PAPIERBLUME
Milena rückte im Bureau die Pflanze an ihren Platz zurück und stellte Kafkas Kiste hinter den großen Blumentopf, damit sie sie nicht mehr sah. Dann setzte sie sich weit entfernt davon an ihren Schreibtisch. Am liebsten würde sie sie im Schrank oder hinter den Büchern verstauen und dort hoffentlich vergessen, was aber wahrscheinlich nie geschehen würde. Besser, sie öffnete sie gleich, brachte den traurigen Anblick hinter sich, und entschied dann, was mit ihren und seinen Briefen, die sie sorgsam gebündelt bei sich zu Hause verwahrte, geschehen sollte. Vielleicht würde sie sie eines Tages ihrer Tochter oder ihrem Sohn zu lesen geben, ihnen von der Liebe zu Kafka erzählen. Wenn sie denn jemals Kinder hätte.
»Frau Jesenská, Herr Musil aus der Druckerei wartet auf Ihren Rückruf, es geht um die Doppelseite im Prager Tagblatt, soll ich Sie verbinden?« Ada trat ein und riss sie aus ihren Gedanken.
»Ja, bitte, stellen Sie durch.« Vorerst widmete sich Milena wieder ihrer Arbeit. Mittags rief sie Staša an, fragte, ob sie und die Mädchen Lust hätten, schwimmen oder Eis essen zu gehen. Sie brauchte dringend Erholung. Doch die Zwillinge hatten Windpocken, sodass Milena entweder allein etwas unternehmen musste oder doch zum Weiterarbeiten gezwungen war. Kurzentschlossen klemmte sie die verdammte Kiste auf den Gepäckträger und fuhr mit dem Rad an der Moldau entlang, so lange, bis sie sich besser fühlte. Am Stadtrand hockte sie sich ans Ufer, holte Kafkas Klotz vom Gepäckträger und hakte den Verschluss auf. Zuoberst lag eine Rose darin, aus liniertem Papier sorgsam geschnitten und geklebt, darunter war ein Zettel mit Franz’ vertrauter Handschrift:
Liebe Milena. Du wolltest wissen, wer ich bin, wenn ich nur mit mir selbst spreche. Dies sind meine Tagebücher bis zu dem Jahr, bevor wir uns kennenlernten, den Rest weißt du ohnehin. Aber du musst das nicht lesen. Auch habe ich dir das Manuskript der ersten Erzählung beigelegt, die du übersetzt hast. Zuletzt ist da noch ein Roman, ich halte ihn für misslungen und werde ihn nicht beenden. Falls du ihn dennoch lesen willst, sei also nicht zu kritisch. Vielleicht freust du dich aber auch an den Stellen, die aus unseren Gesprächen und gemeinsamen Erlebnissen stammen und wenn ja, dann freut es auch mich. F
Obwohl es sie große Überwindung kostete, so etwas Persönliches wie seine Tagebücher zu lesen, schlug sie das oberste Heft auf. Franz hatte ihr schließlich die Erlaubnis dazu gegeben.
Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt, lautete der erste Eintrag. Dann folgten weitere Beobachtungen ohne Datierung, und es waren sogar Zeichnungen darin. Mit flotter Feder hatte Kafka ein paar Gestalten, vielleicht Tänzer, festgehalten. Milena strich vorsichtig über die Seiten, sie war den Tränen nahe und erleichtert zugleich, dass es nicht ihre Briefe waren. Sie musste auch schmunzeln, als sie las, wie er nach Monaten des Nichtschreibens auf den Einfall kam, sie endlich mal wieder anzusprechen. Als ob er ohne sich selbst wäre, wenn er nicht schrieb. Das war Kafka durch und durch. Beim Weiterlesen erklang seine vertraute Stimme in ihrem Ohr. Er beklagte sich über seine Unfähigkeit, überhaupt schreiben zu können, da ihm nie eine Geschichte von Anfang an einfiel – von der Wurzel, wie er es ausdrückte –, sondern ständig irgendwo in der Mitte, so als ob ein Grashalm erst ab der Mitte zu wachsen anfing. Man müsste ein Gaukler sein, um sich daran zu halten. Wenigstens jeden Tag eine Zeile gegen sich zu richten, nahm er sich vor, so wie man die Fernrohre gegen den Kometen stellt. Milena tauchte in seine Bilderwelt ein, folgte ihm in sein Universum, das auf den schwachblauen Linien in diesen Schulheften erstand. Wie alt mag Kafka gewesen sein, als er dies verfasst hatte? Sie blätterte weiter, bis sie ein Datum fand. Sonntag, den 19. Juni 10 geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben. Sie rechnete nach, fast siebenundzwanzig war er 1910 gewesen, genauso alt wie sie jetzt. Sie vertiefte sich weiter in die Hefte, lachte und zweifelte mit ihm, staunte, was er erlebt hatte und wie genau er seine Eindrücke schilderte, erfuhr, was er für Musik mochte oder womit er sich beschäftigt hatte. Welche Bücher er damals las, welche Filme er gesehen hatte und welche Theaterstücke und wohin er gereist war. Ihr fielen die ›Billig‹-Reiseführer ein.
Erst als Wind aufkam, der ihr die Hefte davonblasen wollte, und sie sowieso fast nichts mehr entziffern konnte, beschloss sie heimzufahren, bevor es Nacht wurde. Fast bewegungslos hatte sie auf einem umgefallenen Baumstamm gesessen. Zu Hause wartete Fjodor maunzend auf dem Fußabstreifer. Sie versorgte ihn, schmierte sich Brote und kochte Kakao und begann das Roman-Manuskript zu lesen. Darin ging es um einen Landvermesser namens K., der sich Einlass in ein Schloss erhoffte, was ihm aber verwehrt wurde. Auch im Dorf, das unterhalb des geheimnisvollen Schlosses lag, schien er unerwünscht, egal, wie sehr er sich um die Einwohner bemühte. Vieles erinnerte Milena an ihre gemeinsame Zeit, an das, was sie erlebt hatten oder worüber sie gesprochen oder sich geschrieben hatten. Noch dazu hatte er ihre Liebesgeschichte mit hineingewoben, oder Anklänge davon. Frieda, das Schankmädchen, liebte K., sie fühlte sich ihm als Einzige zugehörig, obwohl sie mit Klamm, einem unerreichbar hohen Beamten, liiert war. »Klamm«, das war ein kafkaeskes Wortspiel von »Ernst«. Es gab auch einen »Herrenhof«, einen Gasthof unterhalb des Schlosses, in dem man durch ein Guckloch in der Tür Klamm während seines Beamtenschlafes beobachten konnte. Frieda wollte weg von allem und schlug dem Landvermesser vor, mit ihr auszuwandern. Und K. antwortete dem Mädchen fast genauso, wie Franz ihr damals geantwortet hatte. »Ich bin hierhergekommen, um hier zu bleiben. Ich werde hierbleiben.« Milena setzte beim Lesen immer wieder ab, weil ihre Gedanken zu den gemeinsamen Erinnerungen schweiften. Alles vermischte sich nun mit seiner Literatur. Sie fragte sich, was wahr davon war und was Geschichte.
Als sie einige Wochen später beim Bäcker anstand, hörte sie, wie zwei Frauen über ein Galanteriewarengeschäft sprachen, das vor zwei Jahren noch eine Familie Kafka betrieben hätte. Deren einzigem Sohn soll es sehr schlecht gehen. Milena lief zur Post und rief bei Max Brod an, erreichte ihn nicht. Dann versuchte sie es bei Ottla, bekam sie an den Apparat und erkundigte sich nach seinem Befinden.
