15. Kapitel

WALDMEISTER

Sie liefen hinter die Hügel von Wien, hinauf und hinunter, schwitzten, lachten und keuchten. Kafka wirkte freier, jedenfalls merkte Milena nichts von seinen Sorgen. Und wenn er lachte, sah er noch wie ein Jüngling aus, der Schelm im Gesicht. Sie jagten sich wie Eichhörnchen durch den Wienerwald. Milena voraus und Kafka folgte in großen Schritten. Das weiße Hemd rutschte ihm aus dem Gürtel. Dann zog er das Jackett aus, trug es an ein paar Fingern über der Schulter und lockerte seine Krawatte. Ab und zu lupfte er grüßend den Hut, wenn ihnen jemand entgegenkam, und danach setzte er ihn sich in den Nacken geschoben wieder auf.

Sein Gesicht verlor die Blässe und auch sein Hals, der aus dem gelockerten Kragen lugte, färbte sich unter der Mittagssonne rosig. Wenn man es nicht wüsste, könnte man ihn glatt für einen Franzosen halten, dachte Milena, einen jener Autoren, für die Ernst so schwärmte.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie, nachdem sie eine weitere Anhöhe erklommen hatten und auf einem morschen Bänkchen unter einem Ahornbaum rasteten und die Aussicht genossen. Ihr Blick schweifte zu den wie in die Landschaft getupften Häuschen zwischen den blühenden Wiesen.

Franz strahlte sie an. »Hunger habe ich. Oder besser gesagt, wenn ich nicht gleich etwas zu essen bekomme, muss ich ein Stück von dir abbeißen.« Diesmal küsste er sie zuerst.

»Dann nichts wie hinunter.« Sie lachte. »Dort drüben, das sieht nach einem Lokal aus, meinst du nicht?« Sie zeigte auf eine Terrasse, die mit Lampions umhängt war. »Sind wir vorhin nicht auch an einem Hinweisschild für ein Restaurant vorbeigegangen?«

Und tatsächlich, wenig später empfing sie ein Gartenlokal mit bunten Sonnenschirmen und karierten Decken auf den Biertischen. Allerdings hatte die warme Küche schon geschlossen, doch als Kafka höflich bat, erhielten sie noch einen Kaiserschmarrn mit Apfelkompott.

»Ist das noch eine angemessene Bezeichnung für dieses Gericht?«, fragte er den Kellner, der die dampfenden Teller brachte.

»Wie meinen der Herr?«

»Müsste es nicht in roten Schmarrn umbenannt werden?«

Die Miene des Kellners blieb ausdruckslos.

»Ein Scherz, nichts weiter. Danke, wir kommen zurecht«, mischte sich Milena ein. »Die Lieblingsmehlspeise von deinem Namenspatron, dem Kaiser, wird deiner doch würdig sein?«, sagte sie zu Kafka, als der Kellner fort war.

»Natürlich, ich wollte ihn nur auf die Probe stellen. Guten Appetit!«

»Ebenfalls.« Sie war sehr hungrig und fing sofort zu essen an. Der Schmarrn war angebrannt, schmeckte aber trotzdem. Erst nach einer Weile bemerkte sie das komische Geräusch, eine Art Nagen. Es kam von Franz, der seine Teigstücke in winzige Stückchen zerkaute, als würde er immer noch Eichhörnchen spielen.

»Was tust du?«, fragte sie, erleichtert, dass sie weitgehend allein auf der Terrasse saßen. Nur an der Hauswand hockte ein älterer Herr vor seiner Zeitung und einem Mokkatässchen.

»Wieh-ho?« Franz hielt inne, aber sie verstand ihn kaum. Er erzeugte beim Sprechen ein Gurgeln, behielt offenbar den Brei noch im Mund, ohne zu schlucken.

»Schmeckt es dir nicht?«

Er mümmelte noch einige Male, schluckte dann endlich und atmete auf. »Ich fletche.«

»Ja, das sehe ich, du fletschst die Zähne.«

»Nein, ich flet-che, ohne S. Das habe ich in der Kur gelernt. Diese Technik hat Horace Fletcher erfunden, ein Däne, glaube ich. So kommen die Speisen schon halb verdaut im Magen an und sind leichter verträglich. Willst du es ausprobieren?«

Was blieb ihr anderes übrig? Entweder Kafkas Mahl- und Quietschwerk weiter mitanzusehen und zu hören oder mitzumachen. Also stimmte sie zu.

»Nimm ein paar Stückchen in den Mund, nicht zu viel. Ja, so genau«, leitete er sie an. »Und jetzt einspeicheln und bevor du schluckst, kaust du vierzig bis fünfzig Mal, bis das Essen flüssig ist. – Nein, warte, nicht schon den nächsten Bissen auf die Gabel nehmen, leg das Besteck weg, konzentriere dich vollständig auf das Zählen und Kauen. Stell dir einfach vor, wir sind Weinverkoster, die den Rebensaft richtig durchschmecken.« Milena gehorchte, kaute und kaute, die Zählerei wollte kein Ende nehmen. Der Mann an der Hauswand hatte sich bereits zu ihnen gedreht, als säße er im Publikum und sie auf einer Bühne, und auch der Kellner schaute aus der Stube zu ihnen heraus.

