17. Kapitel

COFFEA

Im Volksgarten blühte alles noch üppiger als bei Milenas letztem Besuch. Auch Kafka hatte von der Verunstaltung des Grillparzer-Denkmals letztes Jahr gelesen. »Aber jetzt scheint es wieder wie neu zu sein.«

»Du musst genauer hinsehen, ganz ist es nicht geglückt. Man sieht noch den Knebelbart.« Milena zeigte ihm die Farbspuren auf Grillparzers Marmorgesicht. Dabei fiel ihr noch mal das Ehepaar Pichler ein. »Manche schmücken sich gerne mit dem Dichter, doch sie lesen ihn nicht.«

»Nur der Name zählt. In vielen Privathäusern hängt Grillparzers Büste, und wenn ich dort nachfrage, weiß man gar nicht genau, welche Art Künstler er war, ein Schauspieler oder Grillparzer wie Grille, etwa ein Sänger? Dabei ist er großartig, seine Werke begleiten mich schon ein Leben lang. Hast du ›Der arme Spielmann‹ gelesen?« Milena schüttelte den Kopf. »Oh, dann schicke ich ihn dir, sobald ich in Prag bin. Ich habe eine besondere Ausgabe mit farbigen Aquarellen.«

Milena wollte gar nicht daran denken, dass ihre gemeinsame Zeit schon übermorgen zu Ende war, sie allein zurückblieb und über dem Abgrund balancierte. »Sag mal …« Sie lenkte ihn auf etwas, das ihr schon lange auf dem Herzen lag. »Kannst du mir einen Gefallen tun, wenn du wieder in Prag bist?«

»Gerne, was?«

»Könntest du ein paar Blumen auf das Grab meines Bruders legen? Er starb noch als Kleinkind, ich denke in letzter Zeit so oft an ihn.«

»An meine Brüder denke ich auch manchmal, wie es wohl wäre, nicht der einzige Sohn in der Familie zu sein, auf dem die ganze Erwartung des Vaters lastet. Sie starben vor meiner Geburt.« Und sie erzählten sich gegenseitig von ihren Familien, den Toten und den Lebenden. Am Schluss landete Milena wieder bei ihrem Vater und wie schwierig es mit ihm gewesen war.

»Wir könnten fast im Kanon singen, was unsere Väter und das Leid mit ihnen betrifft«, sagte Kafka.

»Dann lass es uns probieren.« Milena stimmte das nächstbeste deutsche Lied an, das sie schon oft in den Wiener Gassen gehört hatte. »C-A-F-F-E-E, trinkt nicht zu vi-iiel Kaffee.« Kafka lachte und fiel mit brummigem Ton ein. »Nicht für Kinder ist der Tüüür-kentrank, schwächt die Nerven, macht dich blaa-ass und krank …« Sie reichten sich die Hände und hüpften singend das Trottoir entlang, ungeachtet der Leute, die sich auf der Straße nach dem kindischen Paar umwandten.

Am nächsten Tag inspizierten sie einen der vielen Wiener Trödelläden, die es fast in jeder Straße gab. Vollgestopft bis in den kleinsten Winkel boten sie einen Querschnitt durch die Gesellschaft, ganze Hausstände schienen hier versetzt worden zu sein. Alles, was man entbehren konnte, wurde verkauft. »Sind das nicht die Bettgestelle einer ganzen Familie?« Milena zeigte an die Wand, an der bunt bemalte Holzteile mit gedrechselten Pfosten lehnten, mehrere Ausgaben in verschiedenen Größen. »Wie lebt diese Familie nun, in ihren leeren Räumen? Schlafen sie auf dem Boden und decken sich mit Zeitungen zu?«

»Dann haben sie hoffentlich ausländische Zeitungen ergattert«, sagte Kafka. »Die sind größer als die Wiener Blätter. Aber wenn es mit der Inflation so weitergeht, kann man sich bald mit den Geldscheinen zudecken.«

Am besten gefiel ihnen beiden eine Papierwarenhandlung, die sie in einer Seitengasse hinter dem Stephansdom entdeckten. Darin gab es Dinge, die man nicht unbedingt brauchte, um zu schreiben, die sich aber wunderbar anfühlten, wenn man sie in die Hand nahm, oder in der Wohnung aufgestellt, wunderschön anzusehen waren. Sie inspizierten alles Stück für Stück.

