TROLLBLUME
Von außen wirkte das Sanatorium mehr wie ein großes Schulhaus, in dem nur wenige Patienten Platz hatten. Das Dorf war umgeben von Weinbergen, es roch nach Heu und Vieh und dem herbeieilenden Sommer. Außer dem Muhen einer Kuh und Vogelgezwitscher hörte man nichts. Das war der beste Ort für Franz, um gesund zu werden, da musste Milena Ottla recht geben. Doch dann fiel ihr ein, dass sie ihr Geschenk vergessen hatte. Eigentlich wollte sie ihm die neueste Ausgabe des »Prager Tagblattes« mitbringen. Heute war ihre Übersetzung seiner Erzählung »Eine kleine Frau« erschienen. So etwas Blödes, wie konnte sie nur. Nun stand sie gleich ohne etwas an seinem Krankenbett. Doch dann fiel ihr etwas anderes ein. Sie ging um das Gebäude herum und am Zaun entlang. Auf der Rückseite waren Balkone und eine große Terrasse, auf der zwei Patienten in Decken gewickelt wie Kokons ihre Liegekuren absolvierten. Sie hielt nach Kafka Ausschau, entdeckte ihn aber nicht, spazierte weiter, um die angrenzenden Bäume herum, bis sie zu einer herrlich blühenden Wiese voller Trollblumen kam. Aber auch Mittagsblumen, Kuckuckslichtnelken, Margeriten, Klee, Hahnenfuß und viele andere Schönheiten zeigten sich hier. Mit Hingabe pflückte sie einen Strauß, der die ganze Pracht einer Sommerwiese in sämtlichen Farben und Formen aufbot. Das sollte sein süßes Geschenk werden, wie er es sich gewünscht hatte, nachdem sie ihm von ihrem ersten Kuss mit dem Skilehrer erzählte. Doch man ließ sie nicht ein. Nur Angehörige hätten Zutritt ins Sanatorium, sagte der Hausverwalter. Was sollte sie tun? Warten, bis Kafka auf einem der Balkone erschien? Das setzte voraus, dass er aufstehen konnte. Sie ging nach draußen, spazierte um das Gebäude. Eine Krankenschwester überholte sie und trat durch den Seiteneingang, auf dem »Nur für Personal« stand. Bevor die Tür ins Schloss fiel, folgte Milena ihr die Treppe hinauf. Sie schlich durch die Etagen, lugte in die Zimmer. Wenn eine Tür offen stand, nickte sie freundlich, so als wäre sie wie selbstverständlich auf dem Weg zu einem Verwandtenbesuch. Als ihr ein alter Mann in einem gestreiften Schlafanzug zulächelte, traute sie sich zu fragen, ob er wüsste, wo ein Herr Kafka liege.
»Meinen Sie den, der so viel Lärm gemacht hat, als er eintraf?« Er saß aufrecht im Bett und aß Kuchen.
Ein Grauen erfasste sie. »Hat er vor Schmerz so geschrien?«
»Nein, davon weiß ich nichts.« Er wedelte mit der Kuchengabel, verteilte Krümel auf der Decke. »Dieses Ungetüm, der Aufzug rumpelt jedes Mal mit einem Höllenlärm selbst für die Schwerhörigen hier, wenn ein neuer Patient eintrifft. Erst glaubt man, die Erde bebt, und dann fällt nicht nur hier im Haus, sondern auch im ganzen Dorf der Strom aus. Ist doch klar, dass jeder wissen will, wer da Prominentes eintrifft.« Schmatzend zeigte er nach oben. »Zweiter Stock, ganz hinten, das letzte Zimmer.«
»Was wollen Sie hier?« Eine Frau mit schwarzen Locken eilte ihr hinterher und stellte sich Milena in den Weg, als sie, oben angekommen, den gelb gestrichenen Flur entlangschritt.
»Ich möchte zu Franz Kafka.«
»Unmöglich, niemand darf zu ihm. Er ist sehr schwer krank, und noch dazu ist das, was er hat, ansteckend. Sie können ihn nicht besuchen.«
»Und wer sagt das?« Die Frau trug keine Schwesterntracht, sondern ein rotes, etwas zu eng und zu kurz geratenes Kostüm. Sie baute sich vor ihr auf, obwohl sie mindestens einen Kopf kleiner war. Das musste Fräulein Diamant sein, so wie sie funkelte.
