Der kulturelle Aktienwert der Mathematik ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, zweifellos getrieben von derselben boomenden und Metastasen bildenden Wissensökonomie, die aus dem ungeliebten Computerfreak von gestern den Cybertycoon von heute gemacht hat. Ob man das Phänomen nun »Hirni-Hype« oder »Hip(2b)2« nennt: Abstrakte Technik ist heute sexy, und der Mathematiker ist ein kommerziell rentabler Held, wie der Erfolg von jüngeren Filmen wie Good Will Hunting oder π – System im Chaos beweist.
Ein besseres Beispiel für das neue Gütesiegel ist Amir D. Aczels Fermats dunkler Raum. Wie ein großes Problem der Mathematik gelöst wurde, das 1996 die Sachbuchbestsellerlisten stürmte, den Princeton-Professor Andrew Wiles zu einer schrägen Popikone mit Hornbrille machte und in dessen Kielwasser dann alles von Paul Hoffmans Der Mann, der die Zahlen liebte[268] über Sylvia Nasars Genie und Wahnsinn. Das Leben des genialen Mathematikers John Nash und David Berlinskis Der Apfel der Erkenntnis. Sir Isaac Newton und die Entschlüsselung des Universums bis hin zu Charles Seifes Zwilling der Unendlichkeit. Eine Biografie der Zahl Null erscheinen konnte.
Philibert Schogts Die wilden Zahlen (1998)[269] und Apostolos Doxiadis’ Onkel Petros und die Goldbach’sche Vermutung (1992)[270] sind zwar literarische Werke, bedienen sich aber beide ungeniert bei Aczels Fermats dunkler Raum (sowie bei Godfrey Harold Hardys A Mathematician’s Apology[271]). Und es gibt noch andere und ziemlich verblüffende Parallelen zwischen den beiden Romanen. Beide sind in der universitären Mathematikerwelt angesiedelt und stellen Menschen vor, die sich auf die Zahlentheorie[272] spezialisiert haben, den reinsten abstrakten Zweig der höheren Mathematik. Beide Romane erzählen die Bemühungen ihrer Protagonisten, berühmte und weit zurückreichende zahlentheoretische Probleme zu lösen. Und sowohl DwZ als auch OPGV sind von den Autoren selbst aus fremdsprachigen Originalen ins Englische übersetzt worden.
Die Tatsachen der Ähnlichkeiten zwischen den beiden Romanen, ihrer fast gleichzeitigen Veröffentlichung in den Staaten sowie des Nachdrucks, mit denen ihre hiesigen Verleger sie hypen[273], signalisieren offenbar die Grundsteinlegung eines brandneuen kommerziellen Genres – des »Mathemelodrams«. Diese Entwicklung ist eigentlich keine große Überraschung angesichts des Erfolgs einiger der oben genannten Titel, ganz zu schweigen vom kommerziellen Erfolg anderer in den letzten Jahren aufgekommener technikintensiver Genres (der Cyberpunk des Neuromancers und seiner Nachfahren, der Technothriller à la Tom Clancy, das Beherzte-junge-Hacker-vereiteln-üble-Machenschaften-monolithischer-Institutionen-Subgenre à la Sneakers – Die Lautlosen, Hackers – Im Netz des FBI,The Matrix usw.).
Wie DwZ und OPGV in der Literatur und Fermats dunkler Raum und Genie und Wahnsinn im Sachbuch veranschaulichen, lässt sich das Mathemelodram vereinfacht definieren als Kombination der charmanten »Berufsreisebeschreibungen«[274] von Genreautoren wie Arthur Hailey und Michael Crichton mit einigen der wichtigeren allegorischen Funktionen, denen andere Genres und ihre Helden oft dienen – dem Western-Sheriff als Emblem der apollinischen Ordnung, dem Noir-Detektiv als existenzialistischem Helden, dem beherzten jungen Hacker als Trickster à la Odysseus. Die allegorische Schablone des Mathemelodrams scheint eher klassische Tragik anzupeilen und sein Held eher eine Prometheus-Ikarus-Gestalt zu sein, deren Höhenluftgenialität Hybris und fatale Fehler nach sich zieht.[275] Das klingt nicht nur ein bisschen bombastisch, das ist es auch; es ist aber auch eine angemessene Beschreibung der Art und Weise, wie Mathemelodramen das Projekt der reinen Mathematik charakterisieren – als nichts Geringeres nämlich als die lebenslange Suche nach göttlicher Wahrheit. Eigentümlich ist hier nur, dass die Entscheidung, ob ein bestimmter Leser diese Charakterisierung annimmt oder als anmaßend und albern ablehnt, oft weniger von der Qualität der Mathemelodramen abhängt als von gewissen biografischen Gegebenheiten seitens des Lesers, will sagen seines Vorwissens im Bereich höherer Mathematik.
Auf diese Eigentümlichkeit stößt man häufig beim Besprechen oder Beurteilen von »Genreliteratur«, also Erzählungen, die man mit Fug und Recht als »Literatur, die man mögen wird, wenn man solche Literatur mag« definieren kann. Genreliteratur bringt spezifische Bewertungskriterien mit sich. An die Stelle der grundsätzlich ästhetischen Analyse, die der Rezensent beim Löwenanteil der Literatur durchführt – »Ist dieser Text gut?« –, treten bei der Kritik von Genreliteratur Fragen nach der Rhetorik – »Wen wird dieser Text ansprechen?«. Anders gesagt, wie bei aller handelsüblichen Genreliteratur betrifft die zentrale Frage bei Romanen wie DwZ und OPGV die von Rhetorikern so genannte »Leserschaft«: An wen richten sich diese Bücher? Und findet diese Leserschaft die Romane nach denselben Kriterien befriedigend, nach denen sie andere Mathemelodramen befriedigend findet? Und wenn nicht, gibt es dann andere Leserschaften, die diese Bücher eher befriedigen dürften? Und so weiter. Ein Problem für Rezensenten ist das unter anderem, weil Buchkritiken generell kurz, klar und relativ leichtverständlich zu sein haben, und rhetorische Kriterien können schnell zu komplexen und tendenziell paradoxen Schlussfolgerungen führen. Im Fall von Die wilden Zahlen und Onkel Petros und die Goldbach’sche Vermutung läuft das Paradox darauf hinaus, dass die Leserschaft, die die abgehobene und enkomiastische Einschätzung reiner Mathematik zu schätzen weiß, zugleich die Leserschaft ist, die vom oft vagen, reduktiven und widersprüchlichen Umgang der Romane mit ihrem mathematischen Stoff am ehesten enttäuscht ist.
