16. Kapitel

VEILCHEN

Mitten im Grünen, zwischen Laub und Moos, wachte Milena auf. Dichte Fichtenzweige schirmten sie wie ein Zelt vom Weg ab, auf dem sie manchmal Füße, flatternde Kleidung oder Hüte von Spaziergängern erblickte. Trotzdem glaubte sie sich in einem Traum, weil sie Kafka immer noch dicht an ihrer Haut spürte, er lächelte mit geschlossenen Augen, als sie ihm über das Profil, Stirn, Nase, Mund und Kinn strich. »Dort drüben zwischen den Wurzeln blüht noch ein Veilchen«, sagte sie. Kafka rührte sich nicht. »Es ist zwischen den vielen Blättern ringsum kaum zu erkennen, es erinnert mich an den ersten Strauß, den ich meinem Skilehrer geschenkt habe. Ich war fünfzehn, vielleicht auch jünger, und er mehr als doppelt so alt. Er hatte einen Unfall und lag im Krankenhaus. Als ich davon hörte, wollte ich ihm unbedingt eine Freude machen. Ich lief in den Wald und pflückte mit Hingabe einen Veilchenstrauß, aber als ich dann an seinem Bett stand, kam ich mir sehr dumm vor.«

»Wieso, was kann an einem Strauß Dummes sein?« Kafka stützte sich auf seinen Ellbogen, sah sie aufmerksam an.

»Nicht die Blumen, ich war es! Ich hätte es merken sollen, gleich als ich das Krankenzimmer betrat, es war abgedunkelt, über der Lampe hing ein Tuch. Der Mann war erblindet, ich weiß nicht mehr, ob das nur vorübergehend war oder für immer. Jedenfalls schämte ich mich so, dass ich ihm Blumen gebracht habe, die er gar nicht sehen konnte.«

»Aber gerochen hat er dein Geschenk ganz bestimmt.«

Milena zuckte mit den Schultern. »Wie hier der Waldmeister, hat dort der Geruch nach Medizin alles überdeckt. Also stand ich da, ohne Geschenk, und wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann habe ich mich über ihn gebeugt und ihn auf den Mund geküsst, genauso, wie ich es im Kino gesehen habe, mit der ganzen Leidenschaft einer Asta Nielsen.«

»Und wie hat er reagiert?«

»Du schmeckst nach Veilchenpastillen, meine Kleine, hat er gesagt und gelacht. Ich bin weggelaufen und auch den ganzen langen Weg nach Hause gerannt, ich kam mir so dämlich vor. Zu Hause erwartete mich dann eine Schachtel Pralinen mit einem Kärtchen: Für mein liebes Fräulein Jesenská und vielen Dank für das süßeste Geschenk der Welt.«

»Bitte, kann ich auch solch ein süßes Geschenk kriegen?«

»Wann?«, fragte sie mit einem Grinsen im Gesicht.

»Auf der Stelle.« Franz zog sie zu sich her und küsste sie, lange und zärtlich. »Dein Geschenk war überhaupt nicht dämlich. Ich habe einen blinden Freund, der als Schüler bei einer Prügelei sein Augenlicht verloren hat«, sagte er, als sie sich wieder voneinander lösten. »Oskar Baum, ein Vetter von Max, kennst du ihn?«

»Gehört habe ich von ihm.« Sie drückte sich an ihn, betrachtete jede Pore seiner Haut, die langen Wimpern und kleinen Fältchen unter seinen Augen, den Schwung seiner Nase. »Felix Weltsch hat mir einmal von ihm erzählt, damals bei den Arconauten.«

»Oskar, Felix, Max und ich treffen uns ab und zu, um unsere Texte zu besprechen. Manchmal gehe ich auch mit Oskar allein spazieren. Dabei lehrt er mich zu sehen.«

»Ein Blinder?«

Kafka nickte. »Oskar sieht mehr als wir, die wir unsere Augen benutzen können. Er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Musiker. Wenn ich ihm meine Erzählungen vorlese, kann ich erproben, ob sie etwas taugen. Beim Hören und Zuhören geht das besser als beim stillen Lesen. Nicht nur der Inhalt ist entscheidend, auch der Rhythmus der Sätze, die Sprachmelodie, dabei kommt es auf die Aufteilung an, wo man das Komma setzt oder wie ein Abschnitt beginnt.

