5. Kapitel

ROSE

»Ein Zimmer nur für gewisse Stunden gibt es bei uns nicht.« Der Portier rümpfte die Nase. »Wir sind ein seriöses Etablissement.«

»Dann bitte ein Zimmer für eine ganze Nacht«, sagte Kafka.

»Wir haben aber nur noch die Zwei, sonst ist alles ausgebucht.«

»Die Zwei ist perfekt für uns.«

»In Ordnung, mein Herr.« Er hakte den Schlüssel von der Wand. »Bad und Wasserklosett im Gang, Dusche ein Stockwerk tiefer, Frühstück ab sechs Uhr dreißig im Speisesaal, Hunde sind nicht erlaubt. Der Name?«

»Von unserem Hund?« Kafka war auf einmal zum Scherzen aufgelegt. Milena unterdrückte ein Grinsen.

»Haben Sie denn einen?« Der Portier riss die Augen auf, beugte sich über die Theke und blickte auf ihre Beine, als würden sie dahinter einen Malteser oder etwas in der Art verbergen.

»Möchten Sie wissen, ob wir einen Hund besitzen, oder ob wir einen Hund dabeihaben?«, fragte Kafka.

»Hunde sind nicht erlaubt«, wiederholte er. »Also wollen Sie jetzt das letzte Zimmer, das wir noch freihaben?«

»Gern.« Kafka nickte. »Ich bezahle im Voraus.«

Die Miene des Portiers hellte sich auf, als er die Scheine entgegennahm, dann drehte er das Gästebuch in ihre Richtung und bat ihn, die werte Gemahlin und sich hier einzutragen. Kurz tauschten Milena und Kafka einen verstohlenen Blick aus, dann schrieb er sie als Herr und Frau Kramer ein. Sie folgten ihm gleich hinter die Rezeption, wo die Diensträume lagen.

»Bestimmt müssen wir nun für dein vorlautes Mundwerk zur Strafe Teller waschen und dann vor dem Kamin übernachten«, flüsterte Milena.

»Ein Abenteuer wäre es«, erwiderte Kafka.

»Hier, bitte schön.« Der Portier sperrte eine Tür in einem dunklen Winkel auf, auf der eine verkratzte Ziffer Zwei wackelte. Fast geblendet traten sie ein. Mit den buntgemusterten Vorhängen, dem blaugrünen Teppich, den farblich passenden Tapeten und dem kleinen Kachelofen war das Zimmer alles andere als die Abstellkammer, die Milena erwartet hatte. Von hier hatte man sogar einen Blick in den Garten, in dem die Blumen dem Regen widerstanden. Sie dachte an die herrlichen Rosen, die Kafka ihr zum Geburtstag zukommen hatte lassen. Hellrote und dunkelrote, gelbe und weiße, ein dicker Strauß aus vierundzwanzig Stück. Ein Wiener Gärtnerbursche hatte bei ihr geklingelt und sie ihr überreicht. Und sie hatte sofort an Franz telegraphiert, um ihm mitzuteilen, welch große Freude er ihr gemacht hatte.

»Gelegentlich benutzen wir Bediensteten das Zimmer privat. Aber wenn wir ausgebucht sind, vermieten wir es. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Er überreichte Kafka den Schlüssel und zog die Tür hinter sich zu. Auch bei geschlossener Tür hörte man die Geräusche der Küche von nebenan, die Stimmen des Personals und der Gäste.

Milena ging sofort zum Fenster, um die stickige Luft zu vertreiben, die sich hier angestaut hatte, aber dann hielt sie inne.

»Mach ruhig auf.« Kafka schien ihre Gedanken zu erraten. »Kränker werde ich nicht mehr.« Er hängte seinen Mantel über einen Stuhl, setzte den Hut ab und fuhr sich durchs Haar.