Einfacher und eher im üblichen Rezensionsstil gesagt: Die beiden Romane sind nicht besonders gut (der eine ist sogar richtig schlecht); aber ihr spezifischer Qualitätsmangel differiert nach Maßgabe des jeweiligen Leservorwissens in Bezug auf die exotischen Wissensgebiete, die die beiden Romane dramatisieren wollen.[276]
Nicht nur der professionelle Mathematiker, sondern praktisch jeder, der je das Glück hatte, höhere Mathematik zu studieren, weiß, welch ein Jammer es ist, dass die meisten Schüler nie über die elementarsten Grundlagen des Fachs hinauskommen und daher nur die trockenen und brutalen Problemlösungen der Infinitesimalrechnung und Einführungen in die Statistik kennenlernen (was damit zu vergleichen wäre, beim Lyrikstudium auf der Ebene von Grammatik und Syntax abzubrechen). Die moderne Mathematik hat eine Pyramidenstruktur, und die breite Basis macht oft keinen Spaß. Der Spaß und die Tiefgründigkeit fangen erst auf den höheren Ebenen von Geometrie, Topologie, Analysis, Zahlentheorie und mathematischer Logik an, beim Sturm auf die Spitze, wenn die Taschenrechner und kontextlosen Formeln wegfallen und man es nur noch mit Bleistift, Papier und »Genialität« zu tun hat, also der eigentümlichen Mischung aus Verstand und ekstatischer Kreativität, die das Beste am menschlichen Geist auszeichnet. Wer privilegiert genug war (oder dazu gezwungen wurde), sie zu studieren, erkennt, dass die Praxis der höheren Mathematik sehr wohl eine »Kunst«[277] ist, die genau wie die anderen Künste der Inspiration, des Muts, der Plackerei usw. bedarf … nur mit der zusätzlichen Einschränkung, dass die »Wahrheiten«, die die Kunst der Mathematik zum Ausdruck bringen will, deduktiv sind, unerlässlich, Wahrheiten a priori, die durch logische Beweise abgeleitet und demonstriert werden können.[278]
Es ist gut möglich, dass die Mathematik im Allgemeinen nicht zu den Künsten gezählt wird, eben weil so viel pyramidale Ausbildung und Praxis erforderlich ist, um ihre Ästhetik goutieren zu können; vielleicht ist Mathematik wirklich nur etwas für Kenner.[279] Und vielleicht liegt es an der absoluten und ganz und gar abstrakten Wahrheit der Mathematik, dass so viele Menschen das Fach trocken oder leidenschaftslos finden und ihre Praktiker für kontaktscheue Fachidioten halten. Manch ein Science-Leser dürfte nur allzu vertraut sein mit der Frustration, die Schönheit und Kraft der Gauss’schen Differenzialgeometrie oder das Banach-Tarski-Paradox jemandem erklären zu wollen, der sich nur an die Schinderei des Ausklammerns bei quadratischen Gleichungen oder das Grauen der Zwischenprüfung in Trigonometrie erinnert. Die seltsame Angst und Abneigung, die schon die Anfangsgründe der Mathematik bei vielen Menschen erzeugen[280], gehört zu den Aspekten, die das Aufkommen des Mathemelodrams gerade so spannend machen: Wenn das neue Genre Mittel und Wege findet, der reinen Mathematik Leben einzuflößen und dem Durchschnittsleser etwas von der außerordentlichen Schönheit und dem Feuer des Fachs zu vermitteln[281], dann können die Leser und die Mathematik davon nur profitieren.
