6. Kapitel

GÄNSEBLÜMCHEN

Obgleich noch so viel Unausgesprochenes in ihren Blicken und Gesten lag, trennten sie sich ohne Versprechen und redeten nicht über ein Wiedersehen. Eine Weile schrieben sie sich noch, dann hörten auch die Briefe auf. Sie würden niemals zusammenleben, keine gemeinsame Wohnung haben, nicht mehr Körper an Körper sein, das zeichnete sich mit jedem Tag ab, der brieflos blieb. Ihre Forderungen seien zu quälend für Kafka, hatte er ihr zuletzt mitgeteilt. Sollte es nicht gut sein, dass wir einander zu schreiben jetzt aufhören, müsste ich mich entsetzlich irren. Ich irre mich aber nicht, Milena. Das was Du mir bist Milena mir hinter aller Welt bist in der wir leben, das steht auf den täglichen Fetzen Papier, die ich Dir geschrieben habe, nicht. Diese Briefe, so wie sie sind, helfen zu nichts, als zu quälen und quälen sie nicht, ist es noch schlimmer.

Tagelang schleppte sie diesen Schmerz mit sich herum, dann beschloss sie, seine Bitte zu ignorieren, und schrieb ihm weiter. Eine Zeitlang ging es gut. Er antwortete noch, mit immer größeren Abständen dazwischen. Lange lief Milena täglich zum Postamt, sie konnte es sich nicht abgewöhnen. Der Beamte schüttelte schon von Weitem den Kopf, wenn er sie zum Schalter kommen sah. Kurz nach Weihnachten traf doch noch ein Brief ein. Kafka befand sich in Kur und forderte sie noch mal eindrücklich auf, ihm nicht mehr zu schreiben.

Nicht schreiben und verhindern, dass wir zusammenkommen, nur diese Bitte erfülle mir im Stillen, sie allein kann mir irgendein Weiterleben ermöglichen, alles andere zerstört weiter. Obwohl sie damit gerechnet hatte, traf sie diese endgültige Entscheidung tief in ihrem Inneren. Durch ihn war sie sich ihrer Stärke bewusst geworden, durch ihn hatte sie wieder zu sich selbst gefunden. Und vor allem hatte sie zu schreiben angefangen. Vor Kafka war sie viele Umwege gegangen, hatte sich fast verloren, bei der Abtreibung und in der Irrenanstalt und schließlich auch in ihrer Ehe. Kafka hatte sie sehen gelehrt, so wie er es von seinem blinden Freund gelernt hatte. Mithilfe seiner Geschichten, durch seine Augen hatte sie ihre Wahrnehmung geschärft. Als Briefschreiber waren sie sich auf gleicher Ebene begegnet, im wirklichen Leben fehlte ihnen die Gelassenheit füreinander. Franz war kleinlich, wo sie großzügig war, verschlossen, wo es ihr um Direktheit ging. Trotzdem hätte es klappen können. Ein Schriftstellerpaar, das sich gerade durch seine Gegensätze unterstützte und inspirierte. Auch wenn er glaubte, dass sie sich zwischen ihm oder Ernst endlich entscheiden müsste, so verkannte er, dass sie längst ohne Mann auskam. Und falls sie Lust auf einen hätte, würde sie ihn sich nehmen. Warum sollten Frauen das nicht auch dürfen? Sie hatte genug von Rettern, ob aus Prag oder Wien oder anderswo, die ihre Hilfe an Bedingungen knüpften. Und sie beschloss, sich auch nie mehr für einen Mann schön zu machen; wenn sie sich ein neues Kleid gönnte, dann für sich selbst. Und genau das würde sie auch in ihren Modebeiträgen schreiben. Erst hatte sie überlegt, ob sie Frau Kollers Verlobten bitten sollte, ihr ein Visum und einen gültigen Pass zu besorgen, oder die Unterschrift ihres Mannes zu fälschen. Doch dann ging sie lieber den aufrechten Weg. Am nächsten Morgen saß Ernst beim Frühstück und schrieb ganz vertieft, anstatt Zeitung zu lesen. Hatte er endlich den Zugang zum ersten Roman gefunden?

