena trug jetzt doch das neue fliederfarbene Kleid, das ihr Frau Koller gestern noch geplättet hatte. Es war nicht nur der Wärme angemessen herrlich luftig und leicht, in ihm fühlte sie sich am wohlsten. Nur für sich wollte sie schön sein, das stärkte sie und wappnete sie gegen alles, was an ihr rüttelte. Außerdem steckte Geschichte in diesem Kleid, sie hatte es sich mit der Jesenská-Jesenský-Ehre erkämpft.
Sie begrüßten sich, blickten sich an, sahen aneinander vorbei, wie damals im Arco. Milena wusste nicht gleich weiter und auch Kafka stand da und rührte sich nicht. Nur anders als damals erfüllte sie Freude und pures Glück. Hier war er, ihr liebster Briefschreiber, der ihr mit Worten die Welt zu Füßen gelegt hatte, aber anscheinend fiel ihm das Sprechen schwer.
Ein Hoteljunge mit Kappe und Uniform bat sie, zur Seite zu treten, um Gäste vorbeizulassen. Passanten eilten an ihnen vorbei, Automobile hupten. Jemand stellte seinen Handkarren unter einem der Alleebäume ab und fragte Kafka, ob er etwas zu rauchen hätte. Er verneinte, räusperte sich und klopfte sich auf die Brust, als sei das der Grund.
»Wie ist das Zimmer?«, fragte Milena auf Tschechisch. Auch wenn sie sich schriftlich schon geduzt hatten, war sie auf einmal unsicher, ob das auch in der Wirklichkeit galt.
»Wunderbar. Wenn ich still liege, kommen die Wanzen und fallen über mich her«, antwortete Kafka auf Deutsch. »Mit Licht kann ich jedoch nicht einschlafen. Aber danke der Nachfrage, ich genieße den Luxus von Wien.« Sie lachten sich an, und Milena spürte, wie ihr das Herz aufging. Tschechisch-Deutsch, wie in ihren Briefen, so würden sie sich unterhalten. Doch auch er wich offenbar einer direkten Anrede, ob Du, ob Sie, aus.
»Komm«, entschied sie. Genug der Etikette, auch wenn sie seine Zurückhaltung respektierte, sie hatten sich doch schon längst ihre Liebe gestanden, und was schriftlich festgehalten war, galt. Sie nahm seine Hand in ihre. »Ich zeig dir ein bisschen die Stadt, wenn du einverstanden bist. Warst du schon mal in Wien?« Haut an Haut, sie berührten sich zum ersten Mal. Wohlig warm und weich fühlte sich seine Hand an, die Finger sehr lebendig.
»Schon sieben Mal.«
»Oh, dann kennst du dich besser aus als ich. Erzähl!«
»Nun ja, als Schüler und später als Student war ich oft mit meinem Onkel hier. Er hat mir die Hofburg gezeigt, den Stephansdom, die ganzen Prachtbauten, und wir sind auch im Prater spaziert. Onkel Löwy ist Landarzt in Mähren. Mit ihm habe ich auch sonst einige Reisen unternommen, wenn ich Ferien hatte.«
»Dann ist er dein Vorbild für dein neues Buch?«, fragte Milena. Kafka hatte mehrmals von seinen Erzählungen »Der Landarzt« geschrieben, die als Buch erschienen waren, und auch den Verleger gebeten, ihr ein Exemplar zukommen zu lassen, bisher war es aber nicht eingetroffen.
