Sieben Tage auf der Tour eines Antikandidaten
AUS DER EINLEITUNG DER ELEKTRONISCHEN AUSGABE VON »HOCH, SIMBA«, ANNO DOMINI 2000, IN AUFTRAG GEGEBEN UND BETREUT VON DER (INZWISCHEN STILLGELEGTEN) »I-PUBLISH«-ABTEILUNG VON LITTLE, BROWN AND COMPANY, INC.
Liebe Person, die Du dies liest:
Anscheinend soll ich noch etwas dazu sagen, worum es sich bei dem folgenden Dokument handelt und wie es entstanden ist.
Nach allem, was ich weiß, haben die hohen Tiere beim Rolling Stone im Herbst 1999 beschlossen, dass vier Schriftsteller, die keine politischen Journalisten sind, Artikel über die vier großen Präsidentschaftskandidaten und den Alltag ihrer Wahlkampagnen vor den Vorwahlen schreiben sollten. Zufälligerweise steht in meinem Curriculum Vitae ganz oben »KEIN POLITISCHER JOURNALIST«, der Rolling Stone rief an, warb für das Projekt und sagte, ich könne mir den Kandidaten aussuchen (was natürlich schmeichelhaft war, auch wenn ich im Nachhinein annehme, dass sie den anderen drei Schriftstellern dasselbe gesagt haben – Zeitschriften schmeicheln und carte-blanchieren immer, wenn sie was von einem wollen). Der einzige Kandidat, über den zu schreiben für mich überhaupt infrage kam, war Senator John McCain (Republikaner/Arizona), den ich kurz zuvor in der Talkshow von Charlie Rose gesehen hatte. Ich hatte den Eindruck, dass der Mann entweder unglaublich ehrlich und unverblümt ist oder aber wahnsinnig. Es gab noch andere Gründe, warum ich über McCain und auch Parteipolitik schreiben wollte, aber die werden im Dokument selbst haarklein ausbuchstabiert, von daher finde ich es unnötig, Sie hier schon damit zu belämmern.
Der Elektronikredakteur (echter Titel, also in seinem Briefkopf und allem) meint, ich solle hier einfügen, dass ich, der Autor, kein Republikaner bin und dass ich in den Vorwahlen in Illinois am Ende für Sen. Bill Bradley (Demokrat/New Jersey) gestimmt habe. Ich verstehe zwar nicht, inwiefern meine politische Einstellung irgendwen was angeht, aber ich vermute, der Einschub soll einfach klarstellen, dass keine parteiischen Motive oder konservativen Interessen hinter dem Artikel stehen, auch wenn sich Teile davon (also von dem Ihnen bevorstehenden Artikel) pro-McCain anhören könnten. Er ist nicht pro, er ist aber auch nicht anti; er soll einfach die Wahrheit sein, wie ein Einzelner sie sah.
Was muss ich sonst noch loswerden? Erst hieß es, ich sollte McCain bei seiner Kampagne in New Hampshire vor der dortigen wichtigen Vorwahl am 1. Februar begleiten. Etwa zur Weihnachtszeit entschied man sich beim Rolling Stone, den Auftrag abzusagen, weil Gouverneur Bush in den Meinungsumfragen weit vorn lag und seine Wahlkampfausgaben zehnmal so hoch wie McCains waren, und man dachte, McCain würde in NH plattgemacht, und seine Kampagne wäre schon vorbei, wenn im Rolling Stone etwas erscheinen würde, und dann würde der dumm dastehen. Als McCain in den ersten Auszählungen am 1. Februar in NH dann vorn lag, machte die Zeitschrift die nächste Kehrtwende, rief an und sagte, der Deal wäre wieder angesagt, aber jetzt sollte ich plötzlich noch am selben Abend nach NH fliegen und loslegen, was (weil ich zufälligerweise zwei Hunde mit klinisch diagnostizierten emotionalen Problemen habe, die besonderer Sorgfalt bedürfen, und immer mehrere Tage brauche, um Dogsitter anzuwerben, zu interviewen, auszuwählen, zu instruieren und dem Praxistest zu unterziehen) nicht infrage kam. Das ist hier zum Gutteil wohl nicht so richtig doll von Belang, und wichtig ist nur, dass ich am Ende erst in der Woche darauf flog und vom 7. bis zum 13. Februar zum reisenden Pressekorps von McCain2000 gehörte, was im Rückblick die interessanteste und komplizierteste Woche der ganzen Kandidatenkür der Grand Old Party im Jahr 2000 gewesen sein dürfte.
Besonders was den komplizierten Teil angeht, stellte sich nämlich eine Gesetzmäßigkeit heraus: Je interessanter eine wahlkampfbezogene Person, Begebenheit, Intrige, Strategie oder Fügung war, desto mehr Zeit und Seiten brauchte es, um sich einen Reim auf sie zu machen, und wenn sie ungereimt blieb, musste man sie beschreiben und erklären, warum man sich keinen Reim darauf machen konnte, sie aber trotzdem interessant fand, wenn man sie in einen bestimmten Kontext stellte, den man dann wiederum beschreiben musste und so weiter. Was letztlich dazu führte, dass das vertragsgemäß beim Rolling Stone abgelieferte Dokument länger und komplizierter war, als man sich dort gewünscht hatte. Sogar deutlich länger. Wenn die Zeitschrift den Artikel in seiner ursprünglichen Form brächte, machte der verantwortliche Redakteur mir klar, würde das Ding den größten Teil des für Texte zur Verfügung stehenden Platzes einnehmen und sogar noch den für Werbung vorgesehenen Platz im Heft beschneiden, was natürlich nicht anginge.[411] Und so wurde mindestens die Hälfte des Artikels weggekürzt, und der kompliziertere Kram wurde zu einem Gutteil verdichtet und vereinfacht, was besonders enttäuschend war, denn der kompliziertere Kram war, wie schon gesagt, das Interessanteste an der ganzen Sache.
Entscheidend ist Folgendes: Was Sie sich da gerade runtergeladen oder gemailt gekriegt oder sonst was haben (ich habe es mehrmals erklärt bekommen, aber noch immer nicht ganz verstanden), ist das ungekürzte Originaldokument, quasi der Director’s Cut, verbal komplett und unverstopft von feschen Fotos pralllippiger Mädchen in Diesels mit halb offenen Reißverschlüssen usw.
Es gab nur wenige Änderungen. Zum einen sind jetzt (hoffentlich) alle Tippfehler und faktischen Klopper beseitigt worden. Zum Zweiten gab es Stellen, wo sich der ursprüngliche Artikel darüber ausließ, im Rolling Stone zu stehen und dass jeder Leser gerade ein Heft vom Rolling Stone in der Hand hielt usw., und diese Stellen wurden großenteils geändert, weil es irgendwie Kappes war, Ihnen permanent zu erzählen, Sie würden das hier in einem 25x30-Zeitschriftenformat lesen, wenn Sie das jetzt ganz einfach nicht tun. (Auch das war ein Vorschlag des Elektronikredakteurs.) Sie werden aber bemerken, dass der Autor im Dokument meistens weiterhin als »Rolling Stone« oder »RS« bezeichnet wird. Es tut mir leid, wenn Sie das schräg finden, aber ich war dagegen, es zu ändern. Zum Teil war ich auf meinetwegen kindische Weise stolz auf meinen Presseausweis vom Rolling Stone und darauf, dass die meisten Stifte und Mitarbeiter der Kampagne mich als den »Typ vom Rolling Stone« bezeichneten. Ich gestehe, dass ich mir von einem Freund sogar eine abgewetzte alte schwarze Lederjacke für die Wahlkampagne geliehen hatte, um in den trendigen, irgendwie gefährlichen Ruch zu kommen, den ein RS-Reporter meiner Meinung nach haben musste (Sie müssen wissen, dass ich den Rolling Stone länger nicht gelesen hatte). Und dass ich den Wahlkampf für diese spezielle Zeitschrift journalistisch abdeckte, sollte dann große Auswirkungen darauf haben, was ich zu sehen bekam und wie sich verschiedene Leute in meiner Anwesenheit benahmen. Es war beispielsweise der Hauptgrund, warum sich das Oberkommando von McCain2000 so gut wie durchweg weigerte, irgendetwas mit mir zu tun zu haben[412], und warum die Networktechniker so freundlich und entgegenkommend waren und mich mit offenen Armen empfingen (besonders die Tontechniker waren seit Urzeiten Fans vom Rolling Stone). Schließlich wendet sich das Dokument rhetorisch an Wähler einer bestimmten Altersgruppe und politischen Grundeinstellung, und ich hatte mir gesagt, gelegentliche Anspielungen auf den Rolling Stone würden dazu beitragen, die Gründe dieser Rhetorik offenzulegen.
