DAHLIE
Das Leben war voller Wunder und eines davon hieß Franz Kafka. Sie trennten sich mit tausend Versprechen und Träumen. Vielleicht war auch ein wirklicher Plan für ein gemeinsames Leben darunter. Am Sonntag stand Milena früh auf, um Kafka zum Bahnhof zu begleiten. Zum Abschied hatte sie extra für ihn ihr Isadora-Duncan-Kleid an, in dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Dafür bestand sie darauf, seinen Koffer zu tragen, sie war doch schließlich ehemalige K.-u.-k.-Gepäckträgerin, hatte noch unter dem Kaiser mit der Schufterei begonnen. Kafka ging kopfschüttelnd neben ihr her, als würde sie gleich unter der Last zusammenbrechen. Als sie den Bahnsteig erreichten und der Zug einfuhr, konnte er gar nicht mehr von ihr lassen, drückte und küsste sie viele Male. Wie von selbst glitten seine Finger unter den wallenden Stoff und berührte ihre nackte Haut, und er scherte sich nicht um die Zuschauer auf dem Bahnsteig oder tausend Vorsätze und Ängste. Beschwingt und voller Zuversicht kehrte Milena in die Lerchenfelder Straße zurück.
»Wo warst du?« Ernst saß im Schlafanzug am Küchentisch, vor ihm eine Kanne Kaffee und in der Hand seine Pfeife. Sie mochte es gar nicht, wenn er in der Küche rauchte, ihre armen Pflanzen! Doch sie antwortete nicht, zog die Schuhe aus und wollte in ihr Zimmer gehen, dazu musste sie durch die Küche an Ernst vorbei. Sie hielt Ausschau nach Fjodor, entdeckte ihn draußen auf dem Fenstersims und schlängelte sich an Ernst vorbei, um den Kater hereinzulassen.
»Sag nicht, dass du auch noch sonntags in aller Herrgottsfrühe unterrichtest. Den Schüler möchte ich sehen.« Ernst klopfte mit dem Pfeifenstiel auf den Tassenrand. Klack-klack, klack-klack, Milena dachte bei dem Geräusch an Kafkas Metallstift, den sie ihm geschenkt hatte, noch immer lachte ihr Herz. Sie räumte die Blumentöpfe zur Seite und entdeckte, dass die Dahlien dank des sonnigen Platzes erste Knospen bildeten.
»Aber was rede ich, natürlich, wenn die Lehrerin so etwas anhat oder besser gesagt, nichts trägt. Zeig her, trägst du überhaupt Unterwäsche?« Er fuhr ihr unter das Kleid.
Sie schlug seine Hand weg. »Fass mich nicht an.«
»Ich mach, was ich will, ich bin schließlich dein Ehemann.«
»Ach ja, auf einmal? Davon habe ich in letzter Zeit aber nichts gemerkt«, zischte sie, obgleich sie sich eigentlich auf nichts mit ihm einlassen wollte, doch sie konnte nicht anders.
»Dann holen wir das nach, komm, jetzt gleich.« Er legte die Pfeife weg und griff wieder nach ihr. Sie wehrte ihn ab, schubste ihn zurück auf den Stuhl.
»Hast wohl schon genug gekriegt heute Morgen.« Endlich ließ er sie los. »Aber warte, was Herr Kafka kann, kann ich auch.«
»Was soll das heißen?« Sie starrte ihn an.
»Ich weiß, dass du dich mit Kafka triffst.«
Sie drehte sich wieder zum Fenster, ließ Fjodor herein und bereute es, überhaupt ein Gespräch angefangen zu haben. In Gedanken hatte sie sich unzählige Male vorgesagt, wie sie Ernst das mit Kafka erklären oder besser noch lässig überspielen würde. Ein Autorenübersetzertreffen, nichts weiter. Ihre wirklichen Gefühle wollte sie auf keinen Fall offenbaren. Zumindest so lange nicht, bis sie beide, Franz und sie, einen Weg gefunden hatten, um zusammenzuleben. Erst musste er das mit seiner Kurbekanntschaft regeln und dann wollten sie sich weiter besprechen. Sie nahm Fjodor auf den Arm und drückte ihn an sich.
»Verstehst du nicht, man hat euch gesehen, eng umschlungen, überall in der Stadt.«
Sofort rief sich Milena die Orte der letzten vier Tage in Erinnerung, wo sie mit Kafka gewesen war und ob ihnen dort jemand Bekanntes begegnet war. Etwas in Ernsts Worten irritierte sie, als hätte sie etwas Ähnliches schon einmal gehört.
Weil sie nicht reagierte, wurde er lauter. »Aber von mir aus, treib es mit jedem, sogar im Park und am Bahnhof oder wo noch alles. Wichtiger für mich ist, was das Ganze soll? Was bezweckst du damit? Ausgerechnet Franz Kafka, ich dachte, der Kerl kann kein Wässerchen trüben, dessen Abenteuer spielen sich nur auf dem Papier ab.« Ernst beugte sich nach hinten, wippte mit dem Stuhl und versperrte ihr, der Kater auf ihrem Arm, den Rückweg.