»Kannst du mir bitte auch etwas vorlesen?«, fragte sie.

»Etwa hier und jetzt?«

Sie nickte.

»Ich habe gar nichts dabei, außer einem neuen Heft, in dem noch nicht viel drinsteht, was klingen kann. Ich muss es erst reifen lassen, bevor ich es deinen kritischen Ohren anvertraue.«

»Dann lies mir aus ›Ein Landarzt‹ vor.« Sie holte das Buch aus ihrer Tasche, und er begann:

»Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe; starkes Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt; in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe; aber das Pferd fehlte, das Pferd …«

Sie lauschte, haftete an seiner ruhigen, tiefen Stimme, die die Worte atmen ließ und Bilder erzeugte. Bald folgte sie dem Landarzt, der in die Ereignisse gezogen wird, ohne, dass er eingreifen kann. Andere handeln für ihn, er wirkt wehrlos, fast wie ein Kind, das kämpft und sich sträubt und erkennt, dass es noch zu schwach ist. Die Pferde beschrieb Kafka wie Mutter und Vater, zwei starke Kräfte, die den Arzt unterstützen und ihm immerfort beistehen wollen. Seine Stärken, seine Pferdestärken sind in ihm. Milena verstand, was er mit Vorlesen gemeint hatte. Kafkas Geschichten duldeten kein flüchtiges Drüberhinweglesen. Sie verlangten Hingabe, genaues Erfassen und Zuhören, Wort für Wort. Wer es wagte, den belohnte er mit verblüffenden Einsichten.

Sie umarmten sich wieder, streichelten sich, wälzten sich auf dem Waldboden, bis die Sonne hinter den Hügeln verschwand und es schlagartig kühler wurde. Plötzlich knackten Zweige, ein Hecheln drang an Milenas Ohr. Sie schreckte hoch, als sich ihnen ein Hund näherte. Er kläffte sie an, stob Gott sei Dank davon, als ein Pfiff ertönte. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte sie und knöpfte sich ihre Bluse zu.

Kafka suchte nach seiner Weste, in der er seine Taschenuhr verwahrte. »Kurz vor sieben.«

»Dann muss ich nach Hause. Bis ich da bin, ist es dunkel, und ich weiß nicht, wie ich Ernst erklären kann, dass mein Unterricht bis in die Nacht gedauert hat. Sehen wir uns morgen? Ich meine, bleibst du noch in Wien?«

»Unbedingt. Ich will bis Samstag bleiben, wenn es dir recht ist?«

»Samstag?« Das waren immerhin vier ganze Tage, wenn sie den heutigen abzog, lagen noch drei vor ihnen. Sie strahlte. »Den dritten Juli willst du mit mir verbringen? Das ist ja dein …?«

»Psst.« Er legte ihr die Finger auf den Mund. »Erinnere mich nicht daran, es ist nur ein ganz normaler Tag, abgesehen davon, dass ich mit dir zusammen sein kann.«

Es waren Stunden voller Licht und Wärme, als würde sich Wien nur für Kafka und Milena von seiner sonnigsten Seite zeigen. Sie strotzte vor Gesundheit, der Rest Bronchitis schien verflogen und auch Kafka hustete nicht. Gelegentlich räusperte er sich oder keuchte, aber nicht, weil er krank war. Die Lust beherrschte ihn, auch wenn er sich mit Worten dagegen wehrte, Milena vorher lang und breit erklärte, dass ein Mann ab und zu Druck ablassen musste, schon allein aus hygienischen Gründen. Als ob sie das nicht wüsste. Im Gegensatz zu Ernst, der seinem Trieb bei jeder Gelegenheit nachging, wehrte sich Kafka dagegen, wollte zu gern das Körperliche von der reinen, unbefleckten Liebe, wie er sie verstand, trennen. Nicht so Milena, für sie war die Liebe die Verschmelzung von Körper und Geist, ein Miteinanderfühlen und Einssein.

