10. Kapitel

TAUSEND BLUMEN

Noch zwei Jahre später ertappte sich Milena dabei, wie sie dachte, dies oder jenes müsste sie Franz schreiben, das sollte er wissen, und merkte erst dann, dass er für immer fort war. Doch das alles, das Stechen in ihrem Innern oder Wachrufen der gemeinsamen Erlebnisse, machte sie mit sich alleine aus. Sie erzählte niemandem, was in ihr vorging. Ansonsten ging es bei ihr weiter aufwärts, sie konnte schreiben, was sie wollte, bald langweilten sie die Artikel über Mode und äußere Befindlichkeiten, sie wurde kritischer, es war Zeit, den ganzen Schnickschnack zu hinterfragen. Wozu brauchte man so viel Tand, musste sich mit Schmuck behängen, als sei die Frau das ganze Jahr ein Weihnachtsbaum? Ein einfaches Kleid mit einem ausgefallenen Kragen genügte, dazu noch ein zeitloses Kostüm für besondere Anlässe und fertig war die Garderobe. Dazu Sport an der frischen Luft, Sommer wie Winter. Und wenn sie die wunderschön gestickte Seidenunterwäsche sah, musste sie an die zerstochenen Finger der Näherin denken, die sie für ein paar Kreuzer anfertigte, die dann der Händler für hundert Kronen weiterverkaufte. Milena hatte ein Buch mit ihren gesammelten Reportagen veröffentlicht und auch eines mit ihren Lieblingskochrezepten, über das Frau Koller bestimmt lachen würde. Milena und Kochen! Schreiben konnte sie, aber ein Mahl zubereiten, das einigermaßen bekömmlich und gut gewürzt war, war ihr bisher noch nicht gelungen. Aber das konnte noch werden, sie hatte ja nun ihre eigene Anleitung.

Auf einem Betriebsausflug kam sie mit einem Tschechen ins Gespräch, der behauptete, ihr Buch gelesen zu haben. »Welches?«, fragte sie und hoffte, dass er kein Koch war, der sich mit ihr als Gleichgesinnte austauschen wollte.

»Ihre Reportagen. Sie suchen, wie mir scheint, den Weg zum Einfachen, das strebt auch mir in meinen Entwürfen vor. Darf ich mich vorstellen, Jaromír Krejcar. Ich bin Architekt.« An der Reling des Moldaudampfers erzählte er ihr vom Dessauer Bauhaus und von seinen Plänen, als wüchsen unter seinen Händen am Ufer schachtelartige Häuser ohne Dächer empor.

»Und das alles möchten Sie bauen?«, fragte sie.

»Manches habe ich bereits umgesetzt. Das Olympic zum Beispiel.«

»Das stammt von Ihnen?« Das achtstöckige Bürogebäude hatte auch außerhalb Prags wegen seines neuartigen Stils für Aufsehen gesorgt. Milena beeindruckte mehr, dass dieser Herr Krejcar nicht nur voller Einfälle war, er setzte sie sogar in Taten um. Trotzdem widerstand sie seinem Werben, lehnte die Einladungen ab, wenn er anrief, obgleich viel Verlockendes dabei war. Er liebte die Natur und Wanderungen ebenso wie sie, lud sie zum Skifahren oder Bergsteigen ein. Außerdem führte seine Mutter ein Süßwarengeschäft, das nicht nur für die Prager Kinder ein Traumladen war, auch Milena hatte schon oft bei der herzlich netten Frau eingekauft. Bald nannten sie sich beim Vornamen, siezten sich aber noch. Und egal, wie sehr sich Jaromír um sie bemühte, Milena wollte keine neue Beziehung und betonte das jedes Mal, wenn sie sich doch auf einen Mokka mit ihm traf oder sich nach einem Kinofilm, über den sie berichten würde, von ihm nach Hause begleiten ließ.

Doch er blieb hartnäckig, lud sie am kommenden Sonntag zu einem Spaziergang ein. »Nur ein Spaziergang, da ist nichts dabei«, sagte er, bevor sie schon wieder ablehnen konnte. »Ich will Ihnen etwas zeigen, etwas Besonderes, das Ihnen hoffentlich gefällt.« Damit weckte er ihre Neugier.

Sie fuhren mit Fahrrädern weit aus der Stadt hinaus, vorbei an einer Mühle und einer Pferdekoppel. Die Sonne brannte Milena in den Nacken und der Fahrtwind wehte ihr um die nackten Fesseln in ihrer luftig kurzen Sommerhose. An einem Waldrand bat er sie anzuhalten und abzusteigen. Sie lehnten ihre Räder an einen Baum, und Jaromír wollte ihre Hand nehmen, um sie zu führen. Sie zögerte einen Moment, ergriff sie dann. Er zog sie von der Straße weg einen Hügel hinauf. Nur ein schmaler Trampelpfad deutete eine Richtung an. Dichte Fichten und Buchen erschwerten das Vorwärtskommen, Zweige brachen unter ihren Schritten.

»Geh du besser voraus.« Auf einmal duzte er sie, ließ sie los, bevor sie oben angelangt waren, als traute er sich nicht weiter.

»Warum, was ist dort oben?« War er es leid, sie hinter sich herzuziehen?

»Vertrau mir, schau einfach, was kommt.« War das nicht etwas zu hoch gegriffen? Sie kannten sich doch kaum. Doch sie wagte es, drückte sich an ihm vorbei und ging weiter.

Oben angekommen, lichteten sich die Bäume, zwei Weiden spannten ihre Äste zu einem geflochtenen Bogen. Milena trat durch ein natürlich gewachsenes Tor. Sie staunte. Dahinter hatte jemand Beete angelegt, Blumen und Kräuter gepflanzt, viele Stunden geharkt und geschuftet. Ein Garten, zart und keimend, noch im Werden entfaltete sich hier. Der Anblick rührte sie. »Hast du das gemacht?«

Er nickte, strahlte sie an.

»Es muss ja Wochen gedauert haben, so viel Arbeit und Liebe.« Beim Herumschauen entdeckte sie immer neue Pflanzen. Storchschnabel, Wiesenknabenkraut, Mohnblumen und Luzernen, aber auch Ringelblumen, Kornblumen und in der Mitte entfaltete sich sogar eine Pfingstrose und verbreitete einen betörenden Duft. »Wie hast du das nur geschafft?«

»Erst wollte ich dir ein Parfüm schenken«, erklärte er. »Es gibt eines, ein französisches, das alle Düfte vereint. Tausend Blumen oder so ähnlich heißt es, aber dann dachte ich mir, wir könnten gemeinsam einen Garten haben, um den wir uns kümmern und darin mehr als tausend Düfte entdecken, was hältst du davon?« Vielleicht war er endlich der, der sie um ihrer selbst willen begehrte, sie liebte, und kein Spiel mit ihr trieb. Als Antwort küsste sie ihn.