»Eines Tages werden wir ein gemeinsames Schreibbureau haben.« Kafka wog einen Briefbeschwerer aus Bernstein in der Hand, in dem eine Libelle eingeschlossen war. »Dann bin ich weg von der Arbeiter- und Unfallversicherungsanstalt, und du und ich schreiben und leben den ganzen Tag lang.«

»Und wir lieben uns«, ergänzte Milena.

»Das sowieso. Das machen wir manchmal noch vor dem Frühstück anstelle meiner Turnübungen.«

»Oder danach.«

»Puh, oder danach.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Ein gemeinsames Zimmer war eine herrliche Phantasie, fand sie. »Stellen wir dann unsere Schreibtische aneinander, sodass wir uns ansehen können, oder nebeneinander, damit wir beide zum Fenster hinausschauen können?« Die Vorstellung gefiel ihr, sie würden sich gegenseitig inspirieren und in ihrer Arbeit bestärken. Jeder würde die Gewitterwolken des Zweifels im anderen vertreiben, sobald sie auftauchten, und so immer für schönes Wetter sorgen.

»Wenn ich dich ständig anschaue, bringe ich nichts zu Papier, also stellen wir die Tische besser nebeneinander, glaube ich. Oder so über’s Eck, dann berühren sich unsere Stühle fast, aber wir sind in der Sicht frei.«

»Am besten, wir bitten einfach einen Schreiner, uns Rollen an die Schreibtischbeine zu montieren«, schlug Milena vor. »Dann können wir die Tische umstellen, so oft wir wollen.«

»Oder uns auch umkreisen wie Planeten, und wir müssen nie mehr aufstehen, fahren mit dem Tisch durch die Wohnung und rollen ins Bett.«

»Wir werden noch die reinsten Tischtänzer.« Sie lachten.

»Die neueste Attraktion auf dem Prater«, Kafka hielt sich eine Hand wie einen Trichter vor den Mund, »es treten auf, die MilenaFranzens mit ihrer grandiosen Tischtänzernummer, zücken Sie Ihre Federkiele und Tintenfässer, meine Damen und Herren, und versuchen Sie dem Traumpaar zu folgen, es wird Ihnen nicht gelingen.«

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Der Verkäufer hatte sich zwischen den überfüllten Gestellen zu ihnen durchgeschlängelt.

»Danke, wir schauen und staunen bloß«, sagte Milena und strich über eine Auslage mit farbigen Notizbüchern, die ihre Einbände wie Buchumschläge anpriesen. Das mit dem grünblauen grafischen Muster gefiel ihr besonders. Als der Verkäufer wieder auf Abstand ging, hob sie es auf, hielt es erst an ihre Nase und dann Kafkas und fuhr mit dem Daumen im Schnelldurchlauf durch die Seiten. »Riechst du das?«

»Mmh, ja.« Er sog den Geruch von frischem Papier ein. »Ich finde, das duftet nach einem Ruhekissen für Einfälle. Darf ich es dir schenken?«

»Aber nur, wenn du auch etwas von mir annimmst. Was möchtest du?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wähl du aus, dann erinnert es mich immer an dich.« Die Entscheidung war schwer, ein Brieföffner aus verziertem Bakelit oder ein Set rosafarbener Radiergummis mit abgerundeten Ecken, die »Pink Pearl« hießen? Schließlich zogen sie doch den Verkäufer zurate, der ihnen sowieso die ganze Zeit wie ein Schatten folgte.

