7. Kapitel

GLÜCKSFEDER

Milena musste einen Moment überlegen, woher sie den Nachnamen kannte, dann fiel es ihr ein. Unzählige Male hatte sie sich in den vergangenen vier Jahren vorgenommen zu Kafkas Elternhaus am Altstädter Ring zu gehen und einfach zu läuten und sich bei seiner Familie vorzustellen, es aber dann doch gelassen. Wie sollten Franz und sie sich wiederbegegnen nach so langem Schweigen? Und wenn sie nicht ihn, sondern seine Eltern antraf, was sollte sie dann sagen? Dass sie eine Geliebte ihres Sohnes sei, eine ehemalige? Sie ging nach draußen und begrüßte ihren Gast. An der Gesichtsform, der langen schmalen Nase, aber vor allem an ihren Rabenaugen erkannte sie sofort die Ähnlichkeit. Es war Ottla, und sie war so schön wie ihr Bruder.

»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten«, sagte sie auf Deutsch. Ottla Davidová hatte einen vollbepackten Kinderwagen dabei, sie musste vorher noch Einkäufe erledigt haben. Ein schlafendes Kleinkind lag darin, mit weißer Mütze und Strickjacke, die speckigen Fäustchen neben den rosigen Wangen. »Ist das Ihres?«

Ottla lächelte genauso wie ihr Bruder, leicht verschämt, als wäre Lachen nicht überall erlaubt. »Das ist Helene, sie ist zehn Wochen alt.«

»Herzlichen Glückwunsch. Ihr erstes Kind?«

»Nein, Helene hat noch eine ältere Schwester, Verá, sie ist zwei. Ich habe sie bei unserer Mutter gelassen. Ihr gelingt das Bravsein nicht mehr so leicht wie Helene.«

»Kommen Sie, gehen wir in mein Bureau.« Dort räumte Milena als Erstes die große Pflanze zur Seite, damit der Kinderwagen Platz hatte. Die Glücksfeder hatten ihr die Kolleginnen zu Weihnachten geschenkt. Seither streckte sie sich mit ihren hellgrünen Blättern nach allen Seiten aus und nahm bald das ganze Zimmer in Beschlag, wenn sie so weiter gedieh. Aber Glück konnte man nie genug haben, dachte Milena und bot ihrem Gast einen Stuhl an.

»Sie können ruhig Tschechisch mit mir sprechen, Frau Jesenská.« Bevor sich Ottla setzte, zupfte sie ihre Bluse über der Brust zurecht, auf der sich nasse Flecken gebildet hatten, sie stillte offenbar selbst. »Mein Mann mag das Vermischen der Sprachen nicht, aber ich bin in der geteilten Stadt aufgewachsen und in meiner Familie sprechen wir beides, oft ohne dass wir es merken. Aber das wissen Sie ja vermutlich.« Ada brachte ein Tablett mit Kaffee, stellte es auf dem Schreibtisch ab und ging wieder.

»Gewusst nicht, nur vermutet.« Milena wechselte in ihre Muttersprache. »Möchten Sie eine Tasse?«

»Das riecht wie echter Bohnenkaffee?« Ottla sprach weiter Deutsch.

»Ist es auch.« Sie unterhielten sich nach Kafka-Milena-Art auf Tschechisch-Deutsch.

»Dann sehr gerne, solange Helene noch schläft. Echter Kaffee ist ja immer noch schwer zu kriegen.«

»Wir bekommen ihn aus einer Rösterei in Letná.« Dafür schalteten sie kostenlos Anzeigen, ergänzte sie für sich. Sie schenkte Ottla ein, reichte ihr die Tasse zusammen mit dem Milchkännchen und dem Zucker und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. »Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen«, sagte sie und merkte, wie förmlich das klang, auch wenn es stimmte. Sie schob den Papierstapel auseinander, damit sie ihre Besucherin besser sehen konnte.

»Ich freue mich genauso. Mmh, der ist gut.« Ottla genoss den Kaffee. Dann stellte sie die Tasse weg und atmete auf. »Danke für die Postkartengrüße aus Gmünd, das ist zwar lange her, aber seither lese ich alle Ihre Artikel, unter all Ihren Namen oder die, die ich ausfindig machen kann. Franz hat mir verraten, dass Sie sich auch hinter A. X. Nessey verbergen.«

»Wie geht es Ihrem Bruder?« Sie merkte, wie sich ihr Puls beschleunigte, schnell trank sie ebenfalls einen Schluck, gespannt auf die Antwort.