»Vertrau mir«, unterbrach sie ihn, wenn er wie ein Staatsanwalt gegen den Geschlechtstrieb wetterte und glaubte, ein Abgrund tue sich auf und verschlinge ihn, wenn er weitermachte. Dann führte sie ihn, er schwieg, sträubte sich nicht mehr, sondern ließ sich fallen und genoss.

Am nächsten Tag trafen sie sich im Prater. Kafka frischte seine Jugenderinnerung auf, als sie sich in die Zuschauer reihten und eine Weile die Waghalsigen auf der fünfundzwanzig Meter hohen »Teufelsrutsch« beobachteten, mitlachten, wenn die Leute auf dem Förderband nach oben stolperten. »Als Junge wollte ich unbedingt auch auf den Toboggan und habe Onkel Löwy um Geld angebettelt, aber als ich mich angestellt habe, hörte ich, wie jemand erzählte, dass einmal eine Frau beim Rutschen von einem Holzsplitter aufgespießt worden wäre. Da habe ich einen Rückzieher gemacht und das Geld lieber in einer Wurfbude verschossen.«

»Komm, lass es uns nachholen, diesmal lade ich dich ein.« Milena zog ihn zum Kassenhäuschen.

»Ich glaube, das ist mir zu anstrengend.« Der Tobogganturm lag von hier aus gesehen wirklich sehr hoch oben, das musste selbst Milena zugeben.

»Ach was, wir fahren doch den halben Weg hinauf und die paar Stufen schaffst du locker nach unserer Wanderung gestern«, ermutigte sie ihn und lotste ihn an der Hand wie ein Kind. Mit nackter, schwarz verschmierter Brust schürte ein Mann die große Dampfmaschine, die das Förderband und auch die Orgel betrieb. »Schau mal, das ist der Heizer aus deiner Geschichte«, rief Milena gegen den Lärm an. Die Tasten der Orgel bewegten sich wie von Geisterhand und spielten ein schaurig dröhnendes Tanzlied.

»Stimmt, das könnte er sein. Und hörst du das? Das ist unser Totengesang!«, hauchte Kafka Milena ins Ohr. Kaum waren ihre Karten abgeknipst, schubste ihn ein Wärter auf das Band, erst glaubte sie, Franz würde stolpern, doch er fing sich, die Beine breit aufgestellt und in Schräglage, erstaunlich geschickt ab. Er hatte also nicht nur die fallenden Leute studiert, die das Publikum vor dem Toboggan erheiterten, sondern auch, wie es die Wärter anstellten, unbeschadet, sogar rückwärts, hinaufzufahren. Die männlichen Fahrgäste mussten es alleine schaffen, den Damen, so auch Milena, half man mit ausgestreckten Armen hinauf. Weiter stiegen sie die steilen Holztreppen nach oben, an denen außen die spiralförmige Rutsche vorbeilief. Oben erwartete sie eine herrliche Aussicht über das ganze Pratergelände. Nebenan die Hochschaubahn mit ihrem künstlichen Berg, weiter vorne das Karussell mit beweglichen Pferden, das von den Kindern bestürmt wurde. Außerdem waren sie fast auf Augenhöhe mit dem Riesenrad.

»Wir müssen unbedingt noch schaukeln, dort drüben, sieh mal, in der Schiffschaukel überschlägt sich einer. Und da hinten ist die Schießhalle oder möchtest du in die Klimt-Ausstellung?« Milena beugte sich über die Brüstung und zeigte auf die Buden und Fahrgeschäfte.

»Das ist doch der Maler der erotischen Frauenporträts?« Kafka umfasste sie und zog sie vom Geländer weg. »Ich weiß nicht, ob ich mich mit dir an der Seite dort hineintraue. Komm, lass uns zuerst wieder heil hinabkommen.« In seinen Beinen gehalten, rutschten sie die engen Kurven hinunter, das war ein Spaß und viel zu schnell vorbei.