»Ich sage das, ich als seine Verlobte.« Sie schien in ihrem Alter zu sein, wirkte sehr kräftig und war bestimmt schwer wegzudrängen. Außerdem sprach sie Deutsch mit Akzent, den sogar Milena heraushörte, kein tschechischer, es klang Jiddisch. Mit ihr hatte er wohl endlich die Frau gefunden, die auch seinen Eltern gefallen würde. Wieder eine Jüdin, fürsorglich und selbstlos, so wie sie das von Ottla gehört hatte, und nun kämpfte sie auch noch um Kafka wie eine Löwin.
Da half nur eines. Milena trat auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich nehme an, dass Sie Fräulein Diamant sind? Ich bin Milena.«
»Ich weiß, wer Sie sind, ich habe Sie auf einer Fotografie gesehen.« Die Frau blieb abweisend, schlug nicht ein. »Trotzdem, Sie müssen gehen, er will Sie nicht mehr sehen.«
»Aber er weiß doch gar nicht, dass ich hier bin.«
»Dann tun Sie mir den Gefallen. Und ich hoffe doch, dass Sie auch bei ihm jede Aufregung vermeiden wollen. Ich muss wieder zu ihm, er hat mich nur schnell auf die Post geschickt, um Briefmarken zu holen.« Sie ging davon.
»Bitte«, Milena lief ihr nach, »seien Sie so nett und geben Sie ihm die hier.« Sie reichte ihr den Strauß. »Mehr verlange ich nicht.«
Wortlos nahm Fräulein Diamant die Blumen und trat in ein Zimmer am Ende des Flurs. Als sie sich umwandte, um die Tür hinter sich zu schließen, ließ sie sie einen Spaltbreit offen stehen. Ob aus Nachlässigkeit oder Absicht, wusste Milena nicht. Es versetzte ihr einen Schock, als sie Kafka erblickte. Seinen Kopf im Kissen, sein hageres Profil, eingerahmt vom Türstock wie in ein Bild. Als er bei ihr in Wien zu Besuch gewesen war, hatte er ähnlich eingerahmt vor ihrem Fenster gestanden, und sie hatten sich zum ersten Mal geküsst. Erst da begriff sie, was sie hörte. Franz atmete so laut. Genauso hatte ihre Mutter in ihren letzten Stunden geröchelt. Es war ein grausames, ein alles durchdringendes Geräusch, das sie so lange in sich verdrängt hatte. Zwei Männer in weißen Kitteln beugten sich über ihn, auch Fräulein Diamant setzte sich an den Bettrand. Milena lehnte sich an die Wand, der Tür gegenüber. Sie musste sich stützen, um den Anblick Kafkas zu ertragen. Seine Wangen waren eingefallen, sein Mund stand auf und die Nase ragte spitz zur Decke. Es ist aber noch keine Reise, nur ein Zappeln mit den gänzlich ungeeigneten Flügeln, hatte er in einem seiner letzten Briefe geschrieben, als wieder einmal voller Hoffnung auf Heilung auf dem Weg zu einer Kur gewesen war. Mein geliebter Rabe, dachte Milena, nicht mehr lange und deine Flügel sind ausgewachsen, dann wirst du auf- und davonfliegen. Frei und ohne Atemnot kannst du endlich durch die Lüfte gleiten, und uns alle von oben betrachten, wie wir morgens, winzig wie Wanzen, aus unseren Betten kriechen und auf eine Verwandlung hoffen, die du schon hinter dir hast. Sie wischte sich über die Augen. Tränen versperrten ihr die Sicht. Hastig rieb sie sie fort, als sie sah, wie Fräulein Diamant ihm den Strauß zeigte und Kafka sich ein wenig erhob, um daran zu riechen. Er sog den Duft tief in sich ein, sank zurück und atmete ein letztes Mal aus. Dann war es still. Milenas Herz klopfte so stark, dass sie sich über die Brust rieb. Es schlägt für uns beide, dachte sie, für dich und mich, die MilenaFranzens. Für das, was wir zusammen waren und was aus uns geworden ist.