Schogts und Doxiadis’ Romane versuchen auch auf ähnliche Weisen, die Mathematik zu vermenschlichen und zu beleben. Nicht nur legen sich die Protagonisten beider Bücher krumm, um klassische Probleme der Zahlentheorie zu lösen (in OPGV die reale Goldbach’sche Vermutung, in DwZ eine fiktive Vexierfrage namens »Beauregards Problem der wilden Zahlen«, DwZ 10[282]), beide denken auch ihre Projekte praktisch nur unter den Aspekten des Ruhms und der persönlichen Errungenschaften. Isaac Swift, die Hauptfigur von DwZ, ein einst vielversprechender Student, dessen Profikarriere nicht vom Fleck kommt, schwelgt in Tagträumen von der Lösung des Problems der wilden Zahlen und fantasiert von »einem internationalen Symposium, das mir zu Ehren veranstaltet wurde … und Frauen würden mich jetzt, da ich nicht einfach nur ein Mathematiker, sondern ein berühmter Mathematiker war, plötzlich attraktiv finden, nicht nur exzentrisch oder vielleicht noch amüsant.« (DwZ 19) Und Petros Papachristos, der Protagonist von OPGV, ist zwar schon ein hoch angesehener Zahlentheoretiker und bekleidet eine Stiftungsprofessur an der Universität München, trotzdem sucht er
in der Mathematik einen spektakulären, fast transzendenten Erfolg, also einen totalen Triumph, der ihm […] Weltruhm verschaffen […] sollte […]. Und damit es ein vollkommener Triumph sein würde, musste dieser ausschließlich aus seinen eigenen Forschungsresultaten hervorgehen. (OPGV 88)
Trotz ihrer verschiedenen Lebenswege und Leistungen leiden die beiden Protagonisten gleichermaßen (und des Langen und Breiten) unter der Unsicherheit, im Vergleich zu ihren Kollegen den Kürzeren zu ziehen, und der Angst, dass jemand »ihre« Probleme vor ihnen lösen könne (Petros freut sich richtig, als Srinivasa Ramanujan[283] in jungen Jahren an Tuberkulose stirbt, weil er einzig und allein dessen »phänomenalen Verstand […] für scharf genug [hielt], um ihm die Siegestrophäe zu entreißen«, OPGV 98). Beider Protagonisten Werk wird als banger Wettlauf gegen Uhr und Kalender dargestellt; beide Romane legen Wert auf die Tatsache, dass die Mathematik »ein der Jugend vorbehaltenes Spiel« (OPGV 89) ist und dass die meisten bedeutenden Mathematiker ihre besten Arbeiten vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr vorlegten.[284] Und beide Helden brüten darüber und äußern sich ausgiebig zur spezifischen Verzweiflung, ein guter, aber kein unsterblich großer Mathematiker zu sein, also nur ein Mathematiker, der brillant genug ist, um das Genie von Riemann, Euler, Poincaré u.a. beurteilen zu können, aber nicht brillant genug, um ihnen zu gleichen. Wie Petrus seinem Neffen in OPGV erklärt –
denke nur an Hardy und Littlewood, alle beide erstklassige Mathematiker! Sie gelangten möglicherweise in die Vorhalle des Ruhms – eine sehr große Vorhalle, bedenke –, aber nicht einmal ihnen wurde ein Standbild in dem großartigen Portal neben Euklid, Archimedes, Newton, Euler, Gauß … errichtet. Doch genau das war das einzige Ziel meines Ehrgeizes, und allein der Beweis der Goldbach’schen Vermutung hätte mich dorthin bringen können. Zumal die Lösung bedeutet hätte, dass das tiefste Geheimnis der Primzahlen geknackt worden wäre. (OPGV 125)
– während Isaac Swift in DwZ, deutlich weiter unten in der akademischen Hackordnung, praktisch ununterbrochen an sich selbst herumkrittelt, er sei
unzweifelhaft auf dem Weg in die ewige Anonymität. Man wird nie zitiert, man sieht sich dazu verurteilt, bei Kongressen in den hinteren Reihen zu sitzen, sofern es einem überhaupt gelingt, das erforderliche Geld für die Teilnahme an diesen Zusammenkünften aufzutreiben. (DwZ 16)
… usw.
Interessanterweise besteht die größte Gemeinsamkeit von DwZ und OPGV im oben erwähnten rhetorischen Problem der Leserschaft, während die größten Unterschiede die Methoden der beiden Romane im Umgang mit diesem Problem betreffen. Seltsam, dass gerade der bessere Roman in Bezug auf seine Leserschaft verwirrter und verwirrender zu sein scheint.
Die wilden Zahlen, übersetzt aus dem niederländischen Original De wilde Getallen, wobei der Schauplatz aus Amsterdam in ein namenloses Unistädtchen der USA verlegt wurde, ist nicht der bessere Roman. Sein Bauplan scheint der einer Schlemihlkomödie à la Thurbers »Mitty« oder Kingsley Amis’ Glück für Jim zu sein. Isaac ist ein Otto Normalverbraucher, der am Romananfang an akutem Publikationsmangel leidet und dazu verurteilt ist, für seinen Superstarkollegen Dimitri Arkanow die Drecksarbeit der Berechnungen und ›Verfeinerungen‹ zu erledigen.[285] Er ist fünfunddreißig und gibt solche Kommentare von sich:
Als ich nach Hause fuhr, fühlte ich mich alt und deprimiert. Anscheinend gab es in meinem Alter keinen Platz mehr für Träume. Alles wurde an Erfolg oder Misserfolg gemessen. (DwZ 66) Ich […] gelangte zu dem Schluss, dass ich ein in jeder Hinsicht minderwertiges Wesen war. (DwZ 130)
Seine Aussichten ändern sich plötzlich, als Isaac darauf verfällt, über »wilde Zahlen« zu arbeiten, die folgendermaßen beschrieben werden:
Beauregard hatte ein paar trügerisch einfache Rechenoperationen definiert. Wenn man diese mit ganzen Zahlen ausführt, erhält man zunächst Brüche; wiederholt man diese Schritte aber oft genug, ist das Ergebnis schließlich wieder eine ganze Zahl [häh?]. Oder, wie Beauregard zufrieden festgestellt hatte: »In allen Zahlen ist eine wilde Zahl verborgen, die zum Vorschein kommt, wenn man sie nur lange genug provoziert.« Aus der 0 erhält man die wilde Zahl 11, aus 1 wird 67, 2 ergibt sich selbst, 3 entpuppt sich auf einmal als 4769, 4 schließlich führt überraschend genug wieder zum Ergebnis 67.« (DwZ 45)
In einer Migränenachtschicht kommt Swift eine Erleuchtung, und er glaubt, die lange gesuchte Antwort auf das Wilde-Zahlen-Problem gefunden zu haben, das offenbar eine fiktive Variante zahlentheoretischer Rätsel wie des Problems der Primzahlzwillinge[286] ist:
Wie viele wilde Zahlen gibt es eigentlich? Gibt es nur ein paar bestimmte, die immer wieder auftauchen, und wenn ja, welche, oder gibt es unendlich viele? (DwZ 47)
Isaacs Beweis, dass die Menge aller wilden Zahlen unendlich ist (ein Beweis, für den man irgendwie sowohl die »K-Reduzibilität« und die »Kalibratormengen« aus Anm. 18 braucht als auch sogenannte »zahme« und »pseudowilde Zahlen«), scheint zunächst hieb- und stichfest zu sein – er wird von Arkanow bestätigt, gelobt und bei einem prestigeträchtigen Fachblatt eingereicht –, katapultiert Swift ins mathematische Rampenlicht und löst alle möglichen bekloppten Verwicklungen aus, bevor sich schließlich herausstellt, dass der Beweis doch nicht hergeleitet werden kann (aber da hat Isaac bei einer geschiedenen Zynikerin, die karrieretechnisch ebenfalls eine scheußliche Achterbahnfahrt hinter sich hat, schon die einzig wahre Liebe gefunden, von daher ist am Ende alles paletti).