Nach einigen Zähleinheiten legte sie erschöpft eine Pause ein, der halbe Teller stand vor ihr, und dennoch war sie satt. »Wenn man diese Methode schon im Krieg gekannt hätte, hätte sich die Nahrung besser auf die Bevölkerung verteilt und alle gesättigt. Irgendwann schmeckt man auch nicht mehr, was man eigentlich im Mund hat, ob Mehlteig oder Sägespäne.« Sie versuchte das Ganze mit Humor zu nehmen.

Kafka, noch ins Fletchen vertieft, nickte, schluckte endlich. »Das ist es, Fletcher rettet die Welt vor dem Hunger.« Auch er lehnte sich zurück. »Puh, wir hätten uns eine Portion teilen können.« Er rieb sich den Bauch. »Da fällt mir eine unserer Erfindungen ein. Max, also Max Brod – du kennst ihn doch auch, wir sind seit dem Studium Freunde –, er und ich hatten vor einigen Jahren einen Einfall und glaubten schon, dass wir davon reich würden.«

»Erzähl.« Milena war gespannt, in Franz steckte so viel, was sie noch erfahren wollte.

»Billig.«

»Was, das Essen?«

»Nein, so sollten die Reiseführer heißen, die Max und ich erfanden. Billig. Wir steigerten uns regelrecht hinein, entwarfen Listen, nachdem wir über Italien nach Paris gereist waren und festgestellt hatten, dass man mit den richtigen Hinweisen vorab wirklich günstiger und schneller reisen konnte. Billig nach Frankreich, billig nach Rom und so weiter. In unseren Büchern würde es Vorschläge für eine Route geben, preiswerte Unterkünfte, wo man im Notfall einen Arzt findet und vieles mehr. Oder auch was man an Regentagen unternehmen könnte, denn von zu Hause aus, bei der Reiseplanung, scheint im Urlaub immer die Sonne.«

»Stimmt.« Milena lachte.

»Mit unseren ›Billig-Ratgebern‹ für jede Gegend würde man nicht nur Geld sparen«, erklärte er weiter. »Man würde auch nicht so leicht Betrügern in die Hände fallen, die schlecht orientierte Reisende überall abpassen und übers Ohr hauen. Wir konnten sogar schon einen Verlag dafür begeistern.«

»Und was wurde daraus?«

»Nun ja, wir wollten einen Vorschuss für unser geniales Projekt, wie wir fanden, hatten aber zugleich Angst, dass es uns weggeschnappt würde, bevor wir das Geld erhielten. Also gaben wir nichts preis. Du weißt mehr, Milena, als der Verleger, den wir anschrieben.«

»Ich verstehe«, sie hob die Hand. »Hiermit verspreche ich feierlich, dass ich euer Geheimnis für mich behalte, damit Herr Brod und du vielleicht doch eines Tages solche Reiseführer schreiben könnt.«

»Sag mal, wollen wir zahlen und noch woanders hingehen?« Er winkte dem Kellner und zog seine Geldbörse aus der Hosentasche. »Womit wir zum Trinkgeld kommen. Dieses Problem würde auch in ›Billig‹ gelöst werden, wie viel gibt man, wann und wo? Doch wie genau, weiß ich noch nicht.« Auch hier führte er ein ähnliches Szenario wie auf der Post und mit der Bettlerin auf. Kafka zahlte für sie beide, wusste aber dann nicht, wie er die Rechnung angemessen begleichen sollte, ohne dem Kellner und sich selbst gegenüber ungerecht zu sein.

Später lagen sie abseits eines Trampelpfades im Laub vom Vorjahr auf Kafkas Mantel und schauten in die Baumkronen. Ringsum roch es nach Waldmeister, der seinen starken Geruch erst beim Welken entfaltete. Unter ihnen raschelte und knirschte es. Eine Ameise krabbelte über Milenas Arm, kletterte auf Kafkas haarigen Unterarm weiter, als durchquere sie erst eine blonde und dann eine schwarze Steppe mit dichten Wollhaarstämmen. Franz hatte den Arm um sie gelegt und die Augen geschlossen. Vielleicht schlief er auch. Sie begann ihn wieder zu streicheln und zu küssen. Seine langgliedrigen Finger, seine Hände, die nackten Arme im hochgekrempelten Hemd hinauf. Seinen Hals. Sie wollte ihn spüren, auf sich und in sich.

»Nicht«, er wehrte sie ab. Sie streichelte sein Haar, küsste seine Stirn, die Augen, die Nase, den Mund, fuhr mit der Hand über seine Hose.

»Bitte nicht«, sagte er wieder.