»Lass mich vorbei«, sagte sie, so ruhig sie konnte, doch ihre Stimme zitterte. Fjodor entwand sich ihr und sprang auf den Tisch, als er das Milchkännchen entdeckte.
»Runter mit dir, verdammt noch mal.« Grob schubste Ernst ihn weg, stieß dabei an das Kännchen. Es kippte um, der Inhalt floss über den Tisch und tropfte auf den Boden, wo Fjodor ihn dankbar aufleckte. »Der kriegt doch immer, was er will.« Er trat nach ihm, Milena ging dazwischen.
»Lass deine Wut gefälligst im Kaffeehaus oder sonst wo aus, aber nicht an Fjodor. Das dulde ich nicht.«
»So so, du duldest es nicht. Ha, weißt du, was ich nicht dulde?« Sie ignorierte ihn, schnappte sich einen Teller aus dem Regal und wischte mit der Handkante die restliche Milch vom Tisch. Dann trug sie Teller und Kater in ihr Zimmer und wollte sich einsperren, bevor die Situation weiter eskalierte und Ernst noch ganz ausrastete.
Doch kaum hatte sie den Kater abgesetzt, stand Ernst in der Tür. »Schlaft ihr etwa miteinander? Aber warum frage ich eigentlich, Kafka wird kaum extra nach Wien anreisen, um nur zu poussieren und mit dir durch die Stadt zu flanieren. Kein Wunder, dass du dich aufführst und mich abblitzen lässt. Aber das eine sage ich dir, wir sind immer noch verheiratet, VERHEIRATET …«, das brüllte er, »weißt du noch, was das heißt?«
Jetzt konnte sich Milena nicht mehr beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus. »Du sprichst von der Ehe, ausgerechnet du? Ich glaube, ich höre nicht richtig. Nur weil Mitzi dir eine Abfuhr erteilt hat, fällt dir plötzlich wieder ein, dass es mich auch noch gibt? Aber darauf verzichte ich. Ich brauche dich nicht mehr.«
»So? Und du glaubst, du kannst über dich selbst bestimmen? Wie willst du leben, ganz ohne mich?«
»Das mache ich doch schon lange. Ich kann für mich selbst sorgen.«
»Ach ja? Vom Trinkgeld als Kofferträgerin? Oder bezahlt dich Kafka für den Tschechischunterricht?«
»Wenn du mir einmal zugehört hättest, wüsstest du es. Aber ich sag es dir noch mal. Ich schreibe Artikel fürs Feuilleton.«
»Oho, ein Schriftstellerpaar seid ihr zwei, soso. Das wird ja immer besser. Aber nun Schluss mit den Hirngespinsten. Dein Vater weiß auch davon.«
Milena stockte der Atem. »Du hast mit Vater gesprochen? Wann?«
Er schwieg auf einmal. Hatte er etwa mit ihrem Vater telefoniert? Aber Ernst trug doch noch seinen Schlafanzug, und sie hatten keinen Apparat. Nur Frau Koller besaß einen, zu ihr ging das ganze Haus, und auch er führte dort seine Ferngespräche mit Autoren. Und dann fiel ihr ein, was sie vorhin irritiert hatte. Genauso, wie er nun von ihr und Kafka sprach, hatte ihr Vater damals von Ernst und ihr geredet, fast mit denselben Worten.
»Es gibt Mittel und Wege, dich zur Vernunft zu bringen, da bin ich mir mit deinem Vater einig.«
»Du bist dir mit Vater einig? Das ist ja mal etwas ganz Neues. Willst du mich auch in eine Irrenanstalt sperren, nur weil ich dir nicht gehorche?«
»Das werden wir sehen. Jedenfalls brauchst du nicht glauben, dass du als meine Ehefrau einfach mit Kafka durchbrennen kannst, in Prag wird dich keiner mit offenen Armen empfangen. Und dieser Kafka, was willst du mit einem fast Vierzigjährigen, der noch bei seinen Eltern wohnt? Und wie man hört, wechselt er die Frauen wie seine Taschentücher. Liegt das an den Büchern, die er schreibt, ist es das? Sag Milka, was reizt dich an ihm, was ich nicht habe?«
»Geh aus der Tür.« Weitere Gemeinheiten musste sie sich nicht anhören. Sie trat ihm entgegen und drängte ihn zur Seite. Da sie gleich groß waren, wich er zurück. Dann schlug sie die Tür zu und sperrte ab. Wie konnte nur in wenigen Minuten all das Schöne der letzten Tage zerbrechen? Das durfte nicht sein, und das wollte sie auch nicht zulassen. Sie warf sich aufs Bett, legte sich zu Fjodor, der das Wortgefecht hinter ihrem Kopfkissen mit aufgeplustertem Fell in Hab-Acht-Stellung verfolgt hatte. »Wer weiß, ob das stimmt, was Ernst erzählt«, flüsterte sie dem Kater ins Ohr und streichelte ihn. Wenigstens erfuhr ihr Mann nun, wie es war, so behandelt zu werden. Auch wenn er dennoch freier war, als es eine Frau jemals sein würde. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er wirklich mit ihrem Vater gesprochen hatte. Aber was, wenn doch? Würde er sie zusammen mit ihrem Ehemann womöglich entmündigen lassen?