»Es hat mit Schluckbeschwerden angefangen, dann wurde es schlimmer, sodass er kaum noch sprechen, essen und trinken konnte«, erklärte seine Schwester. »Als ihn unser Onkel in Berlin besuchte, Onkel Löwy ist Landarzt, hat er sofort veranlasst, dass Franz nach Wien zu einem Spezialisten gebracht wird. Eine Koryphäe, sagt Onkel Löwy. Er hat schon Sigmund Freud erfolgreich am Hals operiert, diesen Wiener Psychologen und Kettenraucher. Aber der Franz, der hat doch seit jeher auf seine Gesundheit geachtet.« Sie klang verzweifelt. »Allein die Strapazen der Fahrt, sieben Stunden mit dem Zug, dann noch vier Stunden im zugigen Wagen ohne Verdeck bis zur Klinik, waren eine Tortur für ihn.«
»Und wie lautet die Diagnose, wenn ich fragen darf?«
»Die Tuberkulose hat auch seinen Kehlkopf befallen.«
»Wird er operiert?«
»Dafür ist er zu schwach, man versucht die Schwellung oder Veränderung im Kehlkopf, entschuldigen Sie, ich drücke mich so laienhaft aus, mit Spritzen zu behandeln. Und auch das Fieber zu senken.«
Es hörte sich schrecklich an. »Das tut mir sehr leid. Kann ich etwas tun?«
»Danke, das ist nett, doch er ist in guten Händen, Frau Jesenská. Er wird sich schon wieder erholen, es ist ja nicht das erste Mal.« Ottla wirkte wieder zuversichtlicher. Sie legte eine Pause ein, Milena hörte sie atmen. »Franz schreibt uns viel und regelmäßig, aber ich kenne ihn und Sie ja auch.«
»Auf was wollen Sie hinaus?«
»Seine Worte klingen viel zu fröhlich für die Umstände, ich glaube, dass er uns nicht beunruhigen will. Meine Eltern wissen auch noch nichts von Franzens Kehlkopferkrankung, er hat mich gebeten, ihnen nichts davon zu erzählen, bis die Behandlung feststeht.«
»Ist er noch in Wien?«, fragte Milena. Sie musste zu ihm, auf der Stelle.
»Nein, er wurde verlegt, in ein ruhiges und auch etwas erschwinglicheres Sanatorium in Kierling, das ist ein Dorf bei Klosterneuburg. Ein guter Freund ist zu ihm gereist, ein angehender Arzt, der ihm helfen wird, all das Medizinische zu verstehen. Dort kann man selber kochen, was seine …, seine …« Sie hielt inne. Die Münzen klackerten durch den Telefonapparat, sie warf weitere ein.
»Frau Davidová, scheuen Sie sich nicht. Sie haben mir bereits erzählt, dass Ihr Bruder mit einer anderen Frau zusammenlebt.« Der Gedanken daran schmerzte Milena immer noch, auch wenn sie Kafka Glück wünschte, besonders in seiner Not.
»Ja, richtig«, Ottla holte Luft, »wir sind dem Fräulein Diamant sehr dankbar, dass sie auch jetzt nicht von seiner Seite weicht. Ich muss mich um die eigene Familie kümmern, ich könnte das gar nicht leisten. Sie scheint sehr geschickt und fürsorglich, hat als Kindergärtnerin gearbeitet, als sie sich an der Ostsee, wo Franz zur Kur war, kennenlernten. Sie päppelt ihn richtig auf, Milch, Eierspeisen, Kartoffeln und sogar Torte mit Schlagobers, hat sie kürzlich geschrieben.« Wieder stockte sie, anscheinend dämmerte es ihr, dass sie zu viel verraten hatte. »Aber was erzähle ich Ihnen da, bitte, Frau Jesenská, Sie haben doch nicht vor, zu ihm zu fahren? Davon rate ich Ihnen dringend ab. Das wäre der Familie gar nicht recht, niemand weiß von Ihnen. Ihr Auftauchen würde meinen Bruder nur unnötig aufregen, bitte verschonen Sie ihn und auch uns.«
»Ich danke Ihnen für die Offenheit, und ich weiß Ihren Rat zu schätzen, Frau Davidová. Auf Wiedersehen.« Damit hängte Milena ein, in Gedanken schon im Zug.