Ansonsten würde ich gern ganz einfach noch anmerken, worum es in dem Artikel geht, letztlich nämlich gar nicht um die Wahlkampagne eines beeindruckenden Mannes, sondern darum, was McCains Kandidatur und die von ihr verursachte flüchtige und seltsame Aufregung über die Politik um die Jahrtausendwende aussagen, es geht darum, was ihre Verpackung und Vermarktung, ihre Strategien und Medien, ihre Meinungsmache und die allgemeine Klimavergiftung mit unseren Gefühlen als US-amerikanischen Wählern anrichten, und darum, ob jemand, der für irgendetwas kandidiert, heutzutage überhaupt noch »echt« sein kann – ob das, was wir wirklich wollen, eigentlich Echtheit oder aber etwas ganz anderes ist. Ob es auf Ihrem Bildschirm oder Display nun funktioniert oder nicht – für mich ging die Bedeutsamkeit der ganzen Angelegenheit alles in allem weit über einen Mann oder eine Zeitschrift hinaus. Wenn Sie das anders sehen, müssen Sie wahrscheinlich nur auf ein paar Tasten drücken, und alles verschwindet.
Ja, schon gut, alles klar, noch mehr Medienaufmerksamkeit für John S. McCain III, Pilot der United States Navy, Kriegsgefangener, Bürger der Vereinigten Staaten, Mitglied der GOP, 2000.com. Der Rocky der Politik. McCain war ihr Schicksal. The Real McCain. Der Klartextexpress. Internetspendensammler. Medienliebling. Marineflieger. Zweiter Vorname Sidney. Sohn und Enkel von Admirälen. Und ein Betonkopf par excellence – ein rechtsaußenrepublikanischer Senator aus einem der politisch vorgestrigsten Bundesstaaten des ganzen Landes. Ein Mann, der Roe vs. Wade, die Reglementierung von Waffenbesitz und die staatliche Finanzierung von PBS ablehnt, der die Todesstrafe und Schulgebete billigt und der höhere Verteidigungsausgaben und Verfassungszusätze fordert, die Flaggenverbrennungen kriminalisieren. Der bei Clintons Amtsenthebungsverfahren zweimal dafür plädierte, den Präsidenten für schuldig zu erklären. Und der ungefähr seit dem letzten Herbst zur großen populistischen Hoffnung der amerikanischen Politik herangewachsen ist. Der Ihre Stimme will, sich aber nicht prostituieren wird, um sie zu kriegen, und der will, dass Sie ihn wählen, weil er sich nicht prostituiert. Ein Antikandidat. Den es juckt.
Fakten. Die Präsidentschaftswahl 1996 hatte die niedrigste Jungwählerbeteiligung der US-amerikanischen Geschichte. Die Vorwahl der Grand Old Party 2000 in New Hampshire hat die höchste. Und die Experten sagen übereinstimmend, dass McCain die meisten von ihnen angezogen hat. Er zog Erstwähler und Nochniewähler an; er zog Demokraten und Unabhängige an, Anarchisten, Sozialdemokraten, Studenten, Fußballmuttis und schräge Heimlichtuer, deren Zugehörigkeiten eher nach Zellen als nach Parteien klangen. Er gewann mit 18 Prozentpunkten Vorsprung und hätte Bush2 fast das Grinsen aus dem Gesicht gewischt. McCain hat indirekte Zuwendungen und gebündelte Spenden abgelehnt und dennoch Millionen eingeworben, einen Großteil davon über das Internet und von Menschen, die noch nie zuvor für einen Wahlkampf gespendet hatten.
Am 7. Februar 2000 ist er auf den Titeln der drei großen Wochenzeitschriften und hält den Strauch auf Trab. Die nächste große Abstimmung findet in South Carolina statt, wo die christliche Rechte das Licht noch mit dem Hammer ausmacht, wo die Dixiefahne noch stolz über dem Parlamentsgebäude flattert, wo Videopoker die Lieblingssportart darstellt und wo die GOP des Bundesstaats verklagt wird, weil sie in den Schwarzenvierteln am Tag der Vorwahlen traditionell nicht mal Wahlurnen aufstellt. Als McCains Charterflugzeug in der Nacht nach dem Sieg in New Hampshire morgens um 03:00 landet, wird er von über 500 jubelnden Studenten aus South Carolina begrüßt, die Wimpel schwenken, tanzen und einen abgefahrenen GOP-Rave veranstalten. Stellen Sie sich das mal vor – 500 Jugendliche, die morgens um 3:00 vor Begeisterung außer sich sind … wegen eines Politikers. »Es war, als wäre McCain auf dem Cover vom Rolling Stone«, schrieb Time, was dem Rave erst recht Aufmerksamkeit verschaffte.
Und Aufmerksamkeit erzeugt natürlich mehr Aufmerksamkeit, wie Ihnen jeder Marketingfachmann sagen kann. Jetzt also noch mehr Aufmerksamkeit, vom oben genannten urliberalen Rolling Stone, dessen Herausgeber den unprofessionellsten Stift, den sie finden konnten, losgeschickt hatten, um McCains Wahlkampagne eine Woche lang zu begleiten, über Time und die Times bis hin zu CNN, MSNBC, MTV und dem ganzen Rest der digitalen Maschinerie dieses Landes zur Erzeugung öffentlichen Allotrias. Hat John McCain das alles verdient? Ist die Aufmerksamkeit echte Aufmerksamkeit oder bloß Hype? Und gibt es da einen Unterschied? Kann es ihm helfen, gewählt zu werden? Sollte es?
Besser gefragt: Kratzt es Sie, ob McCain siegen kann oder sollte? Da Sie den Rolling Stone lesen, sind Sie wahrscheinlich ein Amerikaner zwischen 18 und 35, was Sie demografisch zum Jungwähler macht. Und keine Generation von Jungwählern hat die Politik und haben Politiker je so wenig gejuckt wie Ihre. Es gibt empirische demografische Untersuchungen und Wahlverhaltensanalysen, die diese Aussage untermauern … falls Daten Sie kratzen. Selbst wenn Sie andere Sachen im RS lesen, stehen die Chancen nur halbe-halbe, dass Sie dieses Dokument zu Ende lesen, wenn Sie gemerkt haben, worum es darin geht – so ein riesiges schauderndes Gähnen erzeugt der politische Prozess in uns nun einmal in dieser Nach-Watergate-nach-Iran-Contra-nach-Whitewater-nach-Lewinsky-Ära, einer Ära, in der Grundsatzpapiere oder Visionen von Politikern von vornherein als eigennützige Werbeprosa verstanden und nicht nach ihrer Wahrheit oder Inspirationsfähigkeit beurteilt, sondern nur auf ihre taktische Gerissenheit und Marktgängigkeit hin abgeklopft werden. Und keine andere Generation ist je so gnadenlos vermarktet, umworben und manipuliert worden wie die demografische Jugend von heute. Wenn Senator John McCain in Michigan oder South Carolina also sagt: »Ich kandidiere nicht für das Amt des Präsidenten, weil ich jemand sein, sondern weil ich etwas tun will«, ist es schwer, darin mehr als eine Marketingmasche zu hören, zumal er es sagt, während er von Kameras, Reportern und jubelnden Menschenmengen umgeben ist … mit anderen Worten: jemand ist.
Und wenn Senator McCain des Weiteren sagt – es einem am Anfang und am Ende jeder Rede und jeder Bürgerversammlung einhämmert –, sein Ziel als Präsident werde es sein, »junge Amerikaner zu inspirieren, sich für größere Anliegen als ihren Eigennutz zu engagieren«, fällt es schwer, das nicht als ein weiteres Beispiel des sorgfältig vorformulierten Bockmists zu hören, den Präsidentschaftskandidaten uns aufs Butterbrot schmieren, während sie ihrem eigennützigen Geschäft nachgehen, der mächtigste, wichtigste und meistdiskutierte Mensch auf Erden zu werden, was natürlich ihr wahres »Anliegen« ist, für das sie sich in einem solchen Ausmaß engagieren, dass sie ganze Berge an edelmütig klingendem Bockmist schlucken und wieder ausspucken können und sich selber dabei weismachen, dass sie ihn ernst meinen. Das mag zynisch klingen, aber Meinungsumfragen zeigen, dass die meisten von uns genau dieses Gefühl haben. Und es ist längst nicht mehr so, dass wir den Bockmist einfach nicht glauben; in der Regel hören wir ihn gar nicht mehr, sondern blenden ihn auf irgendeiner tieferen Ebene aus, unterhalb jeder Aufmerksamkeitsschwelle, so, wie wir auch Plakatwände und Hintergrundgedudel ausblenden.
