Nachwort

Die geheimnisvolle Milena, an die Franz Kafka seine Liebesbriefe geschrieben hat, faszinierte mich schon lange. Viele Jahre stand Milena Jesenskás Buch mit Reportagen neben den Werken Kafkas in meinem Regal, bis ich anfing, mich zu fragen, wer sie eigentlich war, und was sie wohl Kafka geantwortet hat. Nur Kafkas Briefe an Milena existieren, Milenas Briefe an ihn sind bis heute verschollen. Je mehr ich recherchierte, desto mehr Verästelungen und Wege taten sich auf, ich stieß auf Widersprüche in den Biographien über sie und Kafka, und musste mich entscheiden, welche Aussagen zu diesem Roman passen. In ihrer Korrespondenz nannte sie ihn Frank, weil Kafka seine Briefe förmlich mit »FranzK« unterzeichnete, sodass man das kleine Z kaum lesen konnte.

Um Milenas Stimme lebendig werden zu lassen, habe ich versucht, mir ihre Beweggründe für ihre journalistischen Texte vorzustellen, ihren besonderen Blick auf Wien, wie sie über Armut schreibt und über die Bedeutung des Kaffeehauses, ihre Ansichten über Mode, die in ihrem Artikel »Leute machen Kleider« einfließen, oder wenn sie das Scheitern ihrer Ehe reflektiert, in »Der Teufel am Herd«.

Milena Jesenskás Glück währte noch eine Zeitlang. Sie heiratete Jaromír Krejcar und bekam mit ihm eine Tochter, Jana, die sie »Honka«, tschechisch für Hänschen, nannte. Leider hatte sich bei Milena in der Schwangerschaft ein Knie entzündet, sodass sie fortan hinkte und die andauernden Schmerzen mit Morphium dämpfte. Erst acht Jahre später schaffte sie es, sich in einer radikalen Entziehungskur von der Morphiumsucht zu befreien. Ihre Arbeit als Journalistin wurde zunehmend politischer, 1931 trat sie in die kommunistische Partei ein, aus der sie aber bald wieder ausgeschlossen wurde, nachdem sie Kritik an Stalin äußerte, der Andersdenkende foltern und ermorden ließ. Als Hitler die Macht ergriff und sich auch die Tschechoslowakei einverleiben wollte, arbeitete Milena bereits im aktiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Sie gab eine Widerstandszeitung heraus und war Fluchthelferin, da Prag damals als eine der letzten Asyle für Verfolgte galt. Viele Male wurde sie von der Gestapo verhört, bis man sie ins KZ Ravensbrück schickte. Ihre eintätowierte Häftlingsnummer lautete 4714, doch bald nannten die Frauen sie 4711 wie das Kölnisch Wasser, als Codewort für Freiheit, Mut und Lebenswillen, die Milena verkörperte. Gesundheitlich stark geschwächt, arbeitete sie in der Schreibstube, wo sie die Häftlingskarteien verwaltete. Viele Frauen hatten Geschlechtskrankheiten, da sie als Sex-Sklavinnen in SS-Bordellen arbeiten mussten. Wenn sie sich infiziert hatten oder schwanger wurden, verlegte man sie zur Behandlung oder Abtreibung nach Ravensbrück zurück. Milena setzte sich ein, wo sie konnte, fälschte Berichte, um Todesurteile zu verhindern. Sie überlebte Kafka um zwanzig Jahre und starb mit siebenundvierzig im KZ Ravensbrück an den Folgen einer Nierenoperation.

Auch Kafkas drei Schwestern, Elli, Valli und Ottla, sowie weitere Verwandte von ihm wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Ottla kümmerte sich bis zuletzt in Theresienstadt um eine Gruppe ausgewählter Kinder, die wahrscheinlich zum Austausch im Falle einer Kriegsniederlage an die Alliierten gedacht waren. Doch 1943 entschieden sich die Befehlshaber um. Ottla begleitete diese Kinder bis nach Auschwitz, wo sie mit ihnen in den Gaskammern starb. Ihre Töchter überlebten den Krieg, weil sich ihr tschechischer Vater Josef David 1940, vermutlich in Absprache, von Ottla scheiden hatte lassen, um die Mädchen vor der Judenverfolgung zu schützen.