Er nickte. »Als ich mit dem Schreiben begann, habe ich schon an Onkel Löwy gedacht, sein Beruf fasziniert mich. Diese Hingabe zu seinen Patienten ist sehr ehrenvoll, aber dann ist nur ein Satz von ihm in der Geschichte übriggeblieben. Er sagte einmal, Rezepte schreiben ist leicht, aber sich mit den Leuten verständigen ist schwer. Alles andere ist eine ganz andere Geschichte, aber du nimmst mir die Überraschung vorweg.« Er ließ ihre Hand los und zog aus der Innentasche seines Jacketts ein Buch mit leuchtend orangefarbenem Rücken und reichte es ihr. »Wenn es das überhaupt noch ist, eine Überraschung, nach so viel Ankündigung. Es war eine schwere Geburt, sollte eigentlich schon vor drei Jahren herauskommen, ich dachte, es erscheint nie.«
Milena strich über die geprägten Buchstaben auf dem Umschlag: »Franz Kafka, Ein Landarzt« stand dort. »Und woran lag die Verzögerung?«
Kafka zuckte mit den Schultern. »Angeblich gab es erst kein geeignetes Papier für den Druck, kriegsbedingt, schrieb mir der Geschäftsführer des Kurt Wolff Verlags. Dann wurde die Reihenfolge der Erzählungen und meine Titeländerung missachtet. Und das alles, wo ich doch schwer ein Ende finde, aber so blieb mir bis fast zum Schluss die Möglichkeit zu überarbeiten.«
Sie schlug das Buch auf. Für Frau Milena, stand auf unter dem Innentitel in seiner groß geschwungenen Handschrift, damit sie alles hat, was es von mir gibt. FranzK, Juni 1920. Anstelle eines Dankeschöns drückte sie ihm rasch einen Kuss auf die Wange. »Los, lass uns ein bisschen gehen, bis wir uns über das Ziel einig sind.« Sie steckte das Buch in ihre Umhängetasche und ergriff wieder seine Hand, um ihm über die Verlegenheit hinwegzuhelfen. »Unterwegs redet es sich leichter.« Sie war froh, seinem erstaunten Blick ausweichen zu können. Sein Gesicht hatte sich genauso rot verfärbt wie ihres. Sie glühte schon, seit sie ihn erblickt hatte, wie ein Plätteisen. Beim Gehen konnte sie ihn unbefangener betrachten. Das war also wirklich ihr Franz, er war es und er blieb es ein Weilchen, dachte sie mit jedem Schritt. Sie spürte den Druck seiner Hand, er hielt sie und war endlich wirklich. »Welch herrlicher Tag«, ergänzte sie. »Sieh mal, die Kastanien blühen endlich.« Sie zeigte auf die alten großen Alleebäume, aus deren langen Blättern sich die weißen Dolden schoben.
»In Meran sind die Kastanien schon verblüht«, sagte er.
»Weil du fortgegangen bist«, erklärte sie. »Jetzt bist du hier, und sie blühen hier.«
»Wie schön.« Er lächelte. »Bitte, zeig mir deine Stadt, ich will Wien durch deine Augen sehen.«
»Gern. Wo ich wohne, weißt du ja bereits, doch ich möchte dir zeigen, wo ich die Briefe an dich schreibe, und dann meinen Blick aus dem Fenster.« Dass er gestern wirklich vor ihrem Haus gestanden, zu ihrem Fenster hochgeschaut, sie womöglich beobachtet hatte, wie sie Teewasser kochte oder in Gedanken den Himmel betrachtete, wollte ihr noch nicht recht eingehen. Sie hätten schon ein paar Stunden zusammen sein können.
Kafka löste sich von ihrer Hand und blieb stehen. »Deine, oder besser gesagt eure Wohnung anzuschauen wäre großartig, aber was ist mit Herrn Pollak?«
»Keine Sorge.« Sie hakte ihn unter und zog ihn weiter.
»Mein Mann arbeitet, und später sitzt er im Herrenhof und schwingt große Reden.«
»Darum dachte ich auch, es ist besser, wir warten bis heute mit unserem Treffen. Es war doch Feiertag, und dein Mann hatte dienstfrei, wie hättest du weggekonnt, um mich zu treffen, ohne dass er etwas merkt?«
»Du denkst mehr für mich, als ich es tue«, sagte sie, verschwieg, dass sie ihn sehr wohl am Bahnsteig abgeholt hätte. »Schade um die verlorene Zeit. Es wäre auch gestern gegangen. Ernst interessiert sich nicht für meinen Tagesablauf. Wenn überhaupt glaubt er, dass ich Koffer trage oder unterrichte. Oder möchtest du ihn begrüßen?«
Kafka schüttelte den Kopf. »Falls es sich vermeiden lässt, bitte nicht.« Seine Angst schien groß zu sein.