»Aber dein starker Husten vorhin. So schlecht ging es dir letztes Mal noch nicht. Wie krank bist du denn? Sag es mir, ich will es genau wissen.«

»Keine Sorge, es geht schon wieder. Schenk uns erst mal frische Luft bitte, bevor wir ersticken.«

Der Regen prasselte sofort herein, Milena wedelte mehrmals mit den Fensterflügeln und schloss sie dann wieder, als sie glaubte, dass es reichte. Sie nahm sich ein Handtuch vom Waschtisch und trocknete sich die Haare ab. »Wenigstens sind wir nun für uns.« Kafka stand noch immer im Raum, als wüsste er nicht, wohin mit sich. Der einzige Stuhl war mit seiner Kleidung belegt, blieb nur das Bett. Milena setzte sich auf die Kante. »Komm her zu mir und erzähl mir alles.« Sie streckte die Arme aus, bis er ihre Hände ergriff, und zog ihn neben sich. »Fangen wir mit der Hochzeit deiner Schwester an, wie war sie?«

Er setzte sich neben sie, beide sanken sie in die weiche Matratze, ihre Füße schnellten hoch. Sie lachten und legten sich dann quer aufs Bett. »Es war schön«, sagte er und strich über Milenas Hand, an der sie noch immer ihren Ehering trug. »Ottla und Josef haben sich das Ja-Wort gegeben, anschließend fand eine kleine Feier statt. Suppe, Kuchen und ein Akkordeonspieler. Wider Erwarten benahmen sich alle gesittet, selbst mein Vater beherrschte sich und fing gegen Abend sogar an, die alten Lieder mitzusummen. Wir hatten geglaubt, er käme gar nicht, oder zumindest, dass er alle und jeden beschimpfen würde oder bei der kleinsten Unbequemlichkeit in Zorn ausbreche, aber er benahm sich friedlich.«

»Trotzdem sind das ja nicht gerade glückliche Umstände einer Hochzeit. Dabei soll es doch um das Brautpaar gehen und nicht um die Angehörigen. Wie hat es Ottla aufgefasst?«

»Sie ist stark, sie erinnert mich an dich, in ihrem Widerstand und ihrer Suche nach Freiheit. Ich hoffe, als Frau Davidová an der Seite von Josef bleibt ihr das Erreichte. Gerade sind sie in den Flitterwochen in Eisenstein. Habe ich dir erzählt, dass ich vor vier Jahren ein Häuschen in der Alchimistengasse nachmittags als Schreibwohnung nutzen durfte, das Ottla heimlich gemietet hatte? Sie war viel früher selbstständig als ich. Wo ich noch Abbitte bei meinem Vater leistete, hat sie sich längst abgelöst. Darum lasse ich mich oft an der Hand meiner neun Jahre jüngeren Schwester führen.«

Was täten die Männer ohne uns Frauen, dachte Milena und schmiegte ihr Gesicht an sein regennasses, wischte mit der Nase die Tropfen fort. Er hustete wieder, presste sein Taschentuch auf den Mund, bis es nachließ. »Besser, du kommst mir nicht so nahe.« Er wollte sich aufsetzen.

»Bleib«, sagte sie, »und sieh mich an«, und er blickte ihr in die Augen, schob das Tuch zurück in die Hose. »Küss mich.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ansteckend.«

»Ansteckender als vor sechs Wochen?«

»Wahrscheinlich nicht.« Endlich küsste er sie. Sie glaubte sich umhüllt von ihm, obwohl er sie kaum berührte. Was war nur los? Hatte ihm die Lungenschwäche alle Lust genommen? »Was ist mit dir? Was hat der Arzt gesagt?«

»Das habe ich dir auch schon geschrieben, keine Besserung, aber auch keine Verschlimmerung. Meine Lunge hält sich wacker, nur bei einem Wetterumschwung meldet sie sich zu Wort, das bin ich gewohnt.« Er rieb sich die Kehle und räusperte sich.

»Du fühlst dich heiß an.« Seine Haut glühte.