Er empfahl ihnen den neuesten Import aus Übersee, einen mechanischen Bleistift. »Sehen Sie, das Gerät ist stets einsatzbereit und muss nie mehr gespitzt werden.« Er drückte auf den schlanken Metallstift. Es klickte. »Die Mine schiebt sich wie von selbst weiter, mit der Klemmvorrichtung können Sie ihn am Schreibblock festmachen, müssen nicht lange suchen und haben ihn immer griffbereit.«

»Das Klicken gefällt mir«, sagte Kafka und probierte es aus. Klick-klack. »Das wird mich wachhalten, wenn ich nachts schreibe.« Zusammen mit einer Schachtel Ersatzminen überreichten sich die legendären MilenaFranzens draußen auf der Gasse gegenseitig ihre Geschenke.

Zum Essen gingen sie in den Weißen Hahn, ein pompöses Restaurant ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Viele Male war Milena schon vor den großen Bogenfenstern stehengeblieben und hatte hineingelugt, sich ausgemalt, einmal auch an den aufwendig gedeckten Tischen zu speisen. Und nun saßen sie tatsächlich unter dem kunstvoll ausgemalten Gewölbe mit den Kreuzbögen, von dem große Lüster herabhingen, vor einer Menge Besteck und Gläsern und wurden bedient, als seien sie von Adel. Das Essen bestand aus mehreren Gängen und war ein Hochgenuss. Milena bestand darauf, diesmal die Zeche zu zahlen, obwohl die fleischlosen Speisen außerhalb der Tagesgerichte zubereitet werden mussten. Dafür schmeckte das panierte Kohlrabi-Schnitzel, das auch sie probierte, vorzüglich.

»Bist du aus Tierliebe Vegetarier?«, fragte sie. »Dein Großvater war doch Fleischhauer?« Zum Glück hielt Kafka sich in dieser vornehmen Umgebung mit dem Fletchen zurück.

»Die Vorstellung, wie Fleisch erzeugt wird, verdränge ich lieber. Ich schätze gutes Essen und kann einfach toter Nahrung wenig abgewinnen. Fleisch schmeckt doch erst durch seine Gewürze, aber ein Apfel schmeckt einfach so aus sich heraus. Und du hast recht, abgesehen von Mäusen, die ich fürchte, mag ich Tiere am liebsten lebendig und nicht in Teilen serviert.«

Gesättigt vom »Mohr im Hemd«, den sie als Nachspeise vertilgten, und dazu Erdbeerblättertee tranken, wankten sie froh an die Donau, setzten sich auf eine Bank und beobachteten eine Entenmutter, die gleich sieben Kükchen zu bewachen hatte, was sie mit lautem Geschnatter tat. Dabei sprachen sie noch mal übers Schreiben. »Denkst du, dass es wirklich möglich ist, als Paar miteinander zu arbeiten?«, fragte Milena.

»Das ist der Knackpunkt. Ich muss dir gestehen, dass daran meine bisherigen Beziehungen gescheitert sind.«

»Wie, ich verstehe nicht, schreiben deine Verlobten auch?«

Er lächelte sie an. »Verlobten in der Mehrzahl, daran siehst du schon mein Versagen. Nein, keine von beiden, soviel ich weiß, also abgesehen von geschäftlichen Dingen. Felice ist Prokuristin und Julie …« Er zögerte und dann schmunzelte er. »Sie wird wahrscheinlich den gleichen Beruf ergreifen, macht gerade eine Ausbildung im Handel. Aus Sicht meines Vaters wären das die besten Schwiegertöchter, jüdisch und geschäftstüchtig, so wie er. Meine Eltern betreiben ein Geschäft für Galanteriewaren in Prag.«

»Oh, wie schön. Galanterie, in solchen Dingen war ich früher Expertin.«

»Das bist du noch, mit und ohne Schnickschnack auf der Haut.« Er küsste ihr die Hand und sie küsste ihn auf den Mund. Dass seine Eltern ein Geschäft für modische Ausstattung, Puderdosen, Knöpfe und Krawatten unterhielten, erklärte, warum auch Kafka so viel Wert auf sein Äußeres legte.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte er.