»Und falls wir ihn doch treffen, dann ist es nichts weiter als ein Arbeitsgespräch zwischen einem Autor und seiner Übersetzerin. Und eigentlich ist es das doch auch, oder etwa nicht?«
»Wenn du mir weiterhin so schön übersetzt, was ich fühle, dann ist es genau das.«
Milena gab sich ungezwungen, dennoch hoffte auch sie insgeheim, dass Ernst nicht aus irgendeinem Grund doch zu Hause war. Genauso wollte sie Frau Koller nicht begegnen, sperrte die Haustür so leise wie möglich auf und stieg mit Kafka die Treppe hinauf. Sie glaubte schon an ein Déjà-vu, wieder schleuste sie einen Liebsten heimlich ins Haus. Aber diesmal ging Franz neben ihr hoch, musste sich nicht wie Ernst damals in Prag hinter ihr und der Haushälterin hinaufschleichen. Aus Frau Kollers Wohnung hörten sie eine lautstarke Männerstimme, gefolgt von einem Poltern. Seit Kurzem hatte sie einen Verehrer, der sie zum Tanz ausführte, hatte sie ihr gestern gestanden, als Milena das Kleid abholte, aber anscheinend hatte sich der Herr Kavalier schon bei ihr einquartiert und spielte sich auf.
»Oh, was für ein Palast. Ja, so habe ich mir das für dich erhofft.« Kaum hatte Milena die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen, brach Franz in Begeisterung aus. »Wie geschmackvoll es eingerichtet ist, du hast einen Blick für Farben und Formen.« Er lobte jeden Fleck, jeden Winkel, dabei war es stickig warm in den Zimmern. Der Sommer hielt sich mehr drinnen als draußen auf. Und Milena kam ihr Heim trotz seiner Lobeshymnen auf einmal viel karger vor. Der schäbige Teppich, der sich an den Stellen auflöste, wo sie ständig die Stühle rückten. Die Türklinken, die ihren Glanz verloren hatten, die Wände, an denen die Farbe abblätterte, und besonders der klotzige Schrank, der ihr halbes Schlafzimmer ausfüllte, obwohl fast nichts drin war. Nur die Blumen belebten die Räume nach wie vor. Mittlerweile rankten sich die Petunien in Gelb, Rot und Lila die Gardinen hinauf, sodass es noch schwieriger geworden war, ordentlich zu lüften, ohne die zarten Stängel abzureißen. Fjodor konnte sich kaum hereinquetschen, wenn sie einen Fensterflügel einen Spalt öffnete.
»Nimm Platz.« Sie hängte ihre Tasche an die Lehne, nahm das Samtkleid fort und bot Kafka einen Stuhl an. »Leider kann ich dir meinen russischen Mitbewohner nicht vorstellen. Er ist auf der Jagd.«
»Du hast einen Untermieter?«, fragte Kafka mit Blick auf das schmale Bett.
»Mit Untermieter gibt er sich, glaube ich, nicht zufrieden. Er ist eher mein Zimmerherr. Sein Name ist Fjodor, aber eigentlich ist er ein Wiener, rot-weiß gestreift und über ein Jahr alt. Bisher hat er sich auf den Dächern herumgetrieben, doch dort ist es ihm tagsüber zu heiß. Als ich vorhin das Haus verließ, ist er mit mir nach unten gelaufen und weiter in den Keller, wo es kühler ist als hier oben.«
»Mäuse gibt’s dort bestimmt mehr als hier«, ergänzte Kafka mit einem Lächeln. »Und ich hoffe, er merzt sie alle aus. Mäuse sind die einzigen Lebewesen, die ich nicht schätze.« Dieser große Mann fürchtet sich vor Mäusen, dachte Milena.