»Wie findest du das?« Er drehte ihr den Block zu, als sie sich zu ihm setzte, und sie erkannte, dass er nichts weiter als seine eigene Unterschrift Zeile für Zeile ausprobiert hatte.

Sollte sie ihn wie eine Lehrerin für die Schönschrift loben oder was erwartete er von ihr? Doch dann fiel ihr der Schreibfehler auf. »Schreibst du Polak jetzt nur noch mit einem L?«

»Pollak ist ein beliebiger Name, wie im Deutschen Wagner, Schuster oder Müller. Davon gibt es zu viele. Ich dachte mir, Polak mit einem L klingt elitärer. Fast so wie Gidé oder Claudel.« Er hing also immer noch an den Franzosen.

»Spricht man das dann auch anders aus? Poo-la-g?« Sie spitzte die Lippen und brachte ihn zum Lächeln. »Weil du gerade dabei bist, deine Unterschrift zu üben, ich brauche deine Vollmacht.« Sie holte das vorbereitete Blatt, das sie schon lange getippt hatte.

»Und wozu?«

»Gib sie mir einfach. Und wenn du unsicher bist, kannst du auch gerne noch mal meinen Vater anrufen und ihn um Rat fragen.« Das tat seine Wirkung.

Ihr Mann starrte sie an, er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie jemals wieder mit ihrem Vater sprach, nach allem, was er ihr angetan hatte. »Was hast du vor? Ziehst du zu diesem Versicherungsmenschen?« Er nannte Kafka nicht einmal mehr beim Namen, und er war für ihn scheinbar auch kein Schriftsteller mehr.

»Was ich mache, geht dich nichts mehr an. Du wirst es kaum merken, dass ich fort bin, musst nur jemanden finden, der die Wohnung sauber hält, aber Mitzis und Sissis gibt es genug in Wien, oder wie heißt deine Neue? Vorausgesetzt, sie ist sich nicht zu fein zum Schuheputzen oder im Dampf der Waschküche zu stehen.«

»Kommst du zurück?« Einen Moment verunsicherte er sie mit seinem flehenden Blick. Diese schweren Augenlider, die sie bei ihrer ersten Begegnung im Theater in ihren Bann gezogen hatten.

Doch nun widerstand sie ihnen, redete einfach weiter, das half, auch wenn das alte Gefühl für ihn trotz allem einen Moment aufgeflackert war. »Für die Pflanzen finde ich einen Platz. Meine Möbel überlasse ich dir, du kannst sie schwarz streichen und aus meinem Zimmer ein Studierzimmer machen, falls das mit der Matura noch gilt. Nur eine große Bitte habe ich, kannst du dich eine Zeitlang um Fjodor kümmern? So schnell wie möglich hole ich ihn nach. Sei doch so nett, die Kosten für sein Futter bezahle mit dem hier.« Sie zog den Ehering ab und legte ihn auf seinen Teller.

»Du bist eine Jesenský durch und durch.« Aus seinen kleinen Pupillen funkelte er sie an. »Auf was habe ich mich da bloß eingelassen?«

»Auf eine Jesenská!«, sagte sie mit Stolz in der Stimme, als hätte ihr Kafka Mut zugesprochen. »Und jetzt unterschreib.«