Das Hauptproblem an Die wilden Zahlen ist nur auf den ersten Blick künstlerischer, in Wahrheit aber rhetorischer Natur. Die Mathematik des Romans ist, wie gesagt, frei erfunden, was noch kein Problem sein muss – große Science-Fiction von Asimov bis Larry Niven wimmelt nur so von fiktiver Mathematik und aus der Luft gegriffener Hochtechnologie. Zum Problem wird vielmehr, dass die fiktive Mathematik in DwZ sehr wichtig, aber auch sehr vage ist und auf endlos wiederholtes und kontextloses Wortgeklingel hinausläuft (»Der Trick besteht darin, eine Reihe unendlicher Mengen pseudowilder Zahlen zu konstruieren, so dass ihr Durchschnitt ausschließlich wilde Zahlen umfasst«, DwZ 117; »Wenn ich nun deren K-Reduzibilität mit Hilfe einer geeigneten Kalibratormenge bestimmen würde«, DwZ 57), das nie definiert oder auch nur beiläufig veranschaulicht wird, sodass der Fachjargon des Romans an das Kauderwelsch schlechter alter Science-Fiction-Plots erinnert (»Schnell, Lieutenant, bereiten Sie das antigenische Nanomodul für den sofortigen Stabilisationsflux vor!«). Ähnlich vage und abgeschmackt schildert der Roman die eigentliche mathematische Arbeit, an die sich Isaac Swift offenbar aus Prinzip erst spätnachts macht, übernächtigt, unrasiert und ausgepowert, »komplexe Beweisführungen im Kopf, die sich jedoch nur im Kreis drehten« (DwZ 58), »die äußerst komplexen Abstraktionen, die doch nur von einer Handvoll Menschen verstanden wurden« (DwZ 64).[287]
Von den intrinsischen Schwächen mal abgesehen, deutet die zusammengestückelte Mathematik darauf hin, dass sich Die wilden Zahlen vorzugsweise an Leser ohne oder mit wenig fortgeschrittenem mathematischen Sachverstand richtet, eine Leserschaft, die entweder einfach nicht weiß, dass die beeindruckend klingende Begrifflichkeit Stuss ist, oder die es nicht juckt, dass die Begriffe nie miteinander oder mit anderen verknüpft werden. Auch das ist nicht zwangsläufig ein Problem; viele erfolgreiche Bücher, von Robert A. Heinleins Fremder in einer fremden Welt bis zu James Ellroys Stadt der Teufel, nutzen pro forma Genrekonventionen als Gerüst für in Wahrheit komplexe Dramen, die Grundfragen des Menschen aufwerfen (sprich für Literatur). Es stimmt aber: Ein Genreroman, dessen spezifischen Genreelementen die technische Tiefe oder Resonanz fehlt, muss sich, um anzukommen, auf andere, traditionellere literarische Eigenschaften wie Plot, Figurenzeichnung, Stil usw. besinnen. Und das ist ein schwerwiegendes Problem von DwZ, denn als literarische Erzählung ist der Roman unter aller Kanone, seine Figuren sind zweidimensionale Strichmännchen (der neurotische Schlemihl, der gütige Mentor, der aufgeblasene alte Krauter, der verschlagene Reporter, die Verlobte, die Das Alles Nicht Versteht), und der Plot ist haarsträubend unplausibel (den größten Teil des Buches sind beispielsweise weder Isaac noch Nobelpreisträger Arkanow imstande, in Isaacs Beweisführung den Denkfehler auf Erstsemesterniveau zu entdecken, der auf dem Höhepunkt des Romans dem Schlemihl dann die Sahnetorte ins Gesicht klatscht). Das Schlimmste, zumindest aber Störendste, ist, dass der Autor-Übersetzer über ein bestenfalls rudimentäres Englisch verfügt[288], und im Detail ist die Prosa der amerikanischen Ausgabe von Wild Numbers oft so steif und holprig – »Meine isolierte Existenz ließ mich jedes Maß verlieren«[289]; »Es ist mir heute noch ein Mysterium, wie das flackernde Flämmchen meiner Intuition den zahllosen Anstürmen meiner Zweifel widerstehen konnte«; »Ein Reißverschluss ging auf. Mit einer lasziven Bewegung ließ sie das Kleid von ihren Schultern gleiten« (DwZ 69) –, so gespickt mit den Schnitzern eines Nichtmuttersprachlers – »Sie schmollte die Lippen«; »In der Ferne blinkten die drei weißen und die zwei roten Strahler des Fernsehmasts«; »Ich möchte mein Denken nicht ersticken, um für die Mängel einer Maschine zu rechtfertigen«; »Ich habe meine Liebe für die Mathematik wiedergefunden« –, so unfreiwillig komisch – »Ihre Zunge, tief in meinem Mund, ließ mir wenig Spielraum für mathematische Reflexionen« (DwZ 92) oder schlicht und einfach so grottenschlecht – »Es blieb ihnen keine andere Wahl, als sich wie Blüten im strahlenden Sonnenschein seiner Anwesenheit zu öffnen und ihm ihre innersten Geheimnisse zu offenbaren« –, dass man als Leser Fremdschämattacken um des Autors willen bekommt.[290]