Er trat ans Fenster und zeigte hinaus. »Gestern bin ich dort unten in dem Park ein Weilchen gesessen. Aber ich habe es nicht gewagt, zu dir hinaufzuschauen, habe mich unter meinem Hut versteckt und bin mit eingezogenem Kopf schnell weitergegangen. Ich wollte nicht, dass du oder dein Mann mich entdeckt.«
»Ich habe dich trotzdem gesehen«, sagte Milena.
»Wirklich?«
Sie nickte. »Du warst mal hier, mal dort, in jedem, der unten auf der Straße lief, glaubte ich dich zu finden. Also warst du auch der, der am frühen Nachmittag auf der Parkbank saß.«
»Ist das nicht kindisch?« Kafka drehte sich zu ihr.
»Kindischer, als Kinder es je sind.« Sie nickte. »Aber wir könnten den Fluch aufheben.«
»Wie?«
»Indem wir uns küssen.« Sie trat zu ihm.
»Das könnten wir versuchen, aber …« Sie stahl ihm das nächste Wort und küsste ihn einfach auf den Mund. Als sie sich wieder voneinander lösten, hatte er noch immer die Augen geschlossen und die Lippen gespitzt, als schmeckte er dem Kuss hinterher. Sie küsste ihn wieder. Franz stand vorm Fenster, eingerahmt von ihren blühenden Pflanzen. Jetzt hatte sie sich ein ganz persönliches Erinnerungsbild gemalt.
Auf einmal ließ er sie nicht mehr los, seine Arme umfassten sie, hielten sie und umklammerten sie zugleich. Er küsste sie auf den Hals, zog ihr Kleid zur Seite und berührte ihr Schlüsselbein mit seinen Lippen, drängte sie zum Bett. Sie schlüpften aus den Schuhen, was bei Milenas Stiefeln länger dauerte, legten sich dicht zusammen, küssten sich weiter, öffneten langsam ihre Münder und streichelten sich mit den Zungen. Kafka tastete Milenas Zähne ab, als wollte er sie sich genauso einprägen wie ihr Zuhause. Sie setzte sich auf ihn und fing an, ihn auszuziehen. Plötzlich schob er sie von sich herunter und drehte sich zur Seite, als hätte er sich verletzt. »Was ist, war ich zu schwer?«, fragte sie wie betäubt, noch ganz vom Geschehen überrascht. Sie hatte nicht an seine kranke Lunge gedacht.
Er schwieg, zog die Beine an und kauerte sich zusammen, als wollte er seine Erregung verbergen, die sie längst gespürt hatte. »Mir geht’s gut, zu gut. Das ist es ja«, sagte er endlich. »Lass uns hierbleiben.«
»Hier in diesem Zimmer?« Sie rutschte wieder näher an ihn heran, presste ihren Körper an seinen Rücken und legte den Arm um ihn, damit er nicht aus dem Bett fiel. »Aber das sind wir doch.«
»Nein, ich will in dieser Welt bleiben, nicht in die Nacht, verstehst du? Ich fürchte mich vor dem Zauber, dem wir verfallen, wenn wir auf diese Art weitermachen. Ich will frei mit dir sein.«
»Du meinst, frei von körperlicher Liebe und jeglicher Berührung, ist es das?« Wieder schwieg er. Die Sonne strahlte durch das Sprossenfenster und beleuchtete Kafkas akkurat geplätteten Hosenbeine; wo seine Socken endeten, wurden seine knochigen Waden sichtbar. Was war diesem mageren und doch wunderschönen Mann geschehen, dass er solche Angst vor körperlicher Nähe hatte? Im Geist spielte er den ritterlichen Helden mit tausend Versprechen, der sie mit seiner Kraft vor allen Gefahren rettete, aber in der Wirklichkeit entpuppte er sich als Vogeljunges, das sich mit nassem Flaum aus den Eierschalen befreite. Er brauchte ihren Schutz mehr als umgekehrt. Was sollte sie tun? »Schau mich an«, forderte sie ihn auf, als er keuchte und nach Luft rang. »Bitte.« Sie harrte aus, bis er sich beruhigte und langsam umdrehte. Er schaffte es aber noch nicht, sie anzublicken. Sie gab nicht auf, wartete. Endlich hob er die Augen und tauchte in ihre ein. Ruhig und ohne zu blinzeln, verweilten sie ineinander. Ein Gang tat sich in seinen Pupillen auf, ein Weg mit vielen Abzweigungen und Verästelungen, als betrete sie ein höhlenartiges Labyrinth. Wurzeln hingen von den Wänden herab. Es musste irgendwo tief unter der Erde sein und trotzdem war es nicht völlig finster. Licht flackerte wie von einem Kerzenschein in den Gängen. Wo bist du da drinnen, fragte sie ihn in Gedanken, bleib stehen und komm zu mir. Und da war er, erst konturlos, dann wie ein Schatten. Das Dunkel seiner Augen löste sich in ihrem Blick auf. Sie hörte ihn atmen, ruhig und leise, er wirkte entspannter.