Die Anteilnahme im Bureau war groß, als sie nach Prag zurückkehrte, all ihre Kolleginnen bemühten sich um sie, sodass kaum Zeit zum Trauern blieb. Der Chef der Nationalzeitung rief Milena an und bat sie, einen Nachruf zu schreiben.
Sie lehnte ab, doch Herr Obul, dem sie viel verdankte, gab nicht so leicht auf. »Frau Jesenská, ich verstehe, wie schwer das für Sie ist. Aber wir dachten, Sie fänden vielleicht etwas persönlichere Worte, als jemand der Herrn Kafka nur aus seinen Texten kennt.« Milena schwieg. Ganz Prag wusste anscheinend von ihrer Beziehung. Sie wollte noch einmal widersprechen, aber dann dachte sie, dass sie Kafka diesen Dienst erweisen musste, in der Hoffnung, dass seine Werke nicht in Vergessenheit gerieten, und sagte zu. Hinterher saß sie lange am Schreibtisch, drehte den Bleistift in der Hand. Ihr Kopf fühlte sich leer an. Wie sollte sie anfangen oder was sollte sie überhaupt schreiben? Wie konnte man ein ganzes Leben, auch wenn es nur knapp einundvierzig Jahre gedauert hatte, auf wenigen Zeitungszeilen zusammenfassen und zugleich ausdrücken, was für ein besonderer Mensch und Schriftsteller Kafka gewesen war? Wieder überwältigte sie der Schmerz, der kaum auszuhalten war. Sie schloss die Augen, sah ihn noch einmal sterben. Schnell rief sie sich tröstlichere Bilder ins Gedächtnis. Wie sie im Wald beieinandergelegen hatten, wie sein Gesicht sich aufhellte, wenn er sie anlächelte. Ich liebte ihn, schrieb sie, und ich liebe ihn noch. Doch dann strich sie das wieder und begann nüchterner. Vorgestern starb bei Wien Dr. Franz Kafka, ein deutscher Schriftsteller, der in Prag gelebt hat. Er war mein Gegenstück, schrieb sie, wo ich laut war, war er still, wo ich freizügig war, war er gehemmt, wo ich mutig war, blieb er scheu, aber wenn ich redete, hörte er zu. Er war mein Lehrer, mein zärtlicher Geliebter, mein Freund. Bevor wir uns wirklich berührten, liebkosten wir uns schon auf dem Papier. Jeder Mensch ist eine begrenzte Welt für sich. Doch manchmal, wie durch ein Wunder, trifft man den einen, der diese Grenze überschreitet, ohne sie zu verletzen, weil er die Gesetze des anderen respektiert. So jemand war Kafka für sie gewesen. Zum Suchen brauchte man Glauben, und zum Glauben gehört vielleicht mehr Kraft als zum Leben. Diese Kraft besaß er, obwohl Kafka ein vom Leben erschreckter Mensch war, der jahrelang unter seiner Lungenkrankheit gelitten hatte. Und ihr fiel wieder ein, was er in einem seiner Briefe an sie über seine Organe geschrieben hatte, dass die Lunge den Streit zwischen Herz und Gehirn schlichtete, indem sie die ganze Last auf sich nahm. Er war scheu, ängstlich, sanft und gut, aber schrieb grausame und schmerzhafte Bücher. Erzählungen von Missverständnissen, von Willkür und Macht. Kafka verkörperte das, was er schrieb, er verstellte sich nicht und gab nicht vor, jemand anderes zu sein, nur um zu beeindrucken. Er war aufrichtig und ehrlich, wie ein Nackter unter Angekleideten. Durch seine Bücher würde sein Leben nicht enden, es würde weitergetragen, mit jedem neuen Leser, der sich in seinen Geschichten entdeckte.
Als der Kurier eintraf, um ihren Beitrag abzuholen, bat sie ihn zu warten, las ihren Text durch, strich alles Persönliche heraus, bis nur noch ein paar Zeilen übrig blieben, und gab ihn Ada zur Reinschrift.