»So, was denn?«

»Wie kann der Sohn solcher Eltern nur so ein Stümper in Geldangelegenheiten sein? Und zugleich sucht er sich Mädchen, die geschäftstüchtig sind. Die Lösung schien mir damals, bei einer Versicherung zu arbeiten, dort hoffte ich, den Umgang mit Geld zu lernen und armen, geschädigten Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch mittlerweile zermürbt mich mein Beruf, auch wenn sich manchmal Betrüger an uns wenden, muss ich als Vertreter der Versicherung eher verhindern, dass es zur Auszahlung kommt, als dass ich sie bewillige. Und genau darum bist du so besonders für mich.«

»Ich?« Sah er in ihr etwa doch eine Betrügerin, sie fühlte sich auf einmal unangenehm berührt.

»Mit niemandem sonst, außer vielleicht mit Max, aber das hat eher etwas Kumpelhaftes, nicht so etwas Feines, Innigliches wie mit dir, konnte ich bisher so offen über das Schreiben, Literatur und Bücher reden. Auch in Bezug auf das Leben. Und wirklich, Milena, ich sehne mich nach einer Familie, und ich fürchte mich zugleich davor. Nicht, weil ich bald zu alt bin, oder doch, das auch. Die Sorgen, die eine Familie mit sich bringt, dass Frau und Kind immer gut behütet und beschützt sein mögen, werden mich vom Schreiben abhalten. Viel verdient man als Schriftsteller sowieso nicht, eine Familie werde ich mit meinen Büchern vielleicht nie ernähren können.«

»Wie fallen denn die Kritiken zu deinen Erzählungen aus?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht genau. Max sagt mir Bescheid, wenn sich jemand in der Zeitung dazu geäußert hat. Tucholsky in Berlin oder Berthold Viertel im ›Prager Tagblatt‹.«

Milena hielt es nicht mehr auf der Bank, als sie das hörte. Sie sprang auf und stellte sich vor ihn. »Die besten Kritiker äußern sich zu deinem Werk und du liest sie nicht?« Sie hatte wirklich mit einem Adeligen gespeist, dachte sie, einem Literaturkönig, der über den weltlichen Dingen thronte. »Ist es dir echt egal, was sie schreiben?«

»Egal ist es mir nicht. Ich vergesse nur, die Sachen zu lesen. Max bringt sie mir vorbei oder schwärmt mir vor. Vielleicht schont er mich auch und erzählt nur von den Lobesworten.«

»Deine Gelassenheit möchte ich haben. Was gäbe ich für solch eine Anerkennung. Ich bin immer viel zu aufbrausend in allem.«

»Erfrischend aufbrausend, finde ich.« Er nahm ihre Hände in seine. »Mir geht es um ganz etwas anderes beim Schreiben.« Milena rückte wieder nah zu ihm, jetzt wurde es spannend. »Max muss mich oft erinnern, dass ich doch meinem Verleger antworten soll. Mein treuer Freund, der sich so in meiner Angelegenheit bemüht. Aber was von mir gedruckt wird, hake ich ab, sonst würde ich es nicht aushalten, dass da etwas in der Welt existiert, das ich noch hätte besser machen können, wenn ich mir nur mehr Mühe gegeben hätte.«

»Besser machen?«

Er nickte. »Da ein Wort oder ein Satz oder ganzer Absatz, dort ein Ausdruck, eine Beschreibung. Oder insgesamt, manchmal gibt es gar nicht wieder, was ich eigentlich sagen wollte. Es würde mich nur aufwühlen, von einem Kritiker etwas zu lesen, was ich gar nicht so beabsichtigt habe.«

»Und was beabsichtigst du?« Hier war sie wieder bei der Grundsatzfrage über Literatur, von der auch ihr Mann ständig redete. Sie selbst feilte daran, schickte es ab und hoffte, dass es veröffentlicht würde. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Die Entenfamilie war aus dem Wasser geklettert, nur das siebte Entlein schwamm noch selig in der Donau, als hörte es die quakende Mutter nicht.