»Wie wäre es wieder mit frischer Luft? Lass uns rausgehen«, schlug sie vor. »Ich zeig dir, wo Frau Kramer ihre Post abholt.«
Das schien ihn aus seinem Kummer zu erlösen. »Fein, dann kann ich Ottla telegraphieren. Sie sorgt sich bestimmt schon, wo ich abgeblieben bin.«
»Ist das deine Verlobte?« Bisher hatte er sie mit keiner Silbe erwähnt. Aber es gab sie wohl noch, in einem Aprilbrief stand eine Andeutung von ihr, was ihr, so sehr sie auch versuchte, sie aus ihren Gedanken zu tilgen, zu schaffen machte.
»Ottla ist die jüngste von meinen drei Schwestern, trotzdem ist sie noch vier Jahre älter als du. Sie ähnelt dir, in ihrer Eigenwilligkeit, damit bringt sie unseren Vater ständig gegen sie auf.« Kafka hatte die Gabe, über vieles hinwegzusehen, und ließ das mit der Verlobten in der Schwebe.
»Wieso, was macht deine Schwester?«
»Ottla will Landwirtin werden, hat eine Ausbildung begonnen und davor auch eine Zeitlang einen verwaisten Hof in Zürau übernommen, bis der Besitzer aus dem Krieg heimkehrte. Doch Vater hatte sich etwas anderes für sie erhofft. Von der Stadt zurück aufs Land ist für ihn ein Abstieg. Er stammt selbst aus einem Dorf, sein Vater war Fleischhauer. Mir dagegen gefällt diese Arbeit mit den Händen. Wenn ich Ottla besucht habe, haben wir zusammen gesät, gepflanzt, geerntet. Sich um die Ziegen kümmern, melken und Heu machen, das erdet. Und abends haben wir angefangen, Hebräisch zu lernen. Sie möchte nach Palästina gehen, und dort braucht man gute Kenntnisse in Landwirtschaft.«
»Willst du auch auswandern?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob ich aus Europa wegkann. Aber ihre Zielstrebigkeit gefällt mir, ich unterstütze sie, wo ich kann.«
»Versuchst du zwischen deinen Eltern und ihr zu vermitteln?«
Er nickte. »Viel ist es nicht, die Fronten sind verhärtet. Mein Vater will nicht einmal mehr, dass man in seiner Gegenwart Ottlas Namen nennt.«
»Väter.« Milena seufzte. »Ich habe gehofft, dass es dir anders ergeht als mir.«
»Mein Vater ist ein Riese gegen mich. Als Junge musste er seinem Vater seine Stärke beweisen, indem er Kornsäcke mit den Zähnen schleppte. Dagegen bin ich machtlos. Und jetzt heiratet Ottla in ein paar Tagen.«
»Einen Bauern?«
»Nein, Josef David ist Jurist wie ich.«
»Herzlichen Glückwunsch. Ein Kollege als Schwager.«
»Danke, ich hoffe bloß, dass das trotz allem eine fröhliche Hochzeit wird. Josef ist katholisch und Tscheche, spricht also kein Deutsch, was besonders meiner Mutter zu schaffen macht. Außerdem wird Ottla konvertieren, damit sie kirchlich heiraten können.«
»Ein Katholik und eine Jüdin, umgekehrt wie bei mir.«
»Und genauso bliebe es, wenn wir …, wenn du und ich …, falls wir daran dächten, dass …« Er brach kurz ab. »Denn die Verlobung mit Julie ist so gut wie aufgelöst.« Jetzt sprach er doch von ihr.