»Du auch.«

»Ich meine es ernst, hast du Fieber?«

»Wer hätte das nicht, so nah bei dir?«

»Dann lass mich die Krankheit vertreiben.« Sie half ihm aus den Schuhen. »Willst du deine Weste nicht ablegen?« Er tat es, knöpfte sie auf. »Und die Hose, sie soll doch nicht zerknittern?«

»Du hast recht«, sagte er. »Aber schone du deine Bluse bitte auch und den schönen Rock, es wäre schade darum.« So zogen sie sich nach und nach aus, schlüpften in der Unterkleidung schnell ins Bett, rollten in der Mitte des viel zu weichen Gestells aufeinander, umhüllt von Kissen und Decke. Milena lauschte seinem Atem, dem Regen und den Geräuschen des Hotels. Doch Kafka tat nichts weiter.

»Wir könnten miteinander fortgehen, weit weg«, sagte sie. »Wir könnten auswandern, nach Frankreich oder England, notfalls auch nach Amerika, da kennst du dich doch aus.« Sie spielte auf seine Erzählung »Der Heizer« an. »Lass uns beide irgendwo ganz neu anfangen.«

»Das geht nicht, meine Liebe.« Er strich ihr die Locke aus der Stirn.

»Aber hast du nicht neulich vom Auswandern gesprochen?« Nach Palästina wollte sie nicht, das war ihr zu weit und zu fremd. Aber ein Land, dessen Sprache sie schon beherrschte, deren Dichter sie liebte, mit dem könnte sie sich anfreunden.

»Das hat sich zerschlagen. Ich bleibe hier. Und du, was ist mit Ernst? Wird er dir nicht fehlen?«

»Niemals. Du bist der, der mir fehlt, jeden Tag, jede Minute, in der wir uns nicht sehen. Ich will bei dir sein, ohne Unterbrechung und ohne Ende.«

»Auch im Traum?« Er drehte sich zu ihr, sah ihr in die Augen.

Erneut versank sie darin. »Gerade im Traum.«

»Und was, wenn ich sterbe?«

War es das, was er ihr sagen wollte? Dass ihn Todesangst plagte? »Dann will ich auch bei dir sein«, sagte sie dann. »Wenn ich mein Gesicht in dir verberge und du deines in mir, dann wird uns niemand mehr sehen, auch der Tod nicht. Wir werden ihm ein Schnippchen schlagen.« Sie dachte an Maminka, und wie sie gestorben war. Milena war erst dreizehn gewesen und hatte nicht gewollt, dass der Arzt ihre todkranke Mutter wieder aus dem Dämmerschlaf zurückholte, der sie endlich erlöste. »Du brauchst keine Angst zu haben. Sterben ist nichts anderes, als in einen langen Traum einzutauchen, aus dem man nie mehr erwacht.«

»Eine schöne Vorstellung. Und auch, dass wir unsere Gesichter ineinander verbergen, warte, das muss ich festhalten.« Er stand auf, holte ein kleines Heft aus seiner Aktentasche, setzte sich wieder neben sie und machte sich Notizen. Nun sah sie zum ersten Mal, wie diese steilen Buchstaben aus seiner Bleistifthand schlüpften und sich auf dem Papier ausbreiteten. Die großen Unterlängen, die er beim kleinen G oder F machte, die langen Linien, mit denen er das kleine T durchstrich. Nur sechsundzwanzig Buchstaben, die unendlich viel ausdrücken konnten und die sie in so vielen Briefen miteinander geteilt hatten.

Er blickte von seinem Eintrag auf. »Aber was, wenn einer aus diesem Todestraum aufwacht und zurückkehrt und allen erzählt, wie es dort drüben war, oder oben oder wo auch immer er gewesen ist? Wird man ihm glauben?«

»Das ist dir das Wichtigste, dass man dir glaubt?«

Er nickte. »Dir doch auch, oder nicht?«

»Doch, sogar sehr. Die Wahrheit, egal wie bunt sie auch ausfällt, ist mir sehr wichtig. Genauso wie Gerechtigkeit. Aber zurück zu deiner Frage, damit du das zu Ende schreiben kannst. Es wird keiner umkehren, um darüber zu berichten.«

»Und warum nicht? Kann es nicht diesen einen Zweifler oder diesen einen am Leben hängenden geben oder diesen einen Wahrheitsverkünder, der sich noch mal zu uns bemüht, um uns von der anderen Seite zu berichten?«

»Ein Schriftsteller meinst du?«

»Eher eine Journalistin.« Er grinste sie an.