Jana Černá (geb. 1928 als Jana Krejcar) erbte mit siebzehn Jahren das Vermögen ihres Großvaters Jan Jesenský, der 1945 starb, und verprasste es innerhalb eines Jahres. Als Beweis, dass ihre Mutter wirklich tot war, hatte sie nach dem Krieg einen Zahn von ihr erhalten. So beginnt Jana Černás sehr berührende Biographie über Milena Jesenská, ihre Mutter, in der sie auch viel selbst über sich erzählt. Als Elfjährige half sie mit, die Widerstandszeitung zu verbreiten und wurde ebenfalls von der Gestapo verhört. Sie heiratete vier Mal und bekam fünf Kinder. Eine große Unruhe und Haltlosigkeit prägte ihr Leben, immer wieder wurde ihr das Sorgerecht entzogen. Sie versuchte sich in mehreren Berufen und schrieb Kurzgeschichten über Kinderschicksale, die als Buch erschienen. 1981 starb sie mit dreiundfünfzig bei einem Autounfall.

Milena gab die Kiste mit Kafkas Tagebüchern und Manuskripten Max Brod. Er sollte entscheiden, was damit passierte. Kafka wollte, dass alles Ungedruckte von ihm verbrannt werden sollte und hatte auch schon vor seinem Tod mit Dora Diamant zusammen viele seiner Texte vernichtet. Gott sei Dank hat sich sein bester Freund nicht an seinen letzten Willen gehalten. Was wäre die Weltliteratur ohne Franz Kafka? Seine Briefe an Milena gelangten an Willy Haas, der alle Passagen herausstrich, die sich auf ihn und noch lebende Personen (vor allem Jarmila) bezogen oder Kafkas kritische Äußerungen zum Judentum betrafen. Davon wollte in der Nachkriegszeit niemand etwas lesen. So verkürzt veröffentlichte er sie 1952 als Buch. Erst 2011 erschien »Briefe an Milena« als erweiterte Neufassung. Milenas Gegenbriefe an Kafka fehlen. Von ihr gibt es lediglich Briefe an andere wie Max Brod, dem sie nach Kafkas Tod von ihrem »Frank« erzählt, und in denen sie den allerletzten Brief von Kafka erwähnt, der ebenfalls verschollen ist.

Nach der Scheidung von Milena und seinem Parisaufenthalt zog Ernst Pollak 1928 zurück nach Wien und wohnte mit einer neuen Partnerin in der Lerchenfelder Straße, wo auch Paní Koller wieder den Haushalt für ihn übernahm. Mit zweiundvierzig Jahren legte er tatsächlich noch die Reifeprüfung an einem Gymnasium ab und studierte Philosophie und Germanistik. 1938, nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland, musste er als Jude aus Wien fliehen. In Prag verhalf ihm Milena noch kurz vor ihrer Verhaftung zu einem Korrespondenten-Visum für England, mit dem er es ins Exil schaffte, wo er 1947 starb.

Staša Jílovská (geb. 1898, verh. Procházková) arbeitete bis zu ihrem Tod, 1955, als Journalistin und Übersetzerin in Prag.

Alice Rühle-Gerstel (geb. 1894) setzte sich weiterhin für Kinder und die Kinderliteratur ein. Als Jüdin ging sie 1936 mit ihrem Mann ins Exil nach Mexiko, wo sie mit Frida Kahlo, Diego Rivera und Trotzki befreundet war. Als ihr Mann 1943 starb, nahm sie sich am selben Tag das Leben.

Jarmila Amrozová (geb. 1896, verh. Haasová-Nečasová) verliebte sich nach der Trennung in Egon Erwin Kisch, den rasenden Reporter. Vergleichbar mit Kafkas und Milenas Korrespondenz schrieben auch sie sich heimliche Liebesbriefe, die es ebenfalls als literarisches Zeugnis in Buchform gibt. Denn eigentlich war Jarmila nach der Scheidung von Willy Haas mit dem Journalisten Vincenc Nečas verheiratet. Sie erlebte als einzige der vier »Minervistinnen« den Zerfall der Sowjetunion und die »Samtene Revolution«, die am 17. November 1989 der Tschechoslowakei vom kommunistischen System zur Demokratie verhalf. Jarmila starb 1990 in einem Altersheim für Schriftsteller bei Prag.

1996 verlieh die tschechische Republik Milena Jesenská posthum den Tomáš-Garrigue-Masaryk-Orden, die höchste Auszeichnung des Landes für herausragende Leistungen um die Förderung der Demokratie, der Menschlichkeit und der Menschenrechte. Die Medaille ist nach dem ersten Staatspräsidenten der damaligen Tschechoslowakei benannt, der auch Schriftsteller und Philosoph war, und die Befreiung seiner Heimat von der K.-u.-k.-Monarchie aus dem Londoner Exil vorbereitete.

Zwei Jahre zuvor hatte der Staat Israel Milena Jesenská als Gerechte unter den Völkern geehrt.