Julie, das klang schon im Namen wie ein süßes Glücksversprechen, dachte Milena, bestimmt sah seine Verlobte genauso aus, zart und anmutig. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Statur konnte sie nicht verändern. Obwohl sie es hatte wissen wollen, quälte es sie nun. Es gab sie noch, die andere. »Heißt deine Mutter nicht auch Julie?«, versuchte sie, ihren Schmerz zu überspielen. Julie und Hermann Kafka hießen seine Eltern, sie hatte ihre Adresse in den Unterlagen ihres Mannes gelesen.
»Ja, ein merkwürdiger Zufall, und sie ist Jüdin. Das würde meinen Eltern natürlich gefallen, aber sie wissen nichts von ihr und das wird auch so bleiben. Ich habe sie lange genug mit meinen Eheversprechen geplagt. Wir sind uns bei einer Kur begegnet, bei ihr wurde ebenfalls Lungenspitzenkatarrh diagnostiziert wie bei mir.«
»In Meran?« Schrieb er Milena heimlich Liebesbriefe und machte er gleichzeitig mit dieser Julie eine Liege- und Schwitzkur?
»Nein, wir kennen uns seit letztem Jahr, du weißt ja nicht, wie viele Anwendungen ich bereits hinter mir habe. Wenn doch nur endlich etwas davon die Heilung brächte. Doch reden wir nicht weiter darüber, ich kläre das mit dem Mädchen, wenn ich in Prag bin. Versprochen, doch du musst mir etwas Zeit geben.«
In Milena nagte die Eifersucht. Ein Mädchen also, dann war Julie jünger als sie. Bestimmt war das der Fall, wo er Milena doch schon einmal scherzhaft als »Mutter Milena« bezeichnet hatte? Wie lebte dieses schöne junge Mädchen? Aus welchem Hause kam sie? War sie betucht oder arbeitete sie? Wahrscheinlich nicht, wie konnte sie sich sonst Kuren leisten? Zu gern wollte sie mehr, wollte alles über diese Person wissen, die noch zwischen ihnen stand, doch wozu? Um sich, wenn Kafka wieder abgereist war, selbst weiter zu quälen? Genügte es nicht, dass sie bereits einen Mann hatte, dem sie weiterhin ihre Liebe schenkte, auch wenn er sie ständig betrog? Ach, warum suchte sie sich immer solch schwierige Männer aus? Es musste doch irgendwo auf der Welt einen geben, der sie um ihrer selbst willen begehrte, sie umwarb und sie dann liebte, einfach so. Der kein Spiel mit ihr trieb und ihr auf Augenhöhe begegnete.
»Und was ist mit deinem Vater?«, fragte Kafka. »Hat er sich seit der Sache mit der Kette bei dir gemeldet?«
»Das erzähle ich dir unterwegs.« Wenigstens konnte sie ihn jetzt dazu bewegen, aufzustehen.
Wie üblich drängten auch andere Leute ins Postamt in der Bennogasse. Es dauerte, bis sich Kafka für einen Schalter entschied. Er wanderte von einem zum nächsten, ohne dass er zu verstehen gab, warum dieser oder jener nicht gut genug war. Überall standen in etwa gleich viele Leute an und ständig drängten neue herein. Franz wechselte von der ersten zur dritten Schlange, ging dann zum zweiten Schalter und dann doch zurück zum ersten. Milena setzte sich auf eine Bank beim Eingang, blätterte in dem »Landarzt«-Buch, war aber viel zu aufgewühlt, um mit dem Lesen zu beginnen. Sie wartete, bis Franz sein Telegramm aufgegeben hatte und mit dem Wechselgeld in der Hand zurückkehrte.
