4. Kapitel

MYRTE

Vater stellte sich das so einfach vor. Pass, Visum und Fahrkarte kosteten bestimmt mehr als die hundert Kronen, abgesehen davon, dass Ernst nie seine Zustimmung dazu geben würde. Milena telegraphierte an Kafka. Sie musste ihn dringend sehen. Am besten, er käme noch mal nach Wien, um sich mit ihr zu beratschlagen. Gemeinsam fiele ihnen vielleicht etwas ein. Doch das war alles andere als leicht für ihn, wie er im Antwortbrief und einigen weiteren in den nächsten Tagen erklärte. Er konnte nicht mehr freinehmen oder sich krankmelden, sein Chef wäre ohnehin sehr großzügig gewesen, was seine monatelangen Kuraufenthalte in den letzten Jahren betraf. Auch um Urlaub bitten ging nicht. Noch dazu war die ganze Verwandtschaft wegen Ottlas Vermählung anwesend. Von der Trauung selbst schrieb er wenig, außer, dass er eine Myrte im Knopfloch getragen hatte. Milena fühlte sich wieder an die Zeit vor dem ersten Treffen erinnert, Kafka wirkte genauso unentschlossen, zugleich hatte er Sehnsucht nach ihr. Was für ein leichtes Leben wird es sein, wenn wir beisammen sind, beteuerte er einerseits, er werde niemals Angst um sie haben, und im nächsten Brief schwemmte ihn genau diese Angst weg. Umso mehr beharrte Milena auf einem Wiedersehen. Schließlich willigte Kafka ein. Es gäbe da diese Grenzstation. Eine kleine Stadt, die er von der Verzögerung bei seiner Rückreise zur Genüge kannte. Dort könnten sie sich am kommenden Sonntag für ein paar Stunden treffen. Es würde niemand Verdacht schöpfen, und sie hätten die Möglichkeit, das Wichtigste zu besprechen oder auch einfach nur beisammen zu sein. Und welch herrliche Aussicht, schrieb er, diese Vereinbarung könnten sie jede Woche haben. Das klang in der Tat verlockend, doch besser abwarten, dachte Milena, so wie sie Kafka kannte. Falls Ernst von ihrem Ausflug erfuhr, würde sie sagen, dass sie für einen Artikel auf dem Land recherchierte. Solange sie ohne Murren den Haushalt weiterführte, fragte er ohnehin nicht mehr nach, was sie tat. Dass sie sich inzwischen ganz um die Wäsche kümmerte und nicht mehr Frau Koller, bemerkte er erst, als sie eines seiner Hemden versengte, und er sich bei der Hauswirtin beschweren wollte. Da erzählte sie es ihm.

»Ach so? Na, das erklärt einiges. Aber kümmere dich nicht weiter darum, fortan übernehme ich das.« Er reagierte ungewohnt milde und rieb über den dreieckigen Brandfleck auf seinem Ärmel.

»Du willst plätten?« Milena konnte ihr Erstaunen nicht verbergen.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich das mache, ich finde jemanden, der das kann. Du hast Wichtigeres und scheinbar Einträglicheres zu tun mit deiner Schreiberei, du brauchst dich nicht mit meinen Hemden aufzuhalten.« Schreiberei, so nannte er das also. Aber immerhin duldete er endlich, dass auch sie einen Beruf ausübte, der genauso viel Zeit in Anspruch nahm wie seine Tätigkeiten.

Das Wiedersehen mit Franz verschob sich noch mal um eine weitere Woche. Milena plagten Kopfschmerzen, sie hatte das Gefühl, ihr platze der Schädel vor Anspannung. Es gab ein Hin und Her mit den Abfahrtszeiten, weil Kafka ausrechnete, wie sie trotz unterschiedlichen Eintreffens am meisten gemeinsame Stunden herausschlagen konnten. Und dann, kurz nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag, legten sie per Telegramm endlich einen genauen Zeitpunkt fest. Am vierzehnten August, einem Sonntag, sechs Wochen nach ihrem ersten Treffen, fuhr sie frühmorgens mit dem Zug nach Gmünd. Dicke, sich immer grauer färbende Wolken ballten sich vor der Sonne. Im Abteil war es trotz geöffneter Fenster drückend schwülwarm. Bald klebte ihr der Rock an den Beinen. Sie hatte den »armen Spielmann« von Grillparzer zum Lesen dabei, versuchte sich auf die Erzählung zu konzentrieren, aber das Geplapper der anderen Fahrgäste riss sie dauernd heraus. Erst schimpften die Leute über das Wetter, der Sommer sei viel zu heiß und trocken, dann die Wiener Regierung, wobei es aber mit der in Großbritannien nicht viel besser stand, die sich noch immer im Krieg mit Nordirland befand, wie ein Mann mit englischem Akzent erklärte. Man verstummte eine Weile, über den Krieg gab es offenbar nichts beizutragen, ob der vergangene im eigenen Land oder der herrschende woanders. Milena vertiefte sich wieder in ihr Buch. Der Herr gegenüber ergriff erneut das Wort und beschwerte sich über die Zugverspätungen, was ringsum reichlich und fast erleichtert über den Wechsel zu einem weniger tragischen Thema kommentiert wurde.