Durch seine Vollmacht bekam sie alle Papiere, die sie zum Reisen brauchte. Ihre Pflanzen schenkte sie Frau Koller und auch dem Schuhmacher Hirsch brachte sie ein paar für sein Kellerfenster zur Auflockerung. Erst fuhr sie eine Zeitlang nach Dresden und besuchte Alice, die sich in ihrem Verlag und überhaupt in ihrer Arbeit besonders für die Rechte der Kinder einsetzte. Danach glaubte sie sich genügend gewappnet, ihrer Heimat wieder zu begegnen, und wagte sich nach Prag. Das Gefühl, als sie am Bahnhof ankam, die ersten Schritte auf dem Pflaster waren unbeschreiblich. Jeglicher Zweifel fiel von Milena ab. Sie war wieder zu Hause, dachte sie, mit Heimaterde unter ihren Füßen und die vertrauten Ecken, Gassen und Stadtviertel vor Augen. Sie besuchte Staša, wo sie zu ihrer großen Überraschung auch Jarmila traf, die sich von Willy Haas getrennt hatte und wie Milena nach Prag zurückkehren wollte. Nachdem sie sich stundenlang alles Mögliche erzählt hatten, rauschten ihre Ohren. Und doch gäbe es noch so viel mehr zu sagen. Dank Stašas Kinderfrau, die sich um die Zwillinge kümmerte, zogen sie endlich wieder vereint durch die Dancings, wie die vielen neueröffneten Nachtlokale hießen, tanzten bis zum Morgengrauen oder besser, swingten nach den neuen Melodien aus Amerika. An einem Nachmittag fuhren sie auf den Laurenziberg, wo es unterhalb des kleinen Eiffelturms Petřín einen Kinderspielplatz gab, damit sich Klein-Staša und Olga nicht langweilten, während sie sich weitererzählten, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen war. Von Staša wusste Milena das meiste, da ihr Kontakt nie abgebrochen war, aber auch Jarmila taute nach und nach auf. Glück und Trauer hatten sich bei ihr ebenfalls abgewechselt und spiegelten sich in ihrem markanten Gesicht wider. Sie war immer noch diese dunkle Schönheit, doch nun enthielt ihre geheimnisvolle Art echte Lebenserfahrung. Josef Reiner, jener Dichter, der sie einst umschwärmte, hatte sich umgebracht, als er erfuhr, dass sich Jarmila mit Willy Haas verlobt hatte, das wusste Milena bereits aus Kafkas Briefen. Franz hatte sogleich einen Bezug zu ihrem Verhältnis hergestellt, glaubte, auch Ernst Pollak würde sich etwas antun, wenn sie und er zusammenkämen. Doch diese Gefahr bestand nie. Milena fasste die Angelegenheit nicht so tragisch auf und brachte es auch wenig mit Jarmila in Zusammenhang. Gründe für einen Selbstmord waren vielschichtiger, schrieb sie Kafka zurück, es musste nicht nur Eifersucht gewesen sein. Zu dieser Zeit lebte Jarmila schon in Berlin und gab Milena keine Gelegenheit, ihr beizustehen, oder sie überhaupt zu fragen, was in ihr vorging.

»Ich habe einfach nicht die Kraft gefunden, dir alles in einem Brief zu erklären«, sagte Jarmila. »Ich dachte, du bist so glücklich mit deinem Ernst, da wollte ich dir mit meinen Sorgen nicht hineinfunken.«

»Etwas Ähnliches habe ich von dir gedacht«, erwiderte Milena.

Staša verdrehte die Augen. »Leute, ihr müsst miteinander reden, vom Denken allein passiert nichts.« Sie hob Klein-Staša, die zwölf Minuten vor ihrer Zwillingsschwester auf die Welt gekommen war, auf die Schaukel und schubste sie an. Milena saß bei Olga im Sandkasten und spielte Bäckerei mit ihr. Mithilfe einer Blechtasse formten sie kleine Kuchen und stellten sie auf der Umrandung wie auf einer Theke aus.

»Aber vom Reden allein geschieht auch nichts«, sagte Milena. Ihr fiel es schwer, der jüngeren Staša, die auf einmal mit Mann, Kindern und Beruf so viel älter und reifer wirkte, recht zu geben. Besonders die Lücke, neben dem Schneidezahn, die durch die Schwangerschaft aufgrund einer Zahnfleischentzündung entstanden war, verlieh ihr etwas Verwegenes.

»Stimmt, dann lasst uns anfangen.« Staša holte eine Mappe mit ihren Notizen aus dem Kinderwagen und setzte sich auf die zweite Schaukel. »Der Chef der Nationalzeitung wartet auf unsere Vorschläge für die Frauenseite. Wir könnten sie ganz neu gestalten und auch die Kinderseiten übernehmen.«

»Was ist mit der Politik und der Nachrichtenseite?« Jarmila lag in Männerhosen mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Wiese und rauchte.

»Fangen wir erst mal hinten an, krempeln dort alles um, preschen dann nach vorne und übernehmen die Schlagzeilen.« Sie lachten.