»Moment, da stimmt etwas nicht, der Beamte hat mir eine Krone zu viel herausgegeben«, sagte er, stellte sich erneut an. Wieder dauerte es, bis es seine Ordnung hatte, glaubte sie zumindest und stand auf, als er zurückkehrte. Doch auf der Treppe nach draußen blieb Franz stehen, zählte sein Geld erneut nach. »Ich glaube, nicht er, sondern ich habe mich vertan.«
»Lass es doch einfach gut sein«, sagte sie.
Verwundert riss er die Augen auf. »Wie kann man das sein lassen? Versteh mich bitte nicht falsch. Es geht mir nicht um die Krone, aber die Dinge müssen doch stimmen.«
»Also dann, stell dich noch mal an.« Sie seufzte. »Ich warte draußen, sonst ist der Sommer vorbei, bis du das geklärt hast.« Das schien ihn umzustimmen. Immer noch die Stirn runzelnd, folgte er ihr. Ein paar Straßen weiter blieb er bei einer Bettlerin stehen, einer alten Frau mit eingefallenem Kinn, die im Schatten einer Hausecke saß und eine rostige Emailtasse nach oben streckte. Kafka schaffte es nicht, einfach an ihr vorbeizugehen, suchte in seiner Geldbörse und warf schließlich einen Zwei-Kronenschein in ihre Tasse.
»Vergelt’sch Gott«, nuschelte sie aus zahnlosem Mund. Mit flinkem Handgriff packte sie den Schein und schob ihn unter ihr Schultertuch.
»Verzeihung, könnte ich bitte eine Krone zurückhaben? Ich wollte Ihnen nur die Hälfte geben.«
Ohne aufzusehen, erwiderte die Alte etwas Unverständliches. Kafka ging in die Knie und beugte sich zu ihr.
»Geh weida, i hob nix«, zischte sie lauter. Dann beachtete sie Kafka nicht mehr, wandte sich anderen Passanten zu und streckte an ihm vorbei die Tasse in die Luft. »Erbarmen mit a’ra Armen.«
Kafka erhob sich wieder, schüttelte den Kopf. »Dann soll es halt so sein.« Er ging langsam weiter, sah sich noch mal um, als wäre sein Körper anderer Meinung. Erst an der nächsten Straßenecke hielt er mit Milena Schritt. »Ich werde es nie lernen«, erklärte er. »Mein Vater hat recht, ich kann einfach nicht mit Geld umgehen.«
»Ach, es gibt Schlimmeres«, erwiderte sie, froh, ihn von dort wegbekommen zu haben. Sie war auch ständig knapp bei Kasse, wollte jedoch die gemeinsame Zeit nicht mit Geldsorgen oder Debatten darüber verbringen. Ob Frau, Amt oder Geld, Kafka engte sich bloß selbst ein. Dagegen wusste sie ein Mittel, das ihr schon oft geholfen hatte. Der Mensch wuchs im Gehen, nicht im Stehen, hatte Jan Jesenský stets gepredigt, am besten in der Natur. »Jetzt aber nichts wie raus aus der Stadt«, sagte sie, »und dabei erzähle ich dir, was ich im Gefängnis erlebt habe. Hast du schon von den Hahnenschwänzlern gehört?«
»Du warst eingesperrt?«, fragte er erstaunt.
Nicht nur einmal, dachte sie, wenn sie Weleslawin dazuzählte. Sie hatte Kafka von dem Vorfall mit der Kette geschrieben und vorhin auch erzählt, wie ihr Vater das Missverständnis aufgeklärt hatte, aber nichts von ihrem Versuch, es über die Polizei selbst zu regeln. »Du warst doch auch dabei, weißt du nicht mehr? Jedenfalls habe ich dich ganz nah bei mir gespürt.«