»Noch mal«, rief sie unten. Doch leider ließ sich Kafka dazu nicht überreden. Aber in die Ausstellung zog sie ihn. Schweigend, sich ab und zu angrinsend, gingen sie von Gemälde zu Gemälde. Milena staunte über die freizügigen Darstellungen und tauchte in die schillernden Farben ein. Gustav Klimt zeigte die weibliche Lust, auch wenn er sie auf antike Frauengestalten übertrug. Der Maler war nicht verheiratet gewesen, hatte sie in einer Zeitschrift gelesen, er studierte das weibliche Geschlecht auf vielerlei Art. Kafkas Ohren glühten, als sie den Saal wieder verließen. Draußen atmete er auf und drückte sich den Strohhut fest auf den Kopf, als könnte das seine Verlegenheit dämpfen.

Beim Essensstand fand er seine Sprache wieder und spendierte Milena, was ihr Herz begehrte und ihr Magen forderte. Pappsatt, voller Schnittlauchbrote und glasierter Äpfel, spazierten sie zurück in die innere Stadt und erzählten sich dabei all das, was sie glaubten, in ihren Briefen versäumt zu haben. Sie zeigte ihm das Haus in der Florianigasse, wo sie im zweiten Stock das erste halbe Jahr gewohnt hatten. »In nur einem Zimmer, nicht mal eine Kochnische gab es dort. Und Ernst hatte die Angewohnheit, nach der Sperrstunde, die kurz vor Kriegsende noch früher als heute angesetzt war, seine betrunkenen Freunde und Freundinnen mit nach Hause zu bringen. Einmal blieb Franz Werfel über Nacht, in seinem Zustand traute er sich vermutlich nicht nach Hause, und ich fiel über ihn in der Früh, als ich aus dem Bett stieg. Er hatte sich zum Schlafen im Teppich eingerollt. Wenigstens habe ich jetzt in der Lerchenfelder Straße ein Zimmer für mich allein.« Sie machten einen Bogen um die Kaffeehäuser, nicht dass ihnen doch noch ein bekanntes Gesicht begegnete. Das Central und der Herrenhof lagen dicht nebeneinander, aber auch das neueröffnete Sans Souci, das eher ein Tanzcafé war und in das ihr Mann gelegentlich auswich, auf der Suche nach literarischem Nachwuchs, wie er Mitzi gegenüber einmal betont hatte. Doch Milena wusste, dass man sich bei der Lautstärke kaum unterhalten konnte, und wenn doch, dann vermutlich nicht über Bücher.

»Es wäre wunderbar, wenn es einen Ort gäbe«, sagte Kafka, »an den man jederzeit hingehen könnte, ohne eingeladen zu sein. Man sieht sich, spricht miteinander, hat aber keinerlei Verpflichtungen oder Höflichkeiten einzuhalten. Man kennt sich nicht, sitzt zusammen, erscheint oder verschwindet, wie es einem beliebt, und bestellt sich, wonach einem gelüstet.«

»Nicht nur etwas zu essen, oder?« Milena erweiterte sein Rätsel, sobald sie es durchschaute. »Ja, der eine bringt seine Frau mit, ist ihrer aber bald überdrüssig. So wandert sie, weil sie die Tür nicht finden kann oder will, von Tisch zu Tisch zu neuen Liebhabern und driftet dabei aber auch mal wieder ganz aus Versehen zu ihrem Ehemann, der längst eine andere sein Eigen nennt.«

»Man spricht oder schweigt stundenlang.«

»Versinkt im Reden über das Elend der Welt und schafft es nicht hinaus, verwandelt sich in Romanfiguren mit lauter Eigenheiten, die in der richtigen Welt kaum zu finden sind. So vergisst man nach und nach, dass man Familie hat, die irgendwo da draußen lebt und hungert und wartet.«

»Das ist gut.« Kafka nickte eifrig. »Aber am seltsamsten sind die Leute, die von diesen seltsamen Gästen leben. Der Besitzer, der Ober, die Garderobiere und die Kassiererin.«

»Nicht zu vergessen, die Toilettenfrau.«

»Verzeihung, wie konnte ich nur.« Mit einem Grinsen lupfte er den Hut. Milena prägte sich alles Gesagte ein und formte in Gedanken schon einen neuen Artikel über die Kaffeehauskultur, die Prag mit Wien verband.