»Ein grandioser Plan. Die Revolution der Frauen. Stellt euch das Mal konkret vor. Eines Tages verfassen wir Frauen wie selbstverständlich und gleichberechtigt Reportagen für den Titel«, sagte Jarmila.

»Das wird, wenn überhaupt, nur unter Pseudonym gehen, welcher Mann nimmt uns ernst, wenn wir über Politik schreiben?«, erwiderte Milena.

»Also befassen wir uns vorerst lieber mit der Chance, die wir gerade kriegen«, ergänzte Staša. »Habt ihr Vorschläge, wen wir noch dazuholen könnten? Wenn wir pünktlich liefern wollen, brauchen wir Verstärkung.«

»Ich kann Alice fragen, sie wäre perfekt für die Kinderseite. Und dann die anderen ›Minervistinnen‹ natürlich«, schlug Milena vor. Sie pflückte ein paar Gänseblümchen und verzierte die Sandkuchen.

»Gute Idee, aber die meisten leben im Ausland«, sagte Staša. »Hana in London und Sonja in Madrid.«

»Post und Telefon funktionieren ja wieder«, erwiderte Milena. »Uns hast du doch auch erreicht, und schwupp, waren wir hier.«

»Schwupp«, rief Klein-Staša von der Schaukel und jauchzte mit ausgestreckten Beinchen in den Himmel.

»Schwupp«, wiederholte Olga und stülpte noch einen Kuchen aus ihrem Förmchen.

»Schwupp, schwupp, schwupp«, riefen alle fünf. Sie waren sich einig. Nur Olga fing plötzlich zu weinen an, die Kleine wollte einfach nicht verstehen, warum sie diese perfekten Sandkuchen nicht in echt essen durfte und bloß so tun sollte, als ob.

Ein paar Monate später hatte sich Milena in Prag eingerichtet und beendete das Pendeln nach Wien und zurück. Oft dachte sie an Kafka und fragte sich, ob sie ihn aufsuchen sollte, aber dann wagte sie es nicht, wollte erst sehen, wie sie selbst zurechtkam. Das Angebot, bei ihrem Vater zu wohnen, lehnte sie ab. Auch wenn sie sich wieder freundlich begegneten, so fehlte das Vertrauen zu ihm. Außerdem wollte sie ihre neugewonnene Unabhängigkeit nicht mehr aufgeben. Sie mietete sich ein Zimmer im Erdgeschoss in der Zborovská Straße an der Moldau und holte endlich Fjodor zu sich. Dem Kater widerstrebte es, für den Umzug in ein Körbchen gepfercht zu werden. Er spreizte sich mit sämtlichen Krallen dagegen. Ernst bot an, ihn zu behalten, die Strapazen wären viel zu groß. Doch Milena wollte das einzig Wunderbare nicht in Wien zurücklassen, zog sich Handschuhe an, band Fjodor eine Leine um Bauch und Hals, damit sie ihn während der Zugfahrt herausnehmen konnte. Der Kater knurrte und fauchte weiterhin, sobald jemand dem Korb zu nahekam. Kaum ließ sie ihn nach der langen Reise auf der Flussseite der Wohnung hinaus, stob er über die Mauer davon. Sie glaubte schon, ihn nie wieder zu sehen, suchte und lockte ihn auf Deutsch und auf Tschechisch und bereute es tausendmal, ihn verpflanzt zu haben. Eines Morgens lag ein Stück toter Fisch auf dem Fußabstreifer wie ein Geschenk, und am Abend, als Milena am Schreibtisch saß und in Gedanken aufs Wasser starrte, sprang der Kater aufs Fenstersims. Abgemagert, strubbelig und den Kragen voller Zecken, aber unverletzt, miaute er sie an. Er war angekommen, genauso wie sie.