»Welche Gelegenheiten man versäumt, nicht auszumalen«, echauffierte sich ein Herr mit Fliege.

»Für mich war eine Verspätung der Schlüssel zum Glück«, meldete sich eine Dame mit sanfter Stimme zu Wort. »Dadurch habe ich den Mann fürs Leben gefunden.« Milena klappte das Buch zu und notierte sich das Gehörte. Somit hatte sie Ernst gar nicht angelogen, sie recherchierte wirklich. Allerdings hatte er sie gar nicht gefragt, was sie heute vorhatte, als sie das Haus verließ.

Mit nur sieben Minuten Verspätung traf sie schließlich in Gmünd ein. Kafka erwartete sie schon. Wie ein großer eleganter Rabe in Menschengewand stand er mit Hut, Aktentasche und Mantel über dem Arm auf dem Bahnsteig und hielt nach ihr Ausschau. Sie winkte ihm aus dem vorletzten Waggon, er entdeckte sie und setzte sich in Bewegung. Als sie voreinander standen, reichten sie sich die Hand wie zwei Fremde, die sich geschäftlich trafen. Sie verließen das Bahngelände über ein Abstellgleis und gingen auf einem Schotterweg zu einer Allee, bis sie sich unbeobachtet glaubten. Dann umarmte sie ihn und wollte ihn küssen. Er wich zurück, holte ein Taschentuch aus der Hose und hielt es sich vor den Mund.

»Co se děje?« Was ist los?, fragte sie ihn auf Tschechisch.

Er räusperte sich. »Ich will dich nicht anstecken.«

»Geht es dir schlechter?«

»Das nicht. Aber besser auch nicht.«

»Dann hätten wir uns niemals küssen dürfen, aber das haben wir schon.« Sie schob das Tuch beiseite und küsste ihn. Zart und kurz. Franz erwiderte den Kuss kaum, er wirkte magerer, als sie ihn in Erinnerung hatte, sie meinte jede Rippe durch seine Weste hindurch zu spüren. Seine Wangenknochen traten deutlicher hervor und seine Augen, die im Schatten unter der Hutkrempe lagen, wirkten riesig in seinem schmalen Gesicht. Am liebsten hätte sie ihn gar nicht mehr losgelassen, wollte ihn halten, beschützen, auf dass er wieder gesund würde. Doch er löste sich und trat einen Schritt zurück, als stellte er sie wie eine Puppe zur Seite, um sie besser betrachten zu können.

Müde lächelte er sie an und seine Miene hellte sich etwas auf. »Da bist du endlich, lebendig und wahrhaftig.«

»Lass uns essen gehen«, schlug sie vor, »oder willst du dich erst ausruhen? Wie lange musstest du warten? Es ist doch schon gleich Mittag. Wir könnten uns ein Zimmer nehmen und uns das Essen bringen lassen, wie wäre das?« Sie war voller Tatendrang, schließlich hatten sie wenig Zeit, noch dazu fing es zu regnen an. Dicke Tropfen fielen auf ihre staubigen Schuhspitzen und brachten sie zum Glänzen. Sie nahm seine Hände in ihre.

»Da ist eine Sache, Milena, die ich dir schon lange sagen wollte.«

»Dann sag es, dazu sind wir hier. Wie weit ist es bis in die Stadt, du kennst dich doch aus in Gmünd, hast du geschrieben.«

»Auskennen ist zu viel gesagt. Ich bin auch nur bis zur Passkontrolle und zur Zollrevision gelangt.« Er zeigte mit dem Kopf auf eines der großen Häuser gegenüber.