»Mmh, gute Frage. Absicht ist das falsche Wort. Es ist mehr ein Spiel, ja, so wie die Kinder spielen, so verwende ich Dinge, die ich beobachtet, erlebt oder auch geträumt habe. Ich schöpfe mein Unbewusstes wie die neumodischen Seelenzerfledderer ab. Sigmund Freud und Konsorten. Das ist doch das eigentlich Faszinierende beim Schreiben. Es findet alles im Kopf statt, sammelt sich dort an, formt sich dort schon ein bisschen, aber erst wenn es draußen ist, auf dem Papier, wird es zu einer Geschichte. Und ich möchte, dass meine Geschichten wahr sind, auch wenn ich sie eigentlich erfunden habe.« Er lachte. »Das klingt verrückt, oder?«

»Nein, gar nicht.« Milena nickte. »Auch ich versuche aus allem Erlebten den wahren Kern aufzuschreiben, die Essenz sozusagen.«

»Sehr gut. Und der Leser, so hoffen wir, macht aus dieser Essenz wieder eine Geschichte, indem er seine Erfahrungen wie Wasser hinzufügt.« Kafka strahlte sie an. »Das Schreiben ist mir das Wichtigste im Leben, und seit ich krank geworden bin, umso mehr.«

»Aber du wirst wieder gesund und dann ist alles leichter.« Milena hielt diese Endgültigkeit kaum aus. »Es gibt doch Heilmethoden?«

»Die gibt es womöglich, doch wie du zur Genüge weißt, bin ich nicht der geduldigste Mensch. Mir graut es schon vor der Untersuchung in Prag, ob die Kur angeschlagen hat.«

»Fühlst du dich besser? Ich weiß ja nicht, wie es dir vorher ging, aber bis jetzt hast du noch kein einziges Mal gehustet, seit du bei mir bist, ist dir das bewusst?«

»Dafür danke ich dir sehr. Nachts schaut es leider anders aus, da bräuchte ich dich auch an meiner Seite, denn da huste ich mir die Seele aus dem Leib.«

»Du weißt, dass das nicht geht.«

Er schwieg und sah sie aus seinen durchdringenden Rabenaugen an. Als verheiratete Frau durfte sie nicht über Nacht in einem Hotel bei ihm sein, sonst zerriss sich hinterher die ganze Stadt das Maul über Frau Pollak. Nur in der Öffentlichkeit, und das natürlich ganz sittsam, konnte sie bei ihm und mit ihm sein.

Egal, ob sie viel oder wenig redeten, etwas unternahmen oder stundenlang nebeneinandersaßen oder -lagen, die Zeit verrann. Ehe sie sich versahen, war der Nachmittag vorbei und ihr letzter gemeinsamer Tag brach an. Lange hatte sich Milena überlegt, wie sie Kafkas siebenunddreißigsten Geburtstag feiern könnten. Und dann war ihr eingefallen, dass es doch am schönsten wäre, noch ein letztes Mal gemeinsam zu lachen und die Welt mit ihren Sorgen und Nöten um eine gemeinsame Zukunft zu vergessen. Sie würden an einen Ort gehen, wo das Licht ausging und Magie anfing. Nachdem Kafka in dem kleinen Garten neben dem Schottenring auf sie gewartet hatte, tauschte er sein italienisches Reisegeld in der Devisenzentrale der Börse in Kronen um. Anschließend gab er ein paar Telegramme auf, um seine Familie über seine morgige Ankunft in Prag zu unterrichten. Milena versuchte über seine Umständlichkeit in der Telegraphenanstalt, die er ähnlich wie am ersten Tag im Postamt beibehielt, hinwegzusehen. Sie tat so, als säße sie einfach einen weiteren Tag in einer Theateraufführung, in der dasselbe Stück in einer ähnlichen Kulisse dargeboten wurde, vor allem mit dem gleichen Hauptdarsteller. Nur das Publikum, das bloß aus ihr bestand, brach schon allein beim Zuschauen in Schwitzen aus. Als das überstanden war, führte sie Kafka zu Fuß zu seiner Geburtstagsüberraschung in den siebten Bezirk, was kaum mehr als eine halbe Stunde zu gehen war. Aber alle paar Meter blieb er stehen und fragte: »Ist es hier, oder hier?« An der Universität, beim Beethovenhaus, an der Hofburg und der Nationalbibliothek. Und jedes Mal verneinte Milena und zog ihn lachend weiter.

