2. Kapitel

SOMMERSCHNEE

Wie üblich brach sie am Montagmorgen zum Bahnhof auf, um nach Arbeit als Gepäckträgerin Ausschau zu halten, danach wollte sie bei einigen Schulen fragen, ob dort eine Tschechischlehrerin gebraucht würde. Ernst war schon aus dem Haus. Auf dem Küchentisch stand ein kleiner Strauß Sommerschnee. Woher kam der denn, fragte sich Milena und roch an den zartweißen Blüten, die sich über die ausgeblichene Tischdecke ergossen wie ein blühender Obstbaum. Darunter lag ein Zettel:

Verzeih mir, ich brauche dich, bitte verlass mich nicht. Ernst

Was sollte sie davon halten? Ihr Mann hatte ihr noch nie Blumen geschenkt, obwohl er wusste, wie sehr sie sich darüber freute. Vielleicht hatte er sie sich genau für diesen Moment aufgespart, um sie weichzuklopfen. Doch dafür war es zu spät. Er konnte noch so viel behaupten, sie vertraute ihm nicht und brauchte ihn auch nicht mehr.

Als sie durchs Treppenhaus lief, grüßte sie Herrn Mistelbauer, den Briefträger, der die Post auf die verschiedenen Kästen der Mietparteien verteilte.

»Schön’ guten Morgen, Frau Pollak.« Er lupfte die Dienstkappe und grüßte sie ebenfalls unter seinem langen Schnauzbart hervor, der seinen Mund verdeckte und beim Sprechen zappelte, als hielte er ein kleines Pelztier unter seiner Nase gefangen. »Soll ich’s Erna gleich geben?« Er suchte in seiner Tasche die Briefe zusammen.

Inzwischen fühlte sich auch Milena mit Erna angesprochen. »Ist etwas für mich dabei?«, fragte sie, obwohl sie sich die Antwort denken konnte. Wahrscheinlich war die gesamte Post für Ernst, und jetzt, wo sie sie entgegennahm, musste sie sie auch nach oben tragen.

»Ja, jede Menge«, sagte Herr Mistelbauer, »dieser hier ist für Ihren werten Herrn Gatten.« Also ein Brief für Ernst und der Rest für sie, kaum zu glauben. Sie nahm den Stapel entgegen. Ihr Herz klopfte schneller, als sie tatsächlich ihren Namen und die Adresse auf den obersten Umschlägen in Maschinenschrift las. Hatte Kafka es gewagt, hierher zu schreiben, und es wie einen Amtsbrief getarnt? Hastig rannte sie in die Wohnung zurück, legte den Brief für Ernst auf seinen Zettel in der Küche und öffnete ihre Post in ihrem Zimmer auf dem Bett. Wie gut, dass sie schon dort war, denn sie musste sich zurücklegen und noch mal und noch mal lesen. Dann brach sie in ein Jubeln aus. Die Zeit des Koffertragens war vorbei. Neben der »Tribuna«, die Belege ihrer letzten Artikel schickte, fragten weitere tschechische Redaktionen an, ob sie für sie schreiben oder auch übersetzen wollte. Und wie sie wollte! Eine Prager Zeitschrift bot ihr sogar einen wöchentlichen Beitrag für das Moderessort an. Man sei an dem weltoffenen Blick einer Tschechin interessiert. Was trägt frau im ehemaligen Kaiserreich Wien, wie orientiert frau sich an den anderen Ländern, Deutschland, Frankreich, England? Diese Wertschätzung von Milenas noch dünnem Werk verdankte sie Staša, die sich in Prag unermüdlich für sie einsetzte. Sie hatte sie weiterempfohlen, wusste vom Trauerspiel ihrer Ehe und auch, dass es einen gewissen Herrn gab, mit dem sie sich seit einem guten halben Jahr schrieb. Von ihr lag ebenfalls ein Brief in der Post. In ihrer unverblümt witzigen Art schlug sie Milena vor, dass sie, wenn sie sich vom »Pollakschen« befreit habe, mit ihr in Prag ein eigenes Redaktionsbureau eröffnen könnte. Oder am besten sie drei, es würde wie früher werden, denn Jarmila habe sie auch angeschrieben, ob sie mitmachen wollte. Frau Jarmila Haasová würde den Blick aus der sündigen Stadt mitbringen, wie Berlin genannt wurde, dort sei die Mode stark von der Kunst beeinflusst und die wage Revolutionäres, schrieb Staša. Frau trüge dort sogar Herrenhosen und sehe damit eleganter denn je aus. Auch was die Emanzipation beträfe, könnte frau von den Berlinerinnen noch einiges lernen, und den Rest der Welt würden sie drei zusammen erobern. Das hörte sich vielversprechend an. Und zu guter Letzt lag auch ein Brief von Alice dabei, einer ehemaligen Mitschülerin aus dem »Minerva«, was sie besonders freute. Auch sie hatte Milenas Artikel gelesen und lud sie ein, sie in Dresden zu besuchen, wo sie zusammen mit ihrem Mann einen Verlag gegründet hatte. Sie suchte noch eine freie Mitarbeiterin. Aber obwohl sich Milena inzwischen freier fühlte, so war sie noch an Wien durch ihre Ehe gebunden. Erst mit einem Visum konnte sie reisen, doch dafür brauchte sie die Zustimmung ihres Mannes, und außerdem war ihr Pass für die Tschechoslowakei ungültig und musste neu beantragt werden. Zu gern würde Milena all ihre Freundinnen wiedersehen und von ihnen hören, was sie erlebt hatten. Sie setzte sich an den Schreibtisch und begann Antworten zu verfassen. Und auch ihren Einfall für den Artikel über die Kaffeehäuser tippte sie, beschwingt von so viel Anerkennung, direkt in die Maschine. Ihr Traum war wahr geworden, sie würde ein selbstbestimmtes und freies Leben führen. Eigentlich hatte sie gegen Abend zur Post gehen wollen, aber dann, ganz vertieft in ihre Arbeit, verschob sie es auf den nächsten Tag. Sie wollte ihre Texte am nächsten Tag noch mal durchgehen, bevor sie sie abschickte. Aufgedreht und zugleich todmüde, aber glücklich, fiel sie gegen Mitternacht ins Bett, den Kopf voller Satzfetzen und Sprachbilder. Sie bemerkte nicht einmal mehr, wann und ob Ernst nach Hause kam. Und als sie am Dienstag erwachte, war er bereits ohne neue Nachricht wieder fort, was sie am schmutzigen Geschirr erkannte, dass sich seit gestern in der Spüle häufte. Als sie ihre Post in der Bennogasse aufgab, erhielt sie gleich einen ganzen Pack »Kramer«-Briefe von Kafka. Kurz nach seiner Ankunft, am Sonntag, hatte er sofort drei Briefe an sie verfasst und gestern sogar fünf Briefe. Er fing an, sie zu nummerieren, damit Milena sie in der richtigen Reihenfolge las. Außerdem lag noch das versprochene Grillparzer-Buch vom »Armen Spielmann« und ein Telegramm dabei, das sie als Erstes las:

MAEDCHEN SCHREIBT DIR ANTWORTE FREUNDLICH UND STRENG VERLASS MICH NICHT

Offenbar nahm »das Mädchen« die Entlobung doch nicht so leichtfertig hin, wie Kafka gehofft hatte. Aber was erwartete Julie von ihr? Sollte sich Milena entschuldigen und ihr Kafka wieder überlassen, als würde sie ein geborgtes Spielzeug zurückgeben? Dass sie da hineingezogen wurde, trübte ihre Stimmung. Doch sie beschloss, die vielen Briefe zu Hause in Ruhe und der Reihe nach zu lesen und sich dann zu überlegen, wie sie vorgehen würde. Schon komisch, ganz erfüllt von den neuen Ereignissen hatte sie zwar weiterhin viel an Kafka gedacht und sich immer noch über die gemeinsame Zeit mit ihm gefreut, doch im Gegensatz zu ihm hatte sie nicht sofort das Verlangen gehabt, ihm zu schreiben. Das erste Mal nach Wochen tagtäglicher Briefe gab sie anderen Dingen den Vorrang.

Kafkas Rückreise war nicht ohne Komplikationen verlaufen, erfuhr sie beim Lesen, seine Schmelzstimme in ihrem Ohr. Fast wäre er umgekehrt, als ihn der Zoll an der Grenze bei Gmünd festhielt, weil sein Visum abgelaufen war. Er hatte sich schon vorgestellt, Milena zu überraschen und einfach vor ihrer Tür zu stehen. Doch dann wurde er nach einigem Hin und Her doch durchgelassen. Gleich nach seiner Ankunft in Prag traf er sich mit Max Brod und erzählte seinem besten Freund von ihr. Herr Brod wusste von den Liebesbriefen, die Kafka seit seiner Kur an eine Frau schrieb, aber er hätte dahinter niemals Milena Pollak, die einstige Jesenská, erraten.

Wenn man durch Glück umkommen kann, dann muß es mir geschehn. Und kann ein zum Sterben Bestimmter durch Glück am Leben bleiben, dann werde ich am Leben bleiben, schrieb er und das rührte sie zu Tränen. Ach, Franz, dachte sie. Hoffentlich reichte ihre Liebe, um ihn zu heilen. Und bevor sie weiterlas, stellte sie sich das Schreibzimmer vor, ihre beiden Tanztische und wie sie vertieft, aber nah beisammen dort eines Tages sitzen würden.