John McCains Sprüchlein von den ›größeren Anliegen als dem Eigennutz‹ ist aber schwieriger auszublenden, unter anderem weil dieser Mann manchmal auch Sachen sagt, die eindeutig wahr sind, die aber kein anderer populärer Kandidat laut aussprechen würde. Dass Washington beispielsweise von eigennützigem Geld, und zwar Milliarden davon, kontrolliert wird und dass Worthülsen wie »Reformen der Politik« und »Aufräumen in Washington«, die jeder Kandidat im Munde führt, erst dann zu verwirklichen sind, wenn bestimmte wohlbekannte Tricksereien bei der Wahlkampffinanzierung wie indirekte Zuwendungen und gebündelte Spenden illegal geworden sind. Das ganze Gerede im Kongress über Reformen des Gesundheitswesens und einen Patientenrechtsschutz, hat McCain öffentlich gesagt, ist beispielsweise absoluter Bockmist, denn die GOP ist in der Gewalt von Lobbyisten der Pharmaindustrie und privater Krankenkassen, und die Demokraten werden von Lobbyisten der Strafverteidiger finanziert, und es liegt im Eigennutz dieser Geldgeber, dass der gegenwärtige Wahnsinn des US-amerikanischen Gesundheitssystems in genau dieser Form erhalten bleibt.
Reformen des Gesundheitswesens sind aber genauso Politik wie Höchststeuersätze, die Auftragsvergabe auf dem Verteidigungssektor und Sozialversicherungen, und Politik ist langweilig – komplex, abstrakt, trocken, die Domäne von Paragrafenreitern, Rush Limbaugh und kleinen Nervensägen auf PBS, und wen juckt das schon.
Nur geht es hier um etwas Tieferes als Politik, um etwas Fesselndes, Unmanipulierbares und Wahres. Es hat mit McCains Vorgeschichte im Militär zu tun, mit Gefechten in Vietnam und den über fünf Jahren, die er in einem nordvietnamesischen Gefängnis verbrachte, meist in Einzelhaft in einer kastengroßen Zelle, wo man ihn folterte und hungern ließ. Und mit dem unglaublichen Ehrgefühl und Mumm, die er dort zeigte. Es ist leicht, diese ganze Kriegsgefangenschaftskiste unter den Teppich zu kehren, teils weil wir alle schon so viel davon gehört haben, teils weil es alle Vorstellungen von Dramatik übersteigt und sich eher nach einem Film anhört als nach dem wahren Leben eines Menschen. Es lohnt sich aber, da mal etwas gründlicher drüber nachzudenken, weil man McCain sein ›größeres Anliegen als den Eigennutz‹ dann vielleicht eher abkauft.
Passiert war damals Folgendes. Im Oktober ’67 war McCain selbst noch ein Jungwähler und flog seinen 26. Kampfeinsatz über Vietnam. Seine A-4 Skyhawk wurde über Hanoi abgeschossen, und er musste sich hinauskatapultieren, d.h. einen Sprengsatz auslösen, der seinen Sitz aus dem Flugzeug schleuderte. McCain brach sich dabei beide Arme und ein Bein, zog sich eine Gehirnerschütterung zu und fiel aus den Himmeln über Hanoi. Versuchen Sie mal kurz, sich vorzustellen, welche Schmerzen das bereiten muss und wie viel Angst Sie hätten, wenn Sie mit drei gebrochenen Gliedern auf die feindliche Hauptstadt hinabfallen, die Sie gerade bombardieren wollten. Sein Fallschirm öffnete sich spät, und er machte eine harte Landung in einem kleinen See in einem Park mitten im Zentrum von Hanoi. (Es gibt noch heute eine Vietcong-Statue von McCain an diesem See, die ihn auf den Knien zeigt, die Hände erhoben, Angst in den Augen und der Inschrift am Sockel »McCan – berühmter Luftpirat« [sic!].) Stellen Sie sich vor, Sie treten mit gebrochenen Armen Wasser und versuchen gleichzeitig, mit den Zähnen den Ring der Rettungsweste zu ziehen, während eine Gruppe nordvietnamesischer Männer auf Sie zuschwimmt (es gibt Filmaufnahmen davon; jemand hatte eine Super-8-Kamera dabei, und die nordvietnamesische Regierung gab den Film frei, obwohl er körnig und McCains Gesicht kaum zu erkennen ist). Die Männer zogen ihn aus dem See und brachten ihn fast um. Bomberpiloten waren aus naheliegenden Gründen besonders verhasst. McCain bekam einen Bajonettstich in den Bauch; ein Soldat brach ihm mit einem Gewehrkolben die Schulter. Sein rechtes Knie war da schon rechtwinklig abgeknickt, und der Knochen lag bloß. Das ist alles öffentlich zugänglich. Versuchen Sie, sich das vorzustellen. Am Ende wurde er auf die Ladefläche eines Jeeps geworfen und nur ungefähr fünf Blocks weit in das berüchtigte Hoa-Lo-Gefängnis – alias Hanoi Hilton, das dann allerlei Filmruhm einheimste – gebracht, wo man ihn eine Woche lang um einen Arzt flehen ließ und dann ein paar Knochenbrüche ohne Narkose richtete, zwei weitere Brüche und die Bauchwunde (bitte vorstellen: Bauchwunde) aber unbehandelt ließ. Dann warf man ihn in eine Zelle. Versuchen Sie einen Augenblick lang, das nachzuempfinden. In den Medienporträts ist immer die Rede davon, dass McCain die Arme bis heute nicht über den Kopf heben und sich kämmen kann, was auch stimmt. Aber versuchen Sie sich vorzustellen, wie Sie sich damals an seiner Stelle gefühlt hätten, das ist nämlich wichtig. Überlegen Sie mal, wie diametral entgegengesetzt es Ihrem Eigennutz wäre, ein Messer in die Eingeweide gerammt und Brüche ohne Narkose gerichtet zu kriegen und dann in eine Zelle geworfen zu werden, wo Sie nur herumliegen und Ihren Schmerzen ausgeliefert sind, denn genau das geschah. Er fantasierte wochenlang vor Schmerzen, magerte auf 45 Kilo ab, und die anderen Kriegsgefangenen waren sicher, er würde sterben; nachdem er auf die Weise ein paar Monate lang durchgehalten hatte, seine Knochen halbwegs zusammengewachsen waren und er wieder einigermaßen stehen konnte, kamen die Schließer, brachten ihn ins Büro des Kommandanten, schlossen die Tür und boten aus heiterem Himmel an, ihn freizulassen. Sie sagten, er könne einfach … gehen. Wie sich herausstellte, war US-Admiral John S. McCain II. gerade zum Oberkommandanten der gesamten Seestreitkräfte im Pazifik gemacht worden, was Vietnam also einbezog, und die Nordvietnamesen waren auf den PR-Coup aus, seinen Sohn, den Babymörder, freizulassen. Und John S. McCain III, der 45 Kilo leicht war und sich kaum auf den Beinen halten konnte, lehnte das Angebot ab. Gemäß dem US-amerikanischen Militärkodex für Kriegsgefangene müssen diese anscheinend in der Reihenfolge ihrer Gefangennahme freigelassen werden, andere saßen schon viel länger in Hoa Lo ein, und McCain weigerte sich, gegen den Kodex zu verstoßen. Der Gefängniskommandant war alles andere als erfreut und ließ McCain noch in seinem Büro von den Aufsehern die Rippen brechen, den Arm erneut brechen und die Zähne ausschlagen. McCain weigerte sich immer noch, ohne die anderen Kriegsgefangenen zu gehen. Vergessen Sie mal, in wie vielen Filmen Sie das schon gesehen haben, und versuchen Sie, sich das als Realität vorzustellen: Ein Mann ohne Zähne verweigert die Freilassung. McCain blieb weitere vier Jahre in Hoa Lo, einen Großteil der Zeit in Einzel- und Dunkelhaft, in einem schrankgroßen Kasten namens »Bestrafungszelle«. Vielleicht kennen Sie das alles schon; es ist dieses Jahr schon in zig Medienporträts von McCain nacherzählt worden. Es ist zugegebenermaßen überbelichtet. Aber trotzdem: Nehmen Sie sich mal ein paar Sekunden Zeit und vergegenwärtigen Sie sich den Augenblick zwischen dem Angebot einer vorzeitigen Freilassung und McCains Ablehnung. Versetzen Sie sich an seine Stelle. Stellen Sie sich vor, wie Ihr grundlegendster, archaischer Eigennutz Sie in diesem Augenblick anbrüllen würde, und auf wie viele verschiedene Weisen Ihre Annahme des Angebots zu rationalisieren wäre: Welchen Unterschied macht denn schon ein Kriegsgefangener weniger? Vielleicht gibt es den anderen Kriegsgefangenen sogar Hoffnung und die Kraft weiterzumachen, und ich meine, 45 Kilo und den Tod vor Augen, und der Militärkodex gilt doch wohl nicht für einen, wenn man einen Arzt braucht, weil man sonst stirbt, und wenn man rauskommt und am Leben bleiben kann, kann man Gott immer noch hoch und heilig schwören, dass man von nun an nur noch Gutes tut und die Welt verbessert; wenn man auf das Angebot eingeht, ist das für die Welt also besser, als wenn man sich weigert, und wenn Dad keine Angst mehr haben muss, dass die Vietnamesen an einem hier im Gefängnis Vergeltung üben, kann er den Krieg sogar aggressiver weiterführen und früher beenden und ein paar Leben retten, man kann also sogar zum Lebensretter werden, wenn man auf das Angebot eingeht und rauskommt, und welchen Sinn hat es dagegen schon, in diesem Kasten zu bleiben und sich totprügeln zu lassen, ach und übrigens, mein Gott, stell dir bloß mal vor, ein richtiger Arzt und eine richtige Operation mit Schmerzmitteln und sauberer Bettwäsche und eine Chance, zu heilen und nicht immer Schmerzen zu haben, und du siehst deine Kinder wieder, deine Frau, riechst den Geruch der Haare deiner Frau … Können Sie das hören? Was würde Ihnen da durch den Kopf gehen? Hätten Sie das Angebot abgelehnt? Hätten Sie das gekonnt? Das können Sie nicht wissen. Das kann keiner von uns. Es ist schwer, sich auch nur das Ausmaß an Schmerz und Angst und Sehnsucht in diesem Augenblick vorzustellen, erst recht also, wie wir reagiert hätten. Keiner von uns kann das wissen.