Als sie am Ziel waren, bemerkte er es zuerst nicht und sah sich um. »Du wolltest mich Herrn Goethe vorstellen, der dort oben so protzig breit thront?« Er zeigte auf das Denkmal schräg gegenüber.

»Auch, aber du kennst ihn bestimmt besser als ich, wir lassen ihn auf seinem Thron und gehen hier hinein.« Sie lenkte ihn ins Burgkino.

»Wie schön, woher wusstest du, dass ich Filme liebe, seit diese Kunst erfunden wurde? Immerfort lockt sie mich in ihre Fänge.« Er freute sich sichtlich.

»Ich habe es nicht gewusst, aber gehofft, dass wir auch diese Leidenschaft teilen.«

»Und wie, ich bin süchtig nach dem Kino und habe es in Meran vermisst.« Volltreffer, Milenas Herz schlug höher, weil ihr die Geburtstagsüberraschung gelungen war.

Doch dann verlief das Weitere anders als geplant. Die Vorstellung war komplett ausverkauft, erfuhren sie an der Kasse, nachdem sie sich lange angestellt hatten.

»Alle dreihundertsiebzig Karten?«, fragte Milena, denn mit so vielen Plätzen warb das Haus auf dem Eingangsschild.

Die Kassiererin nickte. »Sie hätten reservieren müssen, der neue Chaplin-Film ist heiß begehrt. Aber warten’s halt noch einen Moment, manchmal werden welche nicht abgeholt.« Und tatsächlich, sie hatten Glück, es blieben genau zwei Karten übrig. Ein freundlicher Herr führte sie mit seiner Karbidlampe, die er wie ein Grubenarbeiter vor sich hertrug, in die vorletzte Reihe des bereits verdunkelten Saals. Sie sprengten die Leute auf, um zu ihren Sitzen zu gelangen. Sobald sie saßen, stellte sich Milena ganz auf Kafka ein und freute sich, neben ihrem Geliebten zu sitzen und mit ihm gleich in eine fremde, aber lustige Geschichte einzutauchen. Aber als das Klavierspiel einsetzte, der Vorhang aufgezogen wurde, das Licht erlosch und der Film anfing, erfuhren sie im Vorspann, dass der Komiker Chaplin in dem Film gar nicht mitspielte. Um Missverständnisse zu vermeiden, wandte er sich direkt an die Kinogänger und wies in einer Schrifttafel darauf hin, dass es sich hierbei um sein erstes ernstes Werk handle, das er geschrieben und selbst inszeniert habe.