»Hervorragend. Er ist in Berlin, in der Nähe des Botanischen Gartens.«

»Macht er Urlaub?«

»Nein, er wohnt dort, so wie es aussieht, sogar für länger.«

»Ach, wirklich? Gibt es in Berlin auch eine Arbeiter- und Unfallversicherung?«

»Er ist in Frühpension gegangen und möchte nur noch schreiben.«

»Dann hat sich ja sein Traum erfüllt.« Zu erfahren, dass er ohne sie Prag verlassen hatte, es ihr nicht mitgeteilt hatte, versetzte ihr einen Stich. War sie hier, war er dort, dachte Milena, war sie dort, war er fort. Wie oft hatte sie ihn überall in der Stadt vermutet, sich mit klopfendem Herzen eine zufällige Wiederbegegnung vorgestellt? Dabei lebte er gar nicht mehr in seiner Heimat.

»Franz ist sehr produktiv, er arbeitet an neuen Erzählungen, und er hat auch einen Roman angefangen«, erzählte Ottla. »Berlin ist zwar kostspielig, schreibt er, aber …, ich hoffe, es schmerzt Sie nicht, wenn ich das sage«, sie zögerte, »er wohnt dort nicht allein.«

Darauf wusste Milena nichts zu erwidern. Er hatte also doch noch die Frau fürs Leben gefunden. Eine, die ihm geben konnte, was er bei ihr vermisste. Was immer das auch war. Vielleicht eine mit mehr Geduld und weniger fordernd. »Und seine Krankheit?« Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es in ihr rumorte.

»Hält sich in Grenzen, Franz ist immer noch viel zu dünn, aber das wird sich wohl auch nicht ändern, es will einfach nichts an meinen Bruder hinwachsen, im Gegensatz zu mir.« Sie strich sich um die Taille.

»Und was ist mit Ihnen?«, lenkte Milena ab, als sie spürte, wie trotz aller Selbstbeherrschung eine Wunde in ihr aufriss, die schon fast verheilt war. Sie wollte nichts mehr von Franz hören, vor allem das nicht. Sie gönnte ihm zwar von ganzem Herzen, dass es ihm gut ging, doch war es ihr lieber, er blieb der, der er in ihrer Erinnerung gewesen war. Fehlte noch, dass sie erfuhr, dass er bald heiratete und Vater wurde. »Was macht Ihr Traum von der Landwirtschaft?«

»Der ist in die Ferne gerückt. Mein Mann arbeitet bei der Stadtsparkasse und ich helfe wieder im Laden meiner Eltern aus.« Helene fing zu quengeln an, Ottla strich über die Babydecke und rollte den Wagen hin und her. »Ich fürchte, lange werde ich sie nicht mehr beruhigen könnten, sie hat Hunger.«

»Sie können hier stillen, wenn Sie mögen. Wir haben auch ein Zimmer am Ende des Flurs. Dort gestalten wir nachmittags zusammen mit unseren kleinen Lesern die Kinderwiese, wie unsere Beilage für die Jüngsten heißt. Meine Kollegin Alice Rühle-Gerstel und ich versuchen damit, deutsche und tschechische Kinder zusammenzubringen und nur über das zu schreiben, was Kinder wirklich interessiert.«

»Ich weiß, Frau Jesenská, ich lese die Kinderwiese Verá immer vor. Aber ich habe Sie lange genug aufgehalten.« Sie erhob sich. War Ottla tatsächlich nur gekommen, um ihr mitzuteilen, wie sehr sie sie als Journalistin schätzte und dass Franz eine andere hatte?

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Milena hielt ihr die Tür auf und folgte ihr zur Treppe. »Wer hat Ihnen denn vorhin den Wagen heraufgetragen?«

»Niemand. Das schaffe ich schon.« Trotzdem packte Milena mit an, zu zweit trugen sie den sperrigen Wagen auf die Straße. Klein-Helene weinte immer lauter.

»Wollen Sie nicht doch noch mal mit Ihrer Tochter hochkommen? Den Wagen können Sie hier unten stehen lassen.«

»Danke, ich muss gehen.« Ottla bückte sich und zog eine große Holzkiste zwischen den Wagenrädern heraus, was eine Weile dauerte. »Das soll ich Ihnen geben, hat Franz gesagt, wenn Sie eines Tages zu uns in den Laden kommen, aber das taten Sie nie. Er wollte sie Ihnen nicht mit der Post schicken, damit nichts darin verloren geht.«

»Was ist das?« Gab er ihr etwa seine Briefe an sie zurück, damit sie völlig aus seinem Leben verschwand?

»Sehen Sie selbst nach. Sie sollen sie für ihn aufbewahren.« Ottla legte ihr die Kiste in die Arme und verabschiedete sich.