»Ein Speiselokal wird es hier bestimmt geben oder auch ein Hotel?«

»Ein Hotel für die paar Stunden? Meinst du, das ist eine gute Idee?«

»Warum nicht? Oder möchtest du nicht mit mir ungestört sein?«

»Doch schon, aber …«

»Nichts aber.« Sie unterbrach sein Zögern. Nicht schon wieder diese Tour, gleich zu Beginn. »Lass uns fahren, bevor es noch stärker regnet. Ich habe keine Wechselkleidung dabei.« Sie hatte nur ihre Umhängetasche mit Geld, Buch und Schreibzeug mitgenommen, trug die hüftlange Bluse mit dem grafischen Muster, die noch aus Prager Zeiten stammte, zu ihrem wadenlangen Plisseerock. »Komm.« Sie zog ihn zur Straße, wo die Kraftdroschken parkten. Auf Deutsch bat sie den Fahrer, der gerade das Dach vom Rücksitz nach vorne auffaltete, ob er sie zu einem Hotel bringen könnte. Kafka folgte ihr, schlüpfte in seinen Mantel, als es stärker zu regnen anfing, und hustete, bellte regelrecht, bevor er einsteigen konnte.

»Geht’s wieder?«, fragte sie, nachdem er sich endlich beruhigt hatte. Er blinzelte, presste sich wieder das Taschentuch vor den Mund, schlüpfte durch die Tür und setzte sich neben sie.

»Haben Sie sich verschluckt?«, fragte der Fahrer, ein älterer Herr mit einem Marionettenkinn.

»Sozusagen.« Kafka keuchte, sein Atem rasselte, kurz darauf übertönte das der Motorenlärm, als der Fahrer die Kraftdroschke anwarf.

»Sind Sie auch von drüben?«, fragte er, zeigte über die Bahnschienen in Richtung Grenze und lenkte den Wagen auf die Allee.

Milena und Kafka sahen sich an. Eigentlich wollten sie einem Wildfremdem keinerlei Auskunft geben. Der Fahrer wartete keine Antwort ab. »Ich dachte mir nur, weil Sie, Fräulein, mit tschechischem Akzent gesprochen haben.«

»Frau, bitte.« Darauf bestand Milena.

»Verzeihung, Gnädigste. Dann ist das glückliche Paar vielleicht hier, um Verwandte zu besuchen?« Jetzt nahm er an, dass sie verheiratet waren. »Wir haben zweihunderttausend Böhmen seit dem Ende des Krieges bei uns beherbergt. Bestimmt wollen Sie Ihren Landsleuten einen Besuch abstatten?«

»Nein, wir möchten nur einen Tag in der Sommerfrische verbringen, weiter nichts.« Kafka schluckte fast nach jedem Wort, seine Stimme war noch immer belegt.

»Oh, dafür haben Sie sich aber ein ungünstiges Wochenende für unser Städtchen ausgesucht. Wer weiß, ob der Regen heute noch aufhört.« Er nahm die Hand vom Lenkrad und fuchtelte ins Freie. Milenas linke Seite wurde nass, sie begann zu frösteln. Der Fahrer redete unbeirrt weiter. »Was sage ich, von wegen Städtchen, bald sind wir eine Stadt, die Böhmen scheinen hier im Waldviertel bleiben zu wollen. Verständlicherweise, so modern, wie es bei uns ist, wir haben Strom, Elektrizität und Telefon, und dies nahezu in jedem Haushalt.«

Kafka schlüpfte aus den Ärmeln und bot Milena den Mantel an. »Nimm ihn, sonst erkältest du dich noch.«

»Du brauchst ihn mehr«, sagte sie, doch er hatte ihn ihr schon umgelegt, schlug den Kragen hoch. Beide kauerten sie sich in der Mitte der Rückbank darunter, um dem hereinspritzenden Wasser durch die scheibenlosen Fenster zu entkommen. Der Fahrer war mit Lederjacke und Kappe regenresistent und pries weiter die Vorzüge seiner Heimat an. »Vergessen Sie nicht, sich unser Schloss anzuschauen, und auch im Malerwinkel lässt es sich wunderbar spazieren.« Abrupt bremste er nach wenigen Minuten, setzte sie im strömenden Regen vor einem Hoteleingang ab und verlangte seinen Lohn. »Im Stern verleihen sie bestimmt einen Schirm, die Schlossbesichtigung lohnt sich, denken Sie dran«, riet er ihnen noch, bevor er davonbrauste.