»Soll ich aufhören?«, fragte sie.

»Nein, das heißt ja. Ich kann diese Männersache nicht.«

»Du musst gar nichts tun, das geht von allein.« Sie würde diese Mauer aus Furcht und Scham durchbrechen. Und auch wenn Kafka sein Begehren nicht zuließ, so konnte er es nicht unterdrücken. Sein Körper machte das, was das Geschlecht eines Mannes immer tat, wenn es eine Frau reizte. Egal, wie sehr Franz seinen Willen dagegenstellte. »Lust gehört nicht nur den Männern allein, auch wenn ihr das glaubt, und Angst habt zu explodieren. Nur weil der Körper einer Frau sich nicht aufdrängt und eher im Verborgenen blüht, heißt das nicht, dass unser Begehren nicht existiert.« Wenn man genau hinsah, leuchteten die weiblichen Reize wie Raketen, ergänzte sie im Stillen. Doch welcher Mann, und selbst so ein feinfühlender wie Kafka, achtete schon darauf.

»Ich kann dir und niemandem begreiflich machen, wie mir ist oder warum. Ich - , ich will dich nicht besitzen«, stammelte er, stoppte ihre streichelnde Hand, die sich unermüdlich unter seine Kleider tastete. »Oder doch«, lenkte er kurz darauf ein und ließ es zu, dass sie zwei weitere Hemdenknöpfe öffnete. Er seufzte. »Sag mir, was ich tun soll, damit ich nichts Falsches mache.«

Sie fragte sich, ob es jemals mit einer seiner drei Verlobten zu irgendeiner Form von körperlicher Nähe gekommen war. »Warst du, und du bist doch verlobt, schon einmal mit einer Frau zusammen?«

Er nickte mit geschlossenen Augen. »Ich sag dir jetzt aber nicht, wann und wo, dann müsste ich auf der Stelle im Erdboden versinken.«

»Wieso, was ist so schlimm daran? Vertrau mir.« Sie schob seine Finger in ihren Ausschnitt. Er zuckte zurück, als er ihre Brust berührte, und drehte sich zur Seite. Sie beugte sich über ihn, kitzelte ihn mit ihren Haaren im Gesicht. »Mein Lieber, mein süßer, süßer Franz, lass uns eine Erinnerung schaffen, die für uns beide jede Finsternis erhellt.« Die Vorstellung, in wenigen Stunden zurück in die Kälte und Einsamkeit ihrer Ehe zu gehen, verlieh ihr Kraft für weitere Versuche. Er rang weiter mit sich, nahm die Liebe nicht hin, wollte sie nicht akzeptieren als Wunder, das einfach so geschah. »Merkst du eigentlich, dass du bis jetzt noch kein einziges Mal gehustet hast? Wie geht es dir, ich meine gesundheitlich, hat dir die Meraner Luft geholfen?«

»Wohl eher du, dass ich bei dir und mit dir zusammen bin.«

»Aber deine Krankheit, was macht sie? Ist sie verschwunden?«

»Nein, sie ist nach wie vor da. Aber sie rettet mich«, erklärte er.

»Wie kann Tuberkulose dich retten?«

»In mir war einiges los, als es begann. Mein Herz und mein Hirn kämpften ständig gegeneinander, zwei Ebenbürtige in einer Schlacht ohne Sieger. Irgendwann hielt es meine Lunge nicht mehr aus und griff ein. Nun übernehme ich, sagte sie und schlug sich in die Brust.«

»Eine Lunge, die eine Brust hat, und Herz und Hirn, die wie Ritter kämpfen, du bist ein Märchenerzähler. Ich wette, du kannst aus jedem Ding eine Geschichte machen.«

»Vielleicht. Aber ob es gute sind, sei dahingestellt. Denkt nicht jeder Mensch in Geschichten und biegt sich alles so zurecht, dass das Leben erträglich ist?«

»Oh, da würde mein Ehemann aufhorchen, er sucht schon lange nach dem Ursprung der Schöpferkraft.«

»Die trägt er längst in sich, wie jeder, er muss sich nur trauen und sie freilassen. Dann kann er sie wieder zähmen wie ein wildes Tier. Dafür verlässt sie ihn danach nie mehr.«

»Wirklich nie mehr?«

Er nickte. »Oder wie ist das bei dir mit dem Schreiben?«

Das gefiel Milena und bestärkte sie auch in ihrer Arbeit. Ja, es gab überall Einfälle, man musste sie bloß erkennen und dann mit ihnen arbeiten. »Ich schreibe einfach, mache mir nicht groß Gedanken, warum ich es tue, sondern eher, über was ich schreibe, dass es stimmig ist.«

»Du Glückliche, so leicht hätte ich es auch gerne, kann ich etwas davon abhaben?«

»Nimm dir ein Stück von mir weg.« Sie schmiegte sich wieder an ihn. Und tatsächlich, endlich berührte er sie ohne Aufforderung und wie selbstverständlich.