Und dann erklärte er endlich, was es mit dem Telegramm auf sich hatte. Wie Milena vermutet hatte, wollte sich Julie nicht einfach fortschicken lassen, und verlangte mehr von der Neuen zu erfahren, die ihren Platz in Kafkas Sinnen und Herzen einnähme. Und Franz, der nicht lügen konnte und ständig seine Seele verkaufte, erzählte ihr alles. Was sie von Milena erfuhr, machte Julie noch wütender. Ihr war es unbegreiflich, dass er die Verlobung mit ihr für eine andere lösen wollte, die verheiratet sei und sich mit ihm nur in aller Heimlichkeit verabreden konnte, wo doch sie bereit sei, alles für ihn zu tun und zu geben. Und noch dazu hatte er mit dieser Frau seit Monaten korrespondiert. Seit Monaten? Also auch während er mit ihr über die gemeinsame Zukunft gesprochen habe? Das bedeutete, dass alles, was zwischen ihnen geschehen wäre, nichts als Täuschung gewesen war. Am besten, Julie würde sich sofort das Leben nehmen und ihren Platz endgültig freigeben. Und als Kafka versuchte sie zu beruhigen, verlangte sie, auf der Stelle diese Briefe zu sehen. Nur seine Erlaubnis, Milena schreiben zu dürfen, brachte sie davon ab. Er hoffte, dass Julie in ihrer Not nichts Hinterlistiges vorhabe und Milena gegen ihn beeinflussten könnte. Überdies entschuldigte er sich schon vorab. Er wüsste, wie verletzend das alles für sie wäre. Er würde am nächsten Tag versuchen, noch mal mit »dem Mädchen« zu sprechen und sie vielleicht von dem Entschluss abzubringen. Das misslang, aber zumindest konnte er Julie überreden, noch mal zur Hauptpost zu laufen und den Brief an Milena abzufangen.

So hatte sich ohne ihr Wissen und Zutun die heikle Angelegenheit von selbst geregelt, wie gut, dass sie die Briefe nicht früher erhalten hatte. Für Kafka war der Gedankenstrom keinesfalls abgerissen. Er ließ die gemeinsame Zeit Revue passieren, stellte sich jede Einzelheit genau vor. Er hatte die Klinke ihrer Tür so nah vor Augen wie sein Tintenfass und war sogar auf ihren Schrank eifersüchtig, der ihr wahrscheinlich gerade in diesem Moment näher war als er. Warum bin ich nicht z. B. der glückliche Schrank in Deinem Zimmer, der Dich voll anschaut, wenn Du im Lehnstuhl sitzt oder beim Schreibtisch oder Dich niederlegst oder schläfst (aller Segen über deinen Schlaf!).

Also stellte er sich vor, der klobige Schrank zu sein, schließlich reimt sich Schrank auch auf FranK, wie er manchmal unterschrieb und das kleine Z dabei zerquetschte. Und der Schrank-Frank weigerte sich, ihr sein Lieblingskleid, das Hypatia-Kleid, herauszugeben. Es würde sich sonst nur recht abnützen vom vielen Tragen, tagaus, tagein. Milena lachte sich die Tränen fort beim Lesen, und ihr wurde wieder leichter ums Herz. Wegen solcher Einfälle liebte sie ihn umso mehr. Beim wiederholten Lesen seiner Briefe gelang es ihr, erneut ganz mit ihm zu sein, und die Feinheiten zwischen den Zeilen wahrzunehmen, die sie außer dem Dilemma mit Julie enthielten. Am liebsten würde er sich nicht mit unnützen Dingen abgeben, sondern alle Zeit, die es gab, für sie verwenden, für das Denken an sie, das Atmen in ihr. Verwundert war Milena nur, als sie erfuhr, dass er anlässlich der Hochzeit seiner Schwester für zwei Wochen aus seinem Elternhaus ausquartiert wurde, um Verwandten Platz zu machen. Erst da begriff sie, dass er wieder bei seinen Eltern eingezogen war. Was bedeutete das für sie beide, würden sie sich eine eigene Wohnung suchen, um zusammenzuleben, oder sollte sie mit in sein Zimmer ziehen, um mit seinen Eltern unter einem Dach zu wohnen? Darüber hatten sie noch gar nicht gesprochen, bisher war sie davon ausgegangen, dass Kafka alleine lebte. Doch nichts von diesen Gedanken schrieb sie ihm. Zuerst wollte sie wissen, wie es ihm gesundheitlich ging, davon stand nichts in den vielen Briefen. Sie berichtete ihm, was bei ihr in den wenigen Tagen passiert war, seit sie sich getrennt hatten, von den Anfragen der Prager Zeitungen und dass Ernst von ihnen beiden wusste. Auch wenn sie die Folgen noch nicht einschätzen konnte, so war ihre Verbindung wenigstens kein Geheimnis mehr, ergänzte sie.