Klar, auch Onkel Petros und die Goldbach’sche Vermutung ist vom Autor übersetzt worden[291], und auch hier ist die Prosa oft umständlich oder gestelzt (»Der Brauch dieser jährlichen Zusammenkunft war von meinem Großvater begründet worden und bedeutete folglich eine heilige Verpflichtung für unsere ausgesprochen traditionsbewusste Familie«, OPGV 12; »Die folgenden Tage spielte ich den Kranken, damit ich zu Hause war, wenn zur üblichen Zeit die Post kam«, OPGV 20; »Ich war nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er – davon war ich jetzt ohne die Spur eines Zweifels überzeugt«[292], OPGV 194, usw.). Hier wird das holprige Englisch aber durch die griechisch-europäische Kulisse von OPGV entschärft wie auch durch die Tatsache, dass der Roman großenteils vor 1930 spielt. Seine Struktur von Rahmen- und Binnenhandlung mutet dabei fast viktorianisch an: Der Erzähler blickt aus dem besten Mannesalter auf seine Kindheitsbeziehung zu einem eigenbrötlerischen Onkel zurück und beschreibt die Lebensgeschichte dieses Petros Papachristos in einer Reihe von Rückblenden, die ihm der große Mathematiker höchstpersönlich erzählt hat. Trotz der aufwendigen Kulisse und der verschachtelten Struktur ist es Papachristos’ zwangsneurotische und gequälte Karriere, die Herz und Triebfeder des Romans darstellt.
OPGV ist einer Schlemihlkomödie diametral entgegengesetzt. Der Roman ist eher eine Kreuzung aus dem Ikarusmythos und Goethes Werther, und er ist so ernst wie ein Herzinfarkt.[293] Der um die Jahrhundertwende in Griechenland geborene Petros Papachristos entpuppt sich schnell als Wunderkind und wird quer durch Europa an die Berliner Universität verfrachtet, wo er 1916 für eine Dissertation promoviert wird, in der er »ein Problem aus der Theorie der Differenzialgleichungen« löst (OPGV 79), mit denen sich der junge Petros einen Namen macht, weil sie bei der Zielausrichtung der Artillerie im Ersten Weltkrieg Anwendung finden. Ebenfalls an der Uni Berlin erlebt Petros die erste und einzige Liebe seines Lebens mit der Tochter seines Vermieters, die ihm Deutschunterricht erteilt (eine junge Dame mit dem eher unsubtilen Namen Isolde), mit seinen Gefühlen spielt und dann mit einem preußischen Offizier durchbrennt. Es ist nicht direkt die Sternstunde des Romans, als Doxiadis diese (Schauder-)Isolde zu Petros’ Beweggrund stilisiert, sich hinter die Goldbach’sche Vermutung zu klemmen:
Da er ihr Herz zurückgewinnen wollte, fasste Petros den Entschluss, dass es jetzt keine Halbheiten mehr geben dürfe. Um ihr später in reiferem Alter zu imponieren, waren verblüffende wissenschaftliche Ergebnisse nötig; er musste also nichts Geringeres als ein »großer Mathematiker« werden. Aber wie wird man ein großer Mathematiker? Ganz einfach: Man muss nur ein großes mathematisches Problem lösen! »Welches ist das schwierigste Problem in der Mathematik, Herr Professor?«, fragte Petros [seinen Berliner Doktorvater] bei der nächsten Zusammenkunft. Er versuchte, dabei eine rein akademische Neugier vorzutäuschen. (OPGV 78)
Petros widmet der Goldbach’schen Vermutung, diesem Everest der ungelösten Probleme, daraufhin den Rest seines Berufslebens. Im Rahmen seiner zwanzigjährigen Knochenarbeit – nach deren Scheitern er am Ende vor einem Trümmerhaufen steht – wechseln Phasen der Zurückgezogenheit in Deutschland mit langen Reisen nach Cambridge und Wien ab, wo Papachristos gesellschaftlichen Umgang mit einigen der wichtigsten realhistorischen Mathematiker des 20. Jahrhunderts pflegt. Dieses Forrest-Gump’sche Verfahren – also die Einführung realer berühmter Mathematiker in Plot und Dialoge des Romans – lässt darauf schließen, dass OPGV für Leser geschrieben wurde, die mit höherer Mathematik so weit vertraut sind, dass sie die Namen Hardy, Ramanujan, Gödel und Turing kennen; viele dieser Promiszenen sind aber kitschig und ärgerlich. Der vielschichtige und sensible G.H. Hardy, den der Leser der Apology kennt, wird in Doxiadis’ Roman beispielsweise auf einen gichtigen alten Miesepeter reduziert, der ständig Albernheiten von sich gibt wie etwa »Halten Sie sich immer vor Augen, Papachristos, dass diese verfluchte ›Vermutung‹ teuflisch schwer ist!« (OPGV 137).
Die Behandlung des »realhistorischen« Hardy ist ein gutes Beispiel für das spezifische rhetorische Problem von OPGV: Die Leser, die schon wissen, wer Godfrey Harold Hardy ist, sind auch die Leser, die von seiner Darstellung im Roman am ehesten abgestoßen sind.[294] Und in diese logisch-rhetorischen Schwierigkeiten gerät Doxiadis’ Roman wieder und wieder, weil seine große Schwäche als Genreroman eben darin besteht, sich nicht entscheiden zu können, für welche Leserschaft er eigentlich da sein will.
Wie schon bei Schogts DwZ lässt sich diese Entscheidungsunfähigkeit am besten daran zeigen, wie hier die reine Mathematik verarbeitet wird, wobei diese in OPGV zu 100 Prozent real und mit den Figuren und Themen des Romans auf vertrackte Weise verwoben ist. Petros’ Herkulesarbeit an seinem Beweis wird dem Leser in Form von Kaminansprachen an seinen Neffen präsentiert (d.h. dem Erzähler als Kind), dessen mathematische Kenntnisse schon weit genug gediehen sind, dass Petros ihm kurze Minivorträge über die Geschichte der Zahlentheorie halten kann, von Euklids Verwendung der Reductio ad absurdum, um die Unendlichkeit der Primzahlen zu beweisen, über die wichtigsten Theoreme von Fermat und Euler sowie Gauss’ Abschätzung der Verteilung von Primzahlen mittels Logarithmen bis hin zur Goldbach’schen Vermutung, die Petros persönlich mithilfe seiner »Theorie der Partitionen (d.i. die Theorie möglicher Darstellungen natürlicher Zahlen als Summe)« (OPGV 96) analytisch unter Beschuss nimmt.
Es wird aber noch komplizierter, weil der Erzähler als Erwachsener (also der, der die Rückblenden mit Onkel P. erzählt) dann selbst handfestes mathematisches Hintergrundwissen mitbringt und den Roman seinerseits mit erläuternden Randnotizen zu allem Möglichen von Kaváfis-Gedichten bis zur Riemann’schen Zeta-Funktion spickt. Dummerweise sind Doxiadis’ Entscheidungen, was erklärt werden muss und was nicht, widersprüchlich bis zur Absurdität, ein deutliches Zeichen, dass er sich über seine Leserschaft nicht im Klaren ist. Das Problem ist weniger, dass es lange und belanglose Fußnoten, etwa zu Gödels Selbstmord, Poincarés Theorie des Unbewussten oder den neuartigen Eigenschaften der Zahl 1729, gibt.[295] Es ist eher, dass der Erzähler von OPGV sich manchmal Zeit nimmt, grundlegende Begriffe wie »natürliche Zahlen« (»die positiven ganzen Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 …«, OPGV 93) und »Primzahlen« (»natürliche Zahlen, die nur durch 1 und sich selbst teilbar sein, wie beispielsweise 2, 3, 5, 7, 11«, OPGV 93) sorgfältig zu erklären, oder gönnerhafte Randbemerkungen abgibt – »Ich sollte fachfremde Leser darauf hinweisen, dass man Mathematikbücher normalerweise nicht wie Romane verschlingt, etwa im Bett, in der Badewanne, im Sessel lümmelnd oder auf der Toilette kauernd« (OPGV 192 – womit er offenkundig von einer nicht mathematischen Leserschaft ausgeht) –, andererseits ist OPGV aber auch vollgestopft mit exklusiven technischen Wendungen à la »n dividiert durch den natürlichen Logarithmus von n« (OPGV 76), »dem Axiomensystem von Peano und Dedekind« (OPGV 146), »eine partielle Differenzialgleichung vom Clairaut’schen Typ« (OPGV 190) und (ehrlich!) »Die Ordnung der Torsionsuntergruppen von Ωn und die Spektralsequenz von Adams« (OPGV 168), und mit solchen Wendungen schmeißt Doxiadis ohne jede Erläuterung um sich, was (zumal im Verein mit den Schlüsselauftritten von Gödel, Littlewood u.a.) nun wieder einen mathematisch hochgebildeten Leser voraussetzt.
Wenn man die seltsam basalen Definitionen des Erzählers als bloße Ausrutscher oder Patzer abtut und sich sagt, dass die Zielgruppe von OPGV tatsächlich ein solides mathematisches Vorwissen mitbringt[296], bleibt ein immer noch seltsamer Widerspruch. Dieser liegt in den Diskussionen der Goldbach’schen Vermutung selbst sowie ihrer Geschichte im frühen 20. Jahrhundert. Zum einen geht OPGV praktisch überhaupt nicht auf die Unterscheidung zwischen Eulers »starker« Goldbach’scher Vermutung (siehe oben in Anm. 9) und der genauso berühmten »schwachen« Version der Vermutung ein, der zufolge jede ungerade Zahl größer als 5 die Summe dreier Primzahlen ist. Zum Zweiten werden im gesamten Roman trotz aller detaillierten Beschreibungen von Petros’ Mühen und der langen Exkurse zur Zahlentheorie vor dem Zweiten Weltkrieg weder die Euler’sche Phi-Funktion noch die genialen »Siebverfahren« erwähnt, mit denen reale Mathematiker in den 20er- und 30er-Jahren die Goldbach’sche Vermutung in all ihren Formen und Fortsetzungen angriffen. Während OPGV seitenlang auf Petros’ Ängste wegen Ramanujans Arbeit an der Goldbach’schen Vermutung eingeht (die realiter geringfügig war), erwähnt der Roman mit keinem Wort die tatsächlich wichtigen zeitgenössischen Publikationen zum Thema – Schnirelmanns Beweis von 1931, dass jede natürliche Zahl die Summe von weniger als 21 Primzahlen ist, Estermanns Beweis von 1938, dass fast alle geraden Zahlen die Summen zweier Primzahlen sind[297] usw. Und was das Seltsamste ist: Obwohl Doxiadis’ Erzähler viel Zeit auf den Unterschied zwischen algebraischer und analytischer Zahlentheorie verwendet (und außerdem Gauss’ »asymptotische« Hypothese des Primzahlsatzes nachzeichnet sowie den Beweis dieses Satzes durch Hadamard und Vallée-Poussin, die 1896 analytische Werkzeuge zu Hilfe nahmen), findet sich im ganzen Buch kein Hinweis auf den russischen Mathematiker Iwan Matwejewitsch Winogradow, der die analytische Zahlentheorie 1937 revolutionierte, indem er eine wirksame Methode zur Auswertung trigonometrischer Summen entwickelte, mit denen er die schwache Goldbach’sche Vermutung beweisen konnte, dass nämlich alle ausreichend großen ungeraden Zahlen die Summe dreier Primzahlen sind.[298] Realgeschichtlich wäre Winogradow der echte Rivale von Petros gewesen, der »phänomenale Verstand«, den er wirklich zu fürchten hatte, und nicht Gödels Erster Unvollständigkeitssatz, sondern der Satz von Winogradow hätte Petros zur Verzweiflung treiben können.[299]
Man muss sich an dieser Stelle klarmachen, dass keine dieser Auslassungen eine Rolle spielen würde, wäre es Doxiadis nicht so wichtig gewesen, OPGV auf echter Zahlentheorie und realgeschichtlichen Figuren zu fundieren. Nach Lage der Dinge stellt OPGV sich selbst ein rhetorisches Bein: Die Leserschaft, die sich gut genug auskennt, um die in den Roman eingearbeitete »reale« Mathematik und Geschichte zu goutieren, ist auch die Leserschaft, der als Erstes auffällt, wie viel faktische historische Arbeit zur Goldbach’schen Vermutung im Roman verblüffenderweise fehlt. Wir haben es also noch einmal mit diesem seltsamen Paradox zu tun: Die notwendigen Bedingungen, den Roman zu mögen, sind auch die zureichenden Bedingungen, ihn nicht zu mögen; er wird davon kaputtgemacht, dass sein Autor nicht weiß, für wen er schreiben will.
Es wäre Doxiadis gegenüber unfair, würde man nicht betonen, dass sowohl sein Roman als auch dessen Mängel weit interessanter als DwZ sind. Außerdem enthält OPGV bewegende und richtig schöne Passagen –
Die Einsamkeit eines Wissenschaftlers, der sich der mathematischen Forschung verschrieben hat, ist von ganz besonderer Art. Er lebt im wahrsten Sinne des Wortes in einem Universum, das vollkommen unzugänglich ist, und zwar sowohl für die breite Öffentlichkeit als auch für seine unmittelbare Umgebung. Nicht einmal seine nächsten Angehörigen können an seinen Freuden und Nöten ernsthaft teilnehmen, da es für sie so gut wie unmöglich ist, seine Gedanken nachzuvollziehen. (OPGV 102)
– sowie mindestens ein Unterthema echter Erkenntnis und Originalität, das sogar über das hinausreicht, was Hardy über die Tragödien der Mathematik zu sagen hatte. Es betrifft Petros’ Ehrgeiz und seinen Ort in der mathematischen Forschungsgemeinschaft, und sein allegorischer Prüfstein ist weniger Ikarus als Minos, der kretische König, der (Sie erinnern sich) einen gewissen großen weißen Stier, den der Meeresgott Poseidon ihm für die Thronerlangung aus Gischt erschaffen hatte, so sehr begehrte, dass er sein Versprechen brach, dem Gott zu opfern, was immer aus dem Meer erscheine, und den Stier einfach behielt.[300]
Es stimmt, die Arbeit an originellen mathematischen Problemen ist »einsam«. Es stimmt aber auch, dass professionelle Mathematiker eine Gemeinschaft bilden. Eine Wahrheit kann Petros offenbar nicht begreifen: »Ruhm und Unsterblichkeit«, nach denen er lechzt, hängen ausschließlich davon ab, welchen Wert seine Arbeit für andere Mathematiker hat. Die Rolle der Forschungsgemeinschaft ist in praktisch allen Einzelwissenschaften so bedeutend, dass die meisten Leser von Science wahrscheinlich schon bestätigen können, was Lewis Hyde 1983 seiner allgemeineren Leserschaft vermitteln wollte:
Eine solche Systematisierung der Fakten [übersteigt] die Kräfte eines Einzelnen oder auch einer Generation […]. Alle intellektuellen Großprojekte sind eine Gemeinschaftsarbeit, bei der jeder Forscher so in die Gedanken seiner Kollegen eintaucht, dass ein »Gruppengeist« mit einer alle Individuen und Gruppen übersteigenden kognitiven Kraft entsteht.[301]
Der Erzähler schreibt seinem Onkel Petros pathetisch die »Hauptsünde: Stolz« zu (OPGV 203), diagnostiziert, seine Lähmung und sein Rückzug in die Abgeschiedenheit seien »eine Art Burn-out-Syndrom« (OPGV 200) und er sei »nach so vielen Jahren der fruchtlosen wissenschaftlichen Angriffe des Kampfes überdrüssig geworden« (OPGV 200), aber immer mehr zeichnet sich ab, dass die wahre Ursache von Petros’ Tragödie seine immer radikalere Abkehr von der Forschungsgemeinschaft ist, denn sein Ehrgeiz, die Goldbach’sche Vermutung zu beweisen, mutiert zu einer Habsucht, die seine Kollegen erst zu Rivalen und dann zu Feinden macht. Der Mittelteil des Romans zeichnet diese Entwicklung sehr schön nach. Es beginnt in Cambridge, wo Petros das Angebot der beruflichen Zusammenarbeit mit Hardy und Littlewood ablehnt, weil er Angst hat, »ihre Probleme würden zu seinen Problemen werden. Und was noch schlimmer wäre: Ihr Ruhm würde notwendigerweise seinen eigenen überstrahlen« (OPGV 87). Er entscheidet sich, allein an der G.V. weiterzuarbeiten, und zieht sich dafür nach München zurück. In jahrelanger Abschottung und ununterbrochener Arbeit wird aus der Zurückgezogenheit dort Heimlichtuerei, und Petros’ Angst vor anderen und verdächtigen Mathematikern wächst sich
zu einer Paranoia aus. Er entwickelte einen beachtlichen Einfallsreichtum, um die Titel der von ihm entliehenen Bibliotheksbücher zu verschleiern, damit seine Kollegen ihm nicht auf die Schliche kommen konnten. Wenn er ein Buch bestellte, das ihn wirklich interessierte, fügte er noch drei oder vier weitere unwichtige Titel hinzu. Aus demselben Grund täuschte er Interesse an einem für ihn belanglosen Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift vor, nur um in den Besitz eines Bandes zu gelangen, der einen für ihn relevanten Beitrag enthielt (OPGV 97)
… und so weiter. (An dieser Stelle kommt es auch zu Petros’ erwähnter »wilder Freude« [OPGV 98], als er von Ramanujans Tod erfährt.)
Zur eigentlichen ›minoischen‹ Krise kommt es aber auf halber Strecke des Romans, als Petros bei seiner Arbeit an der Goldbach’schen Vermutung ein wichtiger »Zwischenschritt« gelingt – ein »tiefgründiges, bahnbrechendes Theorem, das […] neue Sichtweisen in der Zahlentheorie eröffnete« (OPGV 100) – und entscheiden muss, was er damit anfängt. Petros’ innere Auseinandersetzung mit der Frage, ob er sein Ergebnis veröffentlichen soll (was eigentlich eine Debatte à la Hyde vs. Minos über die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft ist), ist wahrscheinlich die beste Szene des Romans:
Seine Veröffentlichung würde ihm zweifelsohne Anerkennung unter den Mathematikern sichern, und zwar viel mehr noch als damals bei seiner Lösungsmethode für Differenzialgleichungen. In der Tat, eine Veröffentlichung würde ihn vermutlich an die vorderste Front der kleinen, aber erlesenen internationalen Gemeinschaft der Mathematiker katapultieren. Er würde praktisch mit Hadamard, Hardy und Littlewood auf einer Stufe stehen.
Wenn er diese neue Entdeckung der Öffentlichkeit zugänglich machte, würde er weiteren Mathematikern Wege zur Lösung auch anderer Probleme ermöglichen. Sie könnten, darauf aufbauend, zu neuen Ergebnissen gelangen. Die Grenzen auf diesem Gebiet könnten in einem Ausmaß erweitert werden, wie es sich ein einzelner einsamer Forscher – mochte er auch noch so hoch begabt sein – nicht einmal erträumte. Die erzielten Ergebnisse würden ihm bei seinen Studien zum Beweis der Goldbach’schen Vermutung helfen. Mit anderen Worten: Wenn er das Papachristos-Partitionen-Theorem […] veröffentlichen würde, stünde ihm ein Heer unbezahlter Assistenten für seine Arbeit zur Verfügung.
Leider gab es aber auch eine Kehrseite der Medaille. Es wäre denkbar, dass einer der neuen, unbezahlten (auch unerwünschten) Assistenten zufällig eine Möglichkeit sehen könnte, sein Theorem erfolgreich für den Beweis der Goldbach’schen Vermutung einzusetzen und – Gott verhüte es! – ihm zuvorzukommen.
Er brauchte nicht lange zu überlegen. Die Gefahr überwog bei weitem die Vorteile. Er würde nicht veröffentlichen! (OPGV 100f.)
Damit sind die Würfel gefallen. Und weil er kein König ist, erleidet nicht seine Gemeinschaft die unvermeidliche Bestrafung, sondern Petros selbst, weil er »den Reichtum des Ganzen« an sich raffen will.[302] »Seine« unveröffentlichte Entdeckung gelingt dann prompt, unabhängig von ihm, einem anderen Mathematiker, was Petros erst Jahre später von Hardy erfährt, der »sogar noch sein Erstaunen darüber zum Ausdruck [bringt], dass Papachristos davon nichts wusste, da die Veröffentlichung eine kleine Sensation in den Kreisen der Zahlentheoretiker gewesen sei und dem jungen Autor große Anerkennung eingebracht hätte«[303] (OPGV 121).
Mit der weiteren Plotentfaltung von OPGV wird Petros diese äsopische ›Ernte, was du gesät hast‹-Strafe ein ums andre Mal auferlegt, und jeder Schlag, der seinem Ego versetzt wird, verstärkt seine Entfremdung und Paranoia und lässt ihn nur tiefer in seinem beruflichen Solipsismus versinken. Weit mehr als jede etwaige Fehllektüre von Gödels Erstem Unvollständigkeitssatz ist es dieser Solipsismus, der zu Petros’ »Scheitern« – sowohl als Mathematiker als auch als Mensch – führt, und am Ende steht er da wie Miltons Satan, nicht nur existenziell allein, sondern auch in jenem größenwahnsinnigen Selbstmitleid, das schöpferische Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten gekannt und gefürchtet haben:
Ich, Petros Papachristos, der nie etwas wirklich Bedeutendes veröffentlicht hat, werde in die Geschichte der Mathematik eingehen – oder genauer gesagt, werde nicht eingehen – als jemand, der nichts erreicht hat. Aber damit kann ich gut leben. Ich bedaure wirklich nichts. Mittelmäßigkeit hätte mich nie befriedigt, mir nie gereicht. Dann bleibe ich lieber anonym. (OPGV 125)
Trotz des verwirrten und verwirrenden mathematischen Labyrinths, in dem sie sich verbirgt, ist die darin eingefasste Geschichte von Petros’ Fall eine Art monströser Edelstein, in dessen geschliffenen Facetten Leser mit den verschiedensten Vorkenntnissen und Geschmäckern Teile ihrer selbst gespiegelt sehen können. Sie impliziert offenbar: Wenn Mathematik Kunst sein kann, kann das manchmal auch Genreliteratur.
2000