Ernst Polak, der fortan wirklich ein L aus seinem Nachnamen strich, hatte offenbar auch genug von Österreich. Wieder tauschte er sein Wiener Kaffeehaus gegen die Pariser Cafés am Montparnasse und leitete endlich die Scheidung in die Wege. Milena nahm es erleichtert zur Kenntnis und stürzte sich in Arbeit, als wollte sie die verlorene Zeit nachholen. Mittlerweile leitete sie einen ganzen Mitarbeiterinnenstab. Zusammen mit Journalistinnen, Übersetzerinnen und einem Zeichner belieferte sie aus einem Bureau auf der Prager Kleinseite mehrere Zeitungen und Zeitschriften mit ihren Artikeln. Sie führte endlich das Leben, das sie sich erträumt hatte. Auch wenn ihr Kafka fehlte. Schon absurd, dass sie sich räumlich nun näher waren als jemals sonst, sich aber trotzdem aus dem Weg gingen. »Auch wenn wir vordergründig über Hüte, Schuhe und den neuesten Wintermantel schreiben«, schloss sie eines Montagmorgens nach langen Beratungen die Redaktionsbesprechung, »so vergesst den Menschen nicht, besser gesagt, die Frau, die das Kleidungsstück anziehen soll. Was sie trägt, verrät, wie es ihr geht, wie sie ihr Leben gestaltet, was sie erlebt hat und wie sie zu der wurde, die sie ist. Leute machen Kleider, nicht umgekehrt wie in dem Spruch. Zeigt die Persönlichkeiten dahinter. Das heißt nicht, dass das Äußere unwichtig wäre, schließlich ist unser Schwerpunkt die Mode, und dafür bezahlt man uns.« Die Frauen lachten und auch Brunner, der Zeichner, sah von seinem Zeichenbrett auf. Eine Zigarette im Mundwinkel, hatte er Staša mit herabhängenden Haaren über ihre Notizen gebeugt skizziert und Milena als herumfuchtelnde Chefin mit Strubbelkopf festgehalten. »Das Äußere ist ein Spiegel des Inneren. Wir wollen unsere Leserinnen bei ihrer Selbstfindung unterstützen, wenn sie ihre Persönlichkeit mit besonderer Kleidung hervorheben. Freiheit ist Eleganz, meine Damen und werter Herr. Also legt los.« Milena schlug ihren Notizstapel zusammen und ringsum klopften alle auf die Tische im Takt des »Minerva«-Applauses. Eins-zwei, eins-zwei-eins.

Als die Sitzung beendet und alle aus dem Gemeinschaftsraum gegangen waren, stellte sich Milena ans Fenster und blickte über die Stadt. Ein Schwarm Tauben flog über die Dächer. Hier gab es sie wieder, dachte sie und rieb sich das Kreuz. Seit ein paar Tagen schlief sie schlecht, wälzte sich die halbe Nacht im Bett, bis sie dann doch aufstand, um zu schreiben und ihr Pensum zu erledigen. Tagsüber bewegte sie sich kaum noch, abgesehen von dem Stück Weg mit dem Fahrrad zwischen Redaktion und Wohnung. Zum Tanzen war sie zurzeit zu müde und sonst machte sie nichts, obwohl Staša sie ständig einlud, mit ihr und den Zwillingen etwas zu unternehmen. Es war ein herrlich warmer Maitag, überall blühten die Obstbäume und die Parks leuchteten grün. Sie sollte sich einfach den Nachmittag freinehmen, doch dann dachte sie an den Berg unbewältigter Papiere und beschloss, besser hierzubleiben. Gleich musste sie mit Brunner die Illustrationen besprechen und die Fahnen ihres ersten Buches durchgehen und später die Beiträge der anderen durchlesen und absegnen, bevor sie sie weiterschickte. Erneut streckte sie sich, dehnte den Rücken und gähnte. »Können Sie mir bitte noch mal Kaffee machen?«, fragte sie Ada, die Vorzimmerdame, die das Geschirr abräumte. Die wöchentlichen Sitzungen begannen sie immer mit einem gemeinsamen Frühstück.

»Sofort, Frau Jesenská. Draußen wartet jemand auf Sie, seit einer Stunde schon.« Adas zusammengewachsene dunkle Augenbrauen sahen stets aus, als trüge sie einen Vogel mit weit ausgebreiteten Schwingen auf der Stirn.

»Warum sagen Sie das erst jetzt?«

»Ich wollte die Sitzung nicht stören.«

»Wer ist es denn?«

»Eine Frau Davidová.«