Ein Murren ging durch den Saal. »Schikane! Wir verlangen unser Geld zurück.« In der vorderen Reihe standen Leute auf und verließen mit erhobener Faust das Kino. Die übrigen beruhigten sich wieder, als die Handlung einsetzte. Eine düstere Schwarz-Weiß-Kulisse in einem Dorf irgendwo in Frankreich zeigte ein Haus. Man sah eine Straße, eine Hausfront, ein Fenster, ein Fensterrahmen und dahinter ein Gesicht. Schon nach wenigen Minuten war Milena ergriffen. Und das wollte etwas heißen nach den vielen Kinobesuchen, die sie in ihrer Jugend allein oder zusammen mit ihren Freundinnen gemacht hatte. Sie hatten jeden neuen Streifen angeschaut, der geboten wurde, manche sogar mehrmals. Bald glaubte sie, dass kein Film, und wäre es auch der schönste, sie mehr richtig überraschen könnte. Jedes Mal wünschte sie sich, einmal etwas ganz anderes zu sehen, etwas, mit dem sie nicht rechnete und dass sie verblüffte. Sei es die Handlung, die Auswahl der Szenen, die Erzählweise oder die Art der Darstellung. »Eine Frau in Paris« traf sie auf diese Weise und zwar doppelt. Erzählt wurde ein verwickeltes Drama mit ungewöhnlichen Wendungen und vielen humoristischen Einlagen aus dem Pariser Nachtleben. Eine junge Frau wird von ihrem Vater in ihrem Zimmer eingesperrt, da er ihre Liebschaft nicht duldet. Sie flieht nach Paris. Gerade als sie sich dort ein eigenes Leben aufgebaut hat, trifft sie ihren Geliebten wieder, ihre Liebe zueinander entflammt erneut, und er macht ihr einen Heiratsantrag. Doch gegenüber seiner Mutter verleugnet er sie, die junge Frau erfährt davon, und das Ganze nimmt ein tragisches Ende. Dabei erkannte Milena sich in vielem wieder, Charlie Chaplin verstand sie, stellte sie fest. Die Szene mit der Perlenkette erinnerte an ihr Erlebnis, für das sie sich noch immer schämte. Im Film warf die Hauptdarstellerin aus Wut und Enttäuschung mit einer theatralischen Geste die Kette aus dem Fenster, so als wollte sie sich von dem Geschenk ihres Geliebten für immer trennen. Aber als ein Passant den Schmuck aufhebt, rennt sie ihm ganz undamenhaft hinterher und versucht, die Kette zurückzuholen. Es gab weitere lustige Momente, wie den, als ein Mann eine Frau in einen Salon voller Leute trägt, auf ein Podest stellt und sie aus ihrem Kleid wickelt. Dabei dreht er sich selbst im Stoff ein und fällt wie eine Mumie in die Menge. Doch am meisten ergriff Milena die Szene am Bahnhof, obwohl man nichts als eine kahle Wand sieht, wusste man, dass an diesem trostlosen und traurigen Platz Menschen mit gebrochenem Herzen fortreisen. Keine Eisenbahn ist erkennbar, nur ein Lichtschein in einem Fenster und die Silhouette eines Mannes. Milena ahnte trotzdem, dass er sich in einer Ecke des Zugabteils vergraben hat und seinem Schmerz hingibt.

Voll und ganz von Chaplins Kunst gefangen genommen, bemerkte sie auf einmal ein Zittern neben sich, das von Kafkas Ellbogen ausging. Sie erschrak, dachte schon, er ringe nach Atem. Doch als sie ihn flüsternd fragte, was los sei, hörte sie ihn schluchzen. Im Schutz der Dunkelheit weinte er hemmungslos.

Als sie nach dem knisternden »The End« und dem Öffnen der Türen in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde, taumelte Milena wie aus einem Traum in die Nacht hinaus. Und auch Kafka folgte ihr, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Anschließend schlenderten sie lange still nebeneinanderher. Die Straßenbahn, Kutschen und Automobile fuhren an ihnen vorbei, Passanten überholten sie, die Stadt lebte, als sei nichts geschehen. Im Straßenpflaster spiegelten sich die Reklametafeln, es musste geregnet haben, doch jetzt war die Nachtluft wieder trocken und lau.

»Ist dir aufgefallen, dass bei Chaplin sogar die Gegenstände Gesichter haben?«, fing Kafka nach einer Weile an und legte den Arm um sie.

»Ja, das Verrückte in seinen Filmen ist nur scheinbar verrückt«, sagte Milena, dankbar, dass er aus seiner Traurigkeit aufgetaucht war und ein Gespräch anfing. »In Wahrheit betrachtet Chaplin die Welt ganz genau, und fällt ihm ein Steinchen um, dann fällt eben das nächste wie beim Domino.«

»Auch die Widersprüche der Figuren, bei ihm ist keiner völlig gut oder nur ein Bösewicht, sondern alle haben Charakter. Sie wollen meistens Gutes tun und machen Schlechtes. Dabei wirken sie edel und großmütig, sind aber eigentlich niederträchtig.« Kafka blieb stehen und sah sie an. »Sie lieben sich ein bisschen und sie hassen sich zugleich auch ein bisschen.«

»Wie echte Menschen eben, sie widersprechen sich hundert Mal am Tag. Aber was willst du mir damit sagen? Hasst und liebst du mich zugleich auch ein bisschen?« Als Antwort küsste er sie, und sie ließ sich in seine Umarmung fallen, froh, ihn noch ein paar Rabenaugenblicke bei sich zu haben.