»Nein«, sagte sie bestimmt. »Denn dieser letzte lange Traum ist wunschlos, man treibt dahin, von Erlebnis zu Erlebnis, wie in deiner Geschichte vom Landarzt, aber man fordert selbst nichts mehr, löst sich ohne Verlangen im Licht auf und ist nicht mehr.«

»Das klingt, als hättest du das Sterben schon erlebt?«

»Ich war nahe dran.« Milena dachte an ihren toten Sohn, wie er ihr entrissen wurde, und dass sie dabei auch fast gestorben wäre. Kafka legte das Schreibzeug weg, drehte sich zu ihr, umschlang sie und bedeckte ihren Hals und ihre Brust mit Küssen, streifte ihr das Unterkleid ab und zog sich selbst auch aus. Sie liebten sich, sachte und rau, wild und lange, waren endlich eins. Auch wenn Kafka viele Male innehielt, so als wollte er einen Rückzieher machen, streichelte er sie weiter. Erschöpft und glücklich lagen sie schließlich beisammen, die Beine noch ineinander verschlungen. »Das war nicht dein erstes Mal, oder?«, fragte sie. »Oder kannst du das von selbst, so wie du schreiben kannst?«

Er lachte. »Du meinst, ich habe es mir in der Phantasie ausgemalt und nun an dir ausprobiert? Nein, ich bin geübt, wenn auch nicht an dir. Ich hoffe, ich enttäusche dich nicht.« Weiter sprachen sie nicht darüber, aber Milena war froh, dass auch das geklärt war.

»Und jetzt essen wir was«, schlug sie vor. »Bevor die Küche schließt. Und danach schauen wir uns dieses verflixte Schloss an, das der Fahrer so angepriesen hat, und dann legen wir uns wieder ins Bett oder auf eine Wiese und überlegen, wie es mit uns weitergeht.« Und das taten sie, auch wenn Kafka kaum etwas zu sich nahm und viele Male vom Husten unterbrochen wurde. Nachmittags, als der Regen etwas nachließ, schlenderten sie mit einem geliehenen Schirm am Bach entlang, der durch das Städtchen lief, bis zu riesigen übereinandergestapelten Felsen und den vielarmigen Stromschnellen. Als es wieder heftiger zu regnen anfing, suchten sie nach dem Schloss, fanden es aber nicht, selbst als sie sich auf dem Postamt nach dem Weg erkundigten. Dafür schrieben sie Ottla diesmal gemeinsam eine Ansichtskarte und warfen sie ein. »Vielleicht existiert dieses Schloss gar nicht«, sagte Kafka, als sie sich draußen noch mal umschauten. Es regnete wieder, dichte Schleier fielen hernieder und erschwerten die Sicht.

»Oder wir sind schon mittendrin«, sagte Milena. »Der Ort und seine Bewohner bilden das Schloss.«

»So wird es sein.« Kafka nickte. »Ein Haus aus lauter Häusern, aber wir bleiben außen vor, weil wir Fremde sind, nur Besucher, die den Zugang nicht finden.« Er wirkte so, als befände er sich schon mitten in einem Einfall zu einer neuen Geschichte. Sie fabulierten noch eine Weile, und Milena beließ es dabei, denn sobald sie versuchte, zu den Plänen über ihre gemeinsame Zukunft zu lenken, wich Kafka aus. Er war ein Mann des Augenblicks, das erkannte sie jetzt. Für ihn gab es kein Morgen. Also liebte sie ihn im Heute und dennoch fühlte sie sich mit jeder Berührung dem Abschied näher.