Was wir aber wissen, ist, wie dieser Mann reagiert hat. Dass er sich entschieden hat, weitere vier Jahre dortzubleiben, die meiste Zeit in einem dunklen Kasten, allein, wo er Botschaften für die anderen an die Wand klopfte, um nicht gegen seinen Kodex zu verstoßen. Vielleicht war er durchgeknallt. Entscheidend ist aber, bei McCain hat man das Gefühl, dass wir etwas wissen; es ist eine erwiesene Tatsache, dass er imstande ist, sich für etwas zu engagieren, das weit über seinen Eigennutz hinausgeht. Und wenn er dieses Sprüchlein jetzt in seinen Reden bringt, hat man das Gefühl, dass es vielleicht nicht nur Kandidatenbockmist ist, dass es bei diesem Mann vielleicht die Wahrheit ist. Oder vielleicht beides, Wahrheit und Bockmist – schließlich will der Mann wirklich gewählt werden.
Aber dieser Augenblick im Hoa Lo ’68 – unmittelbar bevor John McCain ablehnte, als sein grundlegendster, archaischer menschlicher Eigennutz ihn anbrüllte –, diesen Augenblick kann man nicht so einfach abtun. Die ganze Woche über, in Michigan und South Carolina, all der Langeweile, dem Zynismus und den Paradoxa der Wahlkampagne zum Trotz, liegt dieser Augenblick dem Satz vom »größeren Anliegen als dem Eigennutz« zugrunde, vertäut ihn, hallt auf eine tiefgründige Weise nach, die sich nicht ignorieren lässt. John McCain ist ein echter Held, und vielleicht kann uns Vietnam nur diese Sorte Held bieten, denn heldenhaft ist nicht, was er tat, sondern was er durchmachte – freiwillig, für einen Kodex. Das verschafft ihm die moralische Autorität, zum einen Sätze über größere Anliegen als den Eigennutz aussprechen zu können und zum anderen in diesem Zeitalter der Manipulation und der juristischen Abgefeimtheiten davon auszugehen, dass wir sie ihm abkaufen. Und ja, buchstäblich: »moralische Autorität«, das alte Klischee, wie so viele andere Klischees – »Einsatz«, »Ehre«, »Pflicht« –, die inzwischen zu bloßen Worten verblasst sind, zu Slogans, die Männer in schicken Anzügen beschwören, wenn sie etwas von uns wollen. Der John McCain der letzten Jahre dagegen – der 1998 im Senat für seine zum Scheitern verurteilte Gesetzesvorlage zur Wahlkampffinanzierung stritt, der seinen Kollegen auf C-SPAN ins Gesicht sagte, sie seien Betrüger, der im Juli ’99 in Charlie Rose öffentlich über eine gekaufte Regierung sprach, der bei den Debatten in Iowa und den BV in New Hampshire bescheiden und teuflisch intelligent auftrat –, irgendetwas an ihm gab vielen von uns das Gefühl, dass dieser Mann etwas anderes von uns wollte, mehr als nur Stimmen oder Dollar, etwas Altes und vielleicht Abgeschmacktes, aber mit einem seltsam schmerzhaften Sog wie ein Geruch aus der Kindheit oder ein Name, der einem auf der Zunge liegt, etwas, wodurch Klischees für uns mehr sind als nur Klischees und wir plötzlich anfangen zu überlegen, was Begriffe wie »Einsatz«, »Opfer« und »Ehre« wirklich bedeuten, ob die Wörter wirklich für etwas stehen. Zu überlegen, ob etwas, das über gut gewebten Eigennutz hinausgeht, real sein könnte, je real war, und falls ja, was dann passieren würde. In aller Regel sind das keine Gedankengänge, denen nachzugehen unsere Kultur Jungwähler ermuntert. Was glauben Sie, warum das so ist?
= Stichwort des Pressekorps für McCains Anmoderation bei BV (siehe BV), die immer gleich lautet und immer genau 22,5 Minuten lang ist.
= Ein Chef (siehe Chef), der per Liveschaltung von einem Anlass berichtet, bei dem McCain auftritt.
= Unverfängliche Kurzaufnahmen ohne Ton von McCain in der Öffentlichkeit – beim Händeschütteln, Büchersignieren, in Gewimmeln (siehe Gewimmel) usw. – für die Bebilderung von Fernsehberichten über die Wahlkampfaktivitäten des Tages; Beispiel: »Die Techs (siehe Tech) müssen ihre Networks mit so viel irrelevantem und sich wiederholendem Filmmaterial beschicken (siehe Einreichen und Beschicken), weil sie nie wissen, was das Network am Ende als B-Film verwenden will.«
= Bürgerversammlung, McCains Markenzeichen der Wahlkampftour; auf die 22,5 folgt eine ungesiebte einstündige Frage-Antwort-Runde mit dem Publikum.
= Lokaler oder überregionaler Fernsehkorrespondent (siehe auch Talent).
(oder 12A) = Privatausdruck der Techs für die elitärsten und unbeliebtesten Stifte (siehe Stift) im McCain-Pressekorps, die bei FZ (siehe FZ) fast immer in den rotintensiven Salon ganz hinten im Klartextexpress eingeladen werden und mit McCain und Politikberater Mike Murphy kommunizieren können. Die 12A sind ein Dutzend Spitzenjournalisten und Politikexperten von wichtigen Zeitungen, Wochenblättern und Nachrichtendiensten (z.B. Copley News Service, Washington Post, Wall Street Journal, Newsweek, United Press International, Chicago Tribune, National Review, Atlanta Constitution usw.) und treten in Garderobe und Gebaren so identisch auf, dass es schon etwas Surreales hat – zwölf mustergültige und knitterfreie marineblaue Blazer, Krawatten mit halben Windsorknoten, Bundfaltenhosen, Oxfordhemden, die, auch wenn der Jackettzwang aufgehoben wird, an Kragen und Ärmeln zugeknöpft bleiben, Cole-Haan-Slipper und Schildpattbrillen, die sie nur zu gern abnehmen, um an den Bügeln zu knabbern, und von einer einheitlichen Ironiefreiheit, die einen an jeden einzelnen überambitionierten Streber erinnert, dem man in der Schule immer so gern die Fresse poliert hätte. Die Zwölf Affen rauchen oder trinken grundsätzlich nicht, bewegen sich ausschließlich im Rudel, drängeln sich in jedem Gewimmel (siehe Gewimmel) und bei jedem Presse-Briefing (siehe Presse-Briefing) an die Spitze und stellen sich vor dem Kofferappell (siehe Kofferappell) beim kontinentalen Frühstück im Hotelfoyer an, und wenn sie mal kurz in Bockmist 1 zurückrotiert werden, bleiben sie prinzipiell unter sich und sitzen gleichermaßen eingeschnappt und x-beinig da, die Aktenkoffer im Schoß, diskutieren grundsätzlich esoterische Bücher über politische Theorie und öffentliche Ordnung, und ihre Stimmen haben immer genau dasselbe pflaumenartige Ivy-League-Quäken. Die Techs (die alte Jeans und Parkas aus Army-Läden tragen und ebenfalls zur Rudelbildung neigen) versuchen so ziemlich ausnahmslos, die Zwölf Affen zu ignorieren, die ihrerseits die Techs so behandeln, wie jemand in den sanitären Anlagen der Chefetage den Klomann behandelt. Wie Sie sich vielleicht schon denken können, kann der Rolling Stone die 12A absolut nicht riechen, aus den oben genannten Gründen sowie der Tatsache, dass sie schweigen wie ein Trupp Trappistenmönche, wenn es darum geht, jemandem ein Fitzelchen an politischen Allgemeinbildungsfakten weiterzugeben, die diesem Jemand dazu verhelfen könnten, einen eine Spur besseren Artikel zu schreiben, außerdem kam es beim spätabendlichen Einchecken ins Hotel bei zwei verschiedenen Gelegenheiten dazu, dass einer oder mehrere der Zwölf Affen sich Knall auf Fall umdrehten und dem Rolling Stone ihre Koffer andrehten, als wäre der Rolling Stone ein Hotelpage oder Kuli und kein genauso wie sie schuftender Journalist, bloß dass er kein Paul-Stuart-Reisebügeleisen für seine Klamotten dabeihat.
= Ein paar Stunden am Nachmittag, die die Kampagne einem an Auszeit gönnt und in der ein E&B-Raum gestellt wird, in dem sich das Pressekorps ans Einreichen und Beschicken (siehe Einreichen und Beschicken) machen kann.
= Was Print-, Radio- und Fernsehjournalisten jeden Tag machen müssen; Printjournalisten müssen ihre Tagesberichte schreiben und per Fax oder Mail bei ihren Redaktionen einreichen; Techs und Aufnahmeleiterinnen müssen einen Satelliten oder Gunner (siehe Gunner) finden und ihre Bosse in den Networkzentralen mit Filmmaterial, B-Filmen (siehe B-Film), Aufsagern (siehe Aufsager) und allem anderen beschicken, was die wollen könnten. (Zu einer Zweitbedeutung von beschicken siehe poolen.)
= Fahrzeit; die Zeitnischen im täglichen Ablaufplan, in denen der Konvoi von einer Wahlkampfveranstaltung zur nächsten düst.
= Methode, um die Begrenzung von Wahlkampfspenden durch die Bundeswahlkommission auf max. 1.000 Dollar pro Einzelspender zu umgehen. Ein wohlhabender Spender kann 1.000 Dollar spenden und dann behaupten, die nächsten 1.000 Dollar kämen von seiner Frau, die nächsten 1.000 vom Sohnemann, die nächsten von Tante Edna usw. Der Lieblingstrick des Strauchs (siehe Strauch) ist es, Vorstandschefs und andere Topmanager zu »Pionieren« zu ernennen, von denen jeder zusagt, für Bush2000 100.000 Dollar einzuwerben – 1.000 Dollar spenden sie persönlich, und die anderen 99 Riesen werden »freiwillig« von ihren Angestellten beigetragen. McCain akzeptiert aus Prinzip weder gebündelte Spenden noch indirekte Zuwendungen (siehe indirekte Zuwendungen).
= Der sich mitbewegende 360°-Ring aus Techs und Chefs (siehe Chef) um einen Kandidaten, der sich aus dem Klartextexpress zu einer Veranstaltung aufmacht oder von dort zurückkehrt.
= Ein ortsunabhängiger Apparat zur Herstellung von Satellitenverbindungen, über den die Networks mit Filmmaterial von Wahlkampfveranstaltungen beschickt werden. Gunner heißt das Unternehmen, das die Geräte herstellt und/oder vermietet, und diese bestehen aus blendend weißen Transportern mit einer Art Bootsanhänger hintendran, auf dem eine Satellitenschüssel mit einem Durchmesser von knapp drei Metern und der Aufschrift GUNNER GLOBALE SATELLITENVERBINDUNG FÜR NACHRICHTEN, NETZWERKE UND UNTERHALTUNG in knatschblau prangenden Blockbuchstaben in einem 40°-Winkel nach Südwesten ausgerichtet wird.
= Die bekannteste Methode zur Aushebelung des von der BWK angesetzten Maximums bei Wahlkampfspenden: Riesige Summen werden der Partei eines bestimmten Kandidaten gespendet und nicht diesem selbst, aber durch irgendwelche unerklärlichen Zufälle leitet die Partei diese riesigen Summen dann immer an genau den Kandidaten weiter, dem der Spender sie von Anfang an zugedacht hatte.
= Das Erbetteln, Organisieren oder schlicht Stehlen von Speisen bei einem der unzähligen Wahlkampfessen, bei denen McCains Publikum an gedeckten Tischen sitzt und das Pressekorps futterlos hinten im Saal stehen muss.
= Die auf dem Ablaufplan für den nächsten Tag (Anm.: Die letzte wichtige Medienaufgabe des Tages besteht darin, von Travis den Ablaufplan für den nächsten Tag zu ergattern) verzeichnete absurd frühe Morgenstunde, zu der man sein Gepäck wieder in den Buseingeweiden verstaut, Ansprüche auf einen Sitzplatz angemeldet haben und abfahrbereit sein muss, denn sonst wird man zurückgelassen und muss bei Fox News katzbuckeln, um zur ersten BV (siehe BV) mitgenommen zu werden, was einfach nur totaler Stress ist.
= Optimistische Fahrzeit, was sich auf die nervende Eigenart aller Zeitpläne bezieht, die Zeit zu unterschätzen, die es braucht, um von einem Veranstaltungsort zum nächsten zu kommen, was den Fahrer vom Klartextexpress nötigt, wie eine gesengte Sau zu rasen, womit er sich den rabiaten Hass von Jay und dem Fahrer von Bockmist 2 zuzieht. (Am Abend des 9. Februar kündigte ein BM2-Fahrer nach einer besonders haarsträubenden Fahrt von Greenville zur Clemson Univ. vom Fleck weg, sodass aus Cincinnati, wo anscheinend die Zentrale der Busgesellschaft liegt, ein Notfallfahrer eingeflogen werden musste [der einen braunen Cowboyhut mit zwei NRA-Ansteckern an der Krempe trug und ein so fanatischer Treibstoffsparer war, dass er sich grundsätzlich weigerte, das Stromaggregat einzuschalten, sodass sich alle BM2-Journalisten, die funktionierende Steckdosen brauchten, in BM1 zwängten, was BM2 zu einer fahrenden Gruft für PGs machte]).
= Penngelegenheit, also die Möglichkeit, sich im Bus ein bisschen hinzuhauen (Ort und Körperhaltung variabel).
= Bezieht sich auf Anlässe, bei denen aus Raummangel oder durch einen Ukas von McCain2000 nur ein Networkteam aus Kameramann und Tontechniker bei einer Veranstaltung zugelassen wird, und Usus ist, dass alle anderen Networks dann mit dem Material dieses Teams beschickt werden (in diesem Fall wird das Material also gepoolt).
(oder nur Briefing) = Kurzfristig anberaumte Möglichkeit für das reisende Pressekorps, als Gruppe mit McCain oder seinen Stabschefs zu kommunizieren; wird oft für Reflexe (siehe Reflex) genutzt. Ein Briefing ist weniger offiziell als eine Pressekonferenz, die in der Regel zusätzliche lokale Stifte und Chefs anzieht und nicht abgesagt werden kann, während Briefings wegen OFZ und artverwandten Tohuwabohus oft abgeblasen werden.
= Das komische graue Flauschteil, das Ton-Techs bei Gewimmeln über ihre Stock-Mikros stülpen, damit keine nervenden Windgeräusche auf die Aufnahme kommen. Es sieht aus wie eine schlaffe, mausfarbene Version einer bestimmten und beliebten Flauschpuschenmarke. (Anm.: Pudel, die von Ton-Techs bei RGs auch als Kopfbedeckung getragen werden, wenn es mal arschkalt wird, werden deswegen auch Tech-Toupets genannt.)
= Rauchgelegenheit.
= Von McCain oder einem Stabschef von McCain2000 zu Protokoll gegebene Reaktion auf eine plötzliche dramatische Wende in der Kampagne, meist ausgelöst durch einen taktischen Zug oder eine Tatsachenverdrehung des Strauchs (siehe Strauch).
= An der Tour teilnehmender Printjournalist.
= Schwarze Polymer-Teleskopstange (Maximallänge 292 cm) eines Tontechnikers (siehe Tech) mit einem Galgenmikrofon am Ende, das meistens für Gewimmel genutzt wird und immer deren unverkennbarstes optisches Merkmal ist, weil ein voll ausgezogener Stock wabbelt und boingt, wenn der Tontechniker (siehe erneut Tech) damit geht.
= GOP-Präsidentschaftskandidat George W. Bush (manchmal auch als Dubya oder Bush2 bezeichnet).
= Ein begehrter Network-Chef, der für nur einen Tag eingeflogen wird, von einer Aufnahmeleiterin instruiert wird und einen Aufsager über die Kampagne produziert; Beispiel: »Morgen kriegen wir Talent rein, dafür müssen mir die ganzen B-Filme archiviert werden.« Wiedererkennbare Talente in meiner Woche waren Bob Schieffer von CBS, David Bloom von NBC und Judy Woodruff von CNN.
= Der Kameramann oder Tontechniker einer Fernsehnachrichtensendung. (Anm.: Im McCain-Korps sind in dieser Woche alle Techs männlich, während über 80 Prozent der Aufnahmeleiter weiblich sind. Eine plausible Erklärung dafür war nicht zu bekommen.)
Es ist jetzt genau 13:30 am Dienstag, 8. Februar 2000, und Bockmist 1 fährt auf dem I-26 Richtung Südosten nach Charleston, South Carolina, zurück. Inzwischen befassen sich so viele Journalisten, Mitarbeiter, Techs, freie Korrespondenten, Aufnahmeleiterinnen, Fotografen, Chefs, Stifte, Politikkolumnisten und Moderatoren politischer Rundfunksendungen und lokaler Medien mit John McCain und dem Phänomen McCain2000, dass ein Wahlkampfbus nicht mehr ausreicht. Hier in South Carolina sind es drei, ein regelrechter Konvoi aus Klartext, dem grünen SUV von Fox News, der knusperroten Corvette des MTV-Teams und zwei multipel antennenbewehrten lokalen Übertragungswagen (von denen der eine Auspuffprobleme hat). Bei solchen FZ liegt McCain immer in seinem persönlichen roten Ruhesessel neben dem roten Ruhesessel von Politikberater Mike Murphy im kleinen Pressesalon, den die beiden hinten im Führungsbus haben, dem wohlbekannten Klartextexpress, der an der Spitze liegt und schon davonzischt. Der Fahrer vom Klartextexpress fährt mit Bleifuß, und die anderen Fahrer hassen ihn. An zweiter Stelle der Karawane liegt Bockmist 1, ein Luxus-Grumman mit guter Klimaanlage und funktionierenden Klinkenbuchsen, die viele landesweite Stifte nutzen, um an ihren Laptops Manuskripte in die Tasten zu hauen und ihren Redaktionen Faxe und Mails zu schicken. Die Logistik der Wahlkampagne ist schwindelerregend komplex, und unter vielem anderen müssen die Mitarbeiter von McCain2000 in jedem neuen Bundesstaat neue Busse mieten und den, der am meisten hermacht, mit KLARTEXTEXPRESS und McCAIN2000.COM dekorieren. In Michigan gab es gestern bloß den KTE plus einen Bus für die Nicht-Elite-Medien, der schießpulvergraue Kunstledersofas, glänzende Armaturen aus gebürstetem Stahl und einen von Bug bis Heck verspiegelten Himmel hatte; er machte allen Angst und wurde Ludenkutsche getauft. Die beiden Medienbusse in South Carolina werden Bockmist 1 und Bockmist 2 genannt, Bezeichnungen, die sich wie immer der extrem coole und relaxte Jim C. ausgedacht hat, der Kameramann von NBC News, und die von McCains jüngeren Pressebetreuern – was man ihnen hoch anrechnen muss – sofort und mit offenkundigem Entzücken aufgenommen worden sind und bei jeder sich bietenden Gelegenheit weiterverwendet werden, wobei diese Pressebetreuer dermaßen cool und bescheiden sind, dass man versucht ist anzunehmen, dass sie von Beruf cool und bescheiden sind.
Im Moment demonstriert der Pressebetreuer von Bockmist 1, Travis – 23, hat gerade die Univ. of Georgetown und eine sechsmonatige Rucksacktour durch Südostasien hinter sich, in deren Verlauf er nach eigenem Bekunden gebratene Insekten schätzen gelernt hat –, wieder einmal seine bedeutendste und beeindruckendste Fähigkeit als Mitarbeiter von McCain2000, die darin besteht, jederzeit, überall und in jeder beliebigen Körperhaltung schlafen zu können, zehn bis fünfzehn Minuten lang, mit entspanntem Gesicht und ohne Absonderung unangenehmer Geräusche oder Körperflüssigkeiten, und dann übergangslos hellwach zu sein, wenn er gebraucht wird. Unklar ist, ob er glaubt, die Leute würden nicht merken, dass er schläft oder was. Travis trägt eine Breitcordhose und einen Sweater von Structure und scheint sich ausschließlich von Starburst-Kaubonbons zu ernähren, er spricht mit derselben abfälligen Ironie wie der ganze Mitarbeiterstab und stellt sich neuen Medienvertretern heute entweder als »Ihr Presselakai« vor oder als »der Hervé Villechaize von Bockmist 1« oder beides. Sein neuester Trick ist, ganz vorn im Bus den Arm am Haltegriff aus gebürstetem Stahl über dem Kopf des Fahrers einzuhaken und sich dagegenzulehnen, sodass es von hinten so aussieht, als würde er mit dem Fahrer ausführliche Navigationsdebatten führen, dabei schläft er, und der Fahrer – ein zwei Meter großer kahler schwarzer Gentleman namens Jay, dessen Gutenachtsprüchlein für Journalisten am Ende des Tages »Besorg dir ne Frau, Junge« lautet – weiß genau, was da läuft, und passt auf, nicht die Fahrspur zu wechseln oder scharf zu bremsen, und so hält sich Travis über Wasser, dessen Tag wie der aller Mitarbeiter um 5:00 beginnt und nach Mitternacht endet.
McCain hat an der Strafrechtsakademie von South Carolina in Columbia gerade eine politische Grundsatzerklärung zum Thema Verbrechen und Strafe abgegeben, und von dort fährt die Karawane jetzt nach Charleston zurück. Es war eine durchschlagend furchterregende Rede, die in einem großen und stickigen Hörsaal aus Betonziegeln gehalten wurde, umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen (die Strafrechtsakademie grenzt an eine Justizvollzugsanstalt, und man weiß nicht recht, wo die eine aufhört und die andere anfängt), und vorgestellt wurde McCain von einem hochrangigen Autobahnpolizisten, der mit seiner Hängewampe und dem Teint eines rohen Steaks direkt dem Central Casting für Strafverfolgungsbehörden in den Südstaaten entsprungen schien und sich anerkennend und ausführlich über Senator McCains militärischen Hintergrund und sein hundertprozentig konservatives Abstimmungsverhalten bei Verbrechen, Strafe, Waffenbesitz und dem Krieg gegen Drogen äußerte. Das war keine Frage-und-Antwort-Stunde bei Bürgerversammlungen; das war eine politische Grundsatzerklärung, eine von dreien in dieser Woche, ausgelöst von Bush2000s Vorwürfen, McCains Programm sei nur Geschwurbel und bestehe aus Bildern statt Substanz. Die angebliche Zuhörerschaft der Rede bestand aus 350 Stiernacken beiderlei Geschlechts, die auf schnurgerade ausgerichteten Klappstuhlreihen in Habachtstellung saßen (wenn das geht), und hinter ihnen standen noch ein paar Hundert Strafvollzugsprofis mit verspiegelten Sonnenbrillen in Autobahnpolizeimontur und Rührt-euch-Stellungen, und hinter denen wiederum und um sie herum die Medienvertreter – die eigentlichen Adressaten der Rede –, darunter Jim C. und sein Tontechniker Frank C. (nicht verwandt) von NBC, die zusammen mit den ganzen anderen Networktechnikern auf dem nie fehlenden Podium aus Hartfaserplatten standen und McCain filmten, der in seinem immer gleichen Prozedere erst mal jeder Menge Lokalmatadoren dankt, von denen keiner je was gehört hat, und dann ohne viel Federlesens in die mit Abstand furchterregendste Rede der ganzen Woche einsteigt, die er wie immer vor einem 70 x 130 cm großen Sternenbanner hält, und beim B-Film der Rede im Fernsehen sieht man dann also immer McCain und die Fahne, die Fahne und McCain, eine visuelle Verknüpfung, die alle Kandidaten den Leuten eintrichtern wollen. Die sitzenden Kadetten – von denen kein einziger herumzappelt oder sich kratzt, und sogar das Synchronblinzeln haben sie zur Vollkommenheit gebracht – tragen identische Kaki-Uniformen und Juniorausgaben der runden breitkrempigen Hüte ihrer Vorgesetzten und erwecken so den Anschein von zehn vollkommenen Reihen brutaler und äußerst aufmerksamer Forstaufseher. McCain schwitzt nicht mal, trägt einen dunklen Anzug, eine breite Krawatte und hat die einzige trockene Stirn im ganzen Saal. Die Kongressabgeordneten Lindsey Graham (Republikaner/South Carolina, berühmt aus dem Amtsenthebungsverfahren) und Mark Sanford (Republikaner/South Carolina, gilt als der steuerpolitisch konservativste Kongressmann der Jahre 1998–2000) stehen auf der Bühne hinter McCain, was ebenfalls zum Standardprozedere gehört; die beiden sind in dieser Woche hier unten quasi seine Empfehlungsschreiben auf Beinen. Graham sieht wie immer aus, als hätte er im Anzug geschlafen, Sanford ist braun gebrannt und weltläufig und trägt einen Pulli mit V-Ausschnitt und Guccis, in deren Glanz man lesen könnte. Mrs Cindy McCain ist auch auf der Bühne, zerbrechlich arrangiert, lächelt ins Leere und denkt an Gott weiß was. Die Hälfte der Leute aus dem Pressebus verfolgt die Rede gar nicht; die meisten haben sich irgendwo ganz hinten im Hörsaal verteilt und laufen mit den Handys am Ohr unbewusst im Kreis herum. (Ich sollte Sie gleich darüber in Kenntnis setzen, dass unsere landesweit aktiven Reporter unheimlich viel Zeit an ihren Handys verbringen oder aber auf deren Klingeln warten. Es ist kaum übertrieben: Wenn einem von denen das Handy kaputtgeht, muss er sediert werden.) Die Techniker von CBS, NBC, CNN, ABC und Fox filmen die ganze Rede plus etwaige Fragen im Anschluss daran, dann schrauben sie ihre Kameras von den Stativen ab, machen sie zu Handkameras, umwimmeln McCains Abgang und das kurze Presse-Briefing an der Tür zum Klartextexpress, und schließlich rufen die Aufnahmeleiter die Networkzentralen an, fassen die Höhepunkte zusammen, und die Zentralen entscheiden, welche fünf- bis zehnsekündigen Ausschnitte am Abend in den Nachrichtensendungen zur GOP-Wahlkampagne verwendet werden.
Es ist hilfreich, wenn man sich die Veranstaltungen einer Kampagnenwoche als Kästen vorstellt, als Schachteln in Kästen usw. Die Wählerschaft des ganzen Landes bildet den großen Außenkasten, das Wahlvolk von South Carolina einen Teil davon, medial beliefert von nationalen wie lokalen Medien, in diesen wiederum befinden sich die Isolierkästen von McCains Stabschefs, die Veranstaltungen planen und inszenieren und Zeug für die Medienschichten spinnen, die es für die Wählerschichten interpretieren, und die Pressebetreuer hüten die Stifte und Chefs, arrangieren deren Zugang zu den Stabschefs, kontrollieren, welche Medien in den KT-Express rotiert werden (der seinerseits ein Kasten in Bewegung ist), und entscheiden (also die Pressebetreuer), welche dieser erwählten Medienvertreter dann sogar in den Salon ganz hinten im Bus dürfen, um mit McCain persönlich zu sprechen, der der Erzähler und die Erzählung der Kampagne in Personalunion ist, ein Kandidat, dessen größter Trumpf darin besteht, ein Antikandidat zu sein, jemand, der offen und zugänglich ist und »nicht zum Kästchendenken neigt«, der in Wahrheit aber der zentrale und unergründliche Kernkasten in den chinesischen Schachteln dieser Kampagne ist, und welche Gedanken zu all diesen Kästen, Schichten und Objektiven in diesem Oberstübchen bewegt werden und ob dieses neue Gehäuse in irgendeiner Form an den dunklen Kasten im Hoa Lo erinnert, da darf jeder Medienvertreter dreimal raten, denn er redet ausschließlich über Politik.
Und Bockmist 1 ist natürlich auch ein Kasten, wie alles, was man nicht verlassen kann, außer jemand lässt einen raus, und jetzt gerade sind 27 Vertreter der politischen Presse des Landes an Bord und haben die halbe Strecke nach Charleston geschafft. Einige davon müssen Ihnen nicht groß vorgestellt werden, weil sie noch heute Abend aus der Tour rausrotiert werden, morgen verschwunden sind und durch andere ersetzt werden, bei denen man gerade erste Wiedererkennungsreflexe entwickelt, wenn sie ihrerseits wegrotiert werden. Die Profis nennen das so, die Tour, so wie manche Musiker nur von der Road sprechen. Der Zeitplan ist faschistisch: Weckruf und Zweitwecken um 6:00, Expressauschecken, Kofferappell um 7:00, um das Gepäck und die Geräte der Techs unter den Bus zu schmeißen, Arschrüberschieben zu McCains erster BV um 8:00, dann zur nächsten, dann zur nächsten, vielleicht eine Freistunde fürs E&B, falls die OFZ das erlauben, dann normalerweise zwei große Abendveranstaltungen plus ein paar Stunden tote Autobahn-FZ zwischen den Anlässen, Ankunft im Marriott oder Hampton Inn oder was an dem Abend halt dran ist schließlich gegen 23:00, wenn der Zimmerservice gerade Feierabend macht, sodass man Fox News anbettelt, einen zum nächsten um die Zeit noch offenen Restaurant mitzunehmen, dann noch eine Stunde in der Hotelbar, um sich die Birne dermaßen zuzulöten, dass man um 1:30 in die Falle gehen, um 6:00 aufstehen und das Ganze von vorn anfangen kann. Der Durchschnittsstift macht das vier bis sechs Tage lang, wird auf einer Trage nach Hause verfrachtet, und sein Chefredakteur rotiert Frischfleisch rein. Die Network-Techs sind alte Tourhasen und bleiben monatelang. Der Stab von McCain2000 macht das seit dem Labor Day Anfang September, und selbst die Jüngeren sehen wie Zombies aus. Nur McCain blüht und gedeiht. Er ist 63 und springt jeden Morgen mit Rockette-Schritten in den Express. Es ist entweder inspirierend oder furchterregend.
Hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen dessen, was in BM1 um 13:30 so alles los ist. Ein paar Journalisten sind zusammengeklappt und schlafen zuckend und mit offenen Mündern auf als Kissen untergelegten Mänteln. Die Techs von CBS und NBC sitzen auf ihren angestammten Couches ganz vorn, haben ihre Kameras, Stöcke, Galgenmikrofone, Schachteln mit Isolierband und großen Duracells um sich herum verteilt, diskutieren obskure Stand-up-Komiker aus den frühen Siebzigern und tauschen Presseausweise aus New Hampshire, Iowa und Delaware, die laminiert sind, an Nylonbändern um den Hals getragen werden und anscheinend Sammlerwert haben. Jim C. sieht aus wie Elliott Gould mit chronischem Schlafentzug und beobachtet, wie Travis’ Büchertasche am Schulterriemen metronomartig hin und her schwingt, während ihr Besitzer am Haltegriff lehnt und döst. Die Couches und Polstersessel sind alle nach innen gerichtet, lotrecht zur Fahrtrichtung des Busses, anders als die nach vorn schauenden Sitze in normalen Bussen. Alle strecken die Beine also in den Gang, aber die übliche Soziophobie fehlt, das eigene Bein könne das eines anderen berühren, denn das lässt sich nicht vermeiden, und alle sind zu müde, um sich darum zu kümmern. Genau hinter jedem Couchpaar stehen kleine weiße Plastiktische mit Aussparungen für Getränke sowie Steckdosen, die auch funktionieren, wenn sich Jay dazu bequemen kann, das Stromaggregat einzuschalten (wozu er bereit ist, außer sein Benzin geht zur Neige); am linken Tisch sitzen zwei Stifte und zwei Aufnahmeleiter, und der eine Stift ist Alison Mitchell, wie in die Alison Mitchell, die in der New York Times täglich ein Auge auf McCain hat und eine absolute Spitzenjournalistin ist, erfrischenderweise aber nicht zu den Zwölf Affen gehört; eine schlanke, ruhige, freundliche, vielleicht 45 Jahre alte Dame, die dunkle Strumpfhosen, spitze Stiefel und einen schwarzen, selbst gehäkelt aussehenden Pulli trägt und immer eine Miene beunruhigter Verwirrung aufsetzt, als wäre das ganze Leben eine einzige Bitte um Aufklärung. Alison Mitchell ist normalerweise Stammpassagierin vorne im Klartextexpress, hat heute aber einen würgenden Redaktionsschluss um 15:00 und nutzt die bessere Stromversorgung in BM1, um ihre Geschichte in die Tasten ihres Apple PowerBook zu hacken. (Auch von draußen ist leicht zu erkennen, wer im Bus gerade alles auf einen Laptop eindrischt, denn an deren Fenstern sind die Sichtblenden gegen das Tageslicht runtergezogen, die große Nemesis aller Laptopjournalisten.) Ein ABC-Aufnahmeleiter, der Alison Mitchell am Tisch gegenübersitzt, versucht einen Kreditkartenstreit zu klären, und sein Handy ist unverwechselbar, weil es kein integriertes Gerät ist, sondern einen Ohrhörer und ein winziges schotenartiges Ding hat, das er sich zum Sprechen mit zwei Fingern vor den Mund hält, wodurch er gleichzeitig schwerhörig und schizophren wirkt. Die Leute in den beiden Sitzen hinter dem Tisch lesen USA Today (das könnte auch noch bemerkenswert sein: Das einzige täglich erscheinende Nachrichtenmagazin, das sämtliche Mitglieder der Kampagnenpresse lesen, ist, ob man’s glaubt oder nicht, USA Today, das wie durch schwarze Magie allmorgendlich zusammen mit der Expressauscheck-Rechnung unter allen Hotelzimmertüren durchgeschoben wird und gratis ist, und auf cleveres Marketing fallen Medienfritzen genauso rein wie der Rest der Welt). Der Auspuff des lokalen Ü-Wagens wird lauter, je weiter man nach hinten geht. Ungefähr zwei Drittel des Gangs runter gibt es einen kleinen Bereich mit dem Buskühlschrank, den Spirituosenschränkchen (Letztere in der gestrigen Ludenkutsche unfassbar gut bestückt und völlig leer in BM1) und dem WC mit der abenteuerlichen Tür. Es gibt auch einen kleinen, mit Krispy-Kreme-Doughnut-Schachteln vollgestapelten Tresen und eine Spüle, deren Wasser niemand nutzt (aus guten Gründen, wie sich herausstellt). Krispy Kremes sind des Tiefen Südens Gegenstück zu Dunkin’ Donuts – allgegenwärtig, billig und super für diese Warum-ess-ich-bloß-Dessert-zum-Frühstück-Einstellung – und bilden einen Eckpfeiler der von Jim C. so genannten Wahlkampfdiät.
Hinter den kulinarischen Buszonen liegt noch eine kleine Lounge, die vorne im Express als McCains Pressesalon dient, in Bockmist 1 aber nur ein elliptischer beiger Plastiktisch ist, um den sich eine Couch herumzieht, für die er ein bisschen zu hoch ist, außerdem ein Faxgerät und massenweise Anschlussbuchsen und Steckdosen, und die ganze Zone läuft bei den Pressebetreuern als HPP (= Hinterster Pressepalast). Im Moment sitzt Wendy, Mrs McCains persönliche Tourreferentin – die stahlblaue Kontaktlinsen hat, eine blonde Betonfrisur, makelloses Make-up, untadelige Accessoires und French Nails, und von Rechts wegen vielleicht einfach als eine wirklich sehr republikanisch wirkende junge Dame beschrieben werden kann –, hier hinten am beigen Tisch, isst Suppe aus einer großen Styroporschale und versucht über ihr Handy, in der City von Charleston ein Studio zu finden, wo sich Mrs McCain die Nägel maniküren lassen kann. Der HPP ist auf allen drei Seiten verspiegelt, ein irritierendes Echo des Spiegelbusses von gestern (nur dass in die hiesigen Spiegel wohl als Verzierung gedachte seltsame kleine weiße Gespensterumrisse in die galvanisierte Schicht eingelassen sind), und man kann nicht nur die Spiegelbilder von allen sehen, sondern auch die vielwinkligen Spiegelungen dieser Spiegelbilder usw., und auch das hält noch über das Gerüttel und Geschaukel hinaus die meisten Leute trotz der Fülle an Vernetzungsmöglichkeiten vorn im Bus. Warum genau Wendy den Maniküretermin für ihre Herrin hier in Bockmist 1 arrangieren muss, ist unklar, aber Mrs McC.s gewissenhafte Sorge für ihre Garderobe und Körperpflege ist im Pressekorps schon legendär, und einige Techs spekulieren, dass es neben der fast schon siamesischen Verbundenheit mit Ms. Lisa Graham Keegan (der Bildungsinspektorin von Arizona, die den Senator offiziell als »Beraterin in Bildungsfragen« begleitet, inoffiziell aber einfach dabei ist, weil sie Cindy McCains Vertraute und Busenfreundin ist und der einzige Mensch, in dessen Gegenwart Mrs McC. nicht wie ein Hirsch im Taschenlampenlicht wirkt) nur Dinge wie Maniküre und Haarpflege sind, die diese äußerst zerbrechliche Person auf der Tour zusammenhalten, wo sie bei jeder Rede, jeder BV und jedem Presse-Briefing im heißen Scheinwerferlicht neben McCain stehen und fröhlich ins Leere starren muss, während ihr Ehemann zu Menschenmengen und Objektiven spricht – bei einigen Kabelsendertechs ist die Frage ein Dauerbrenner, was genau Cindy McCain anschaut, wenn sie auf der Bühne steht und von Unmengen von Menschen unter die Lupe genommen wird, aber nie ein Wort sagen darf … und sowieso versteht und respektiert hier jeder den ungeheuren Druck, unter dem Wendy steht, um Mrs McC. bei der Stange zu halten, und niemand macht sich über sie lustig, als sie jetzt zunehmend außer sich gerät, weil sich abzeichnet, dass es in den östlichen Südstaaten offenbar einen bestimmten Ausdruck für »Maniküre« gibt, den Wendy nicht kennt, denn anscheinend kann niemand, mit dem sie am Handy spricht, mit dem Ausdruck »Maniküre« etwas anfangen. Direkt gegenüber von Wendy sitzt hier hinten außerdem ein aberwitzig attraktiver Typ in einem Rollkragenpulli aus grüner Baumwolle, ein Fotograf von Reuters, ganz untröstlich in einem komplexen Gespinst aus Kabeln, die er in so ziemlich allen Buchsen und Steckdosen vom HPP eingestöpselt hat; er hat in seinem Toshiba-Laptop digitale Fotos von der Rede in Columbia, hat sein Handy sowohl mit der Wand als auch dem Laptop verkabelt (der seinerseits ebenfalls mit der Wand verkabelt ist) und versucht, über eine obskure Inter-Reuters-Mailadresse diese Fotos einzureichen, nur hat sein Laptop auf einmal entschieden, dass er sein Handy nicht mehr mag (»mögen« = sein Ausdruck), und er kann ihn nicht zum Einreichen bewegen.
Wenn Ihnen das alles statisch und schleppend vorkommt, vergessen Sie bitte nicht, dass Sie hier einen authentischen Einblick in die Wirklichkeit des Medienlebens auf der Tour bekommen, das nun einmal zum Gutteil daraus besteht, in Bockmist 1 auf und ab zu tigern und die Zeit totzuschlagen, während man auf den minimal substanziellen Blick von Travis wartet, der einem signalisiert, dass er von seinem unmittelbaren Vorgesetzten Todd (28 und so unverkennbarer Harvardabsolvent, dass sich jede Frage danach erübrigt) die Nachricht bekommen hat, dass man nach dem nächsten Halt in die Oberliga im Express hochrotiert wird und dann zusammengequetscht und gelähmt auf der proppenvollen roten Pressecouch am Heck sitzen und zuhören darf, wie John S. McCain und Mike Murphy die Fragen der Zwölf Affen beantworten, und man darf McCain aus nächster Nähe sehen und beobachten, wie er die Beine auf dem Salonboden ausstreckt und an den Knöcheln übereinanderschlägt und gedankenverloren an einem Backenzahn zuzelt und den Kaffee in seinem McCain2000.com-Becher schwenkt, und man versucht zu ergründen, wie dieser Mann in seinem innersten Kasten wohl über die ungeheure Hoffnung und Begeisterung denkt, die er bei Medien und Wählern gleichermaßen entfacht … und Sie sollten gleich und von vornherein wissen, dass das nicht geht und nicht gehen kann, dieses Ergründen, und zwar aus zwei Gründen. Der unwichtigere Grund (1) ist: Wenn man endlich in den Klartextsalon hochrotiert worden ist, entdeckt man, dass die meisten von den Zwölf Affen gestellten Fragen so hohl und banal sind, dass McCain gar keine Zeit auf ihre Beantwortung verschwendet, sondern diese Mike Murphy überlässt, und Murphy ist so urkomisch und trocken und macht sich auf so herrlich grausame Weise über die 12A lustig –
AFFE: Mal angenommen, Sie gewinnen hier in South Carolina, was machen Sie dann?
MURPHY: Dann fliegen wir abends nach Michigan.
AFFE: Und wenn Sie – rein hypothetisch – hier in South Carolina verlieren?
MURPHY: Wir fliegen abends nach Michigan – ob wir gewinnen oder verlieren.
AFFE: Können Sie uns erklären, warum?
MURPHY: Weil das Flugzeug schon bezahlt ist.
AFFE: Ich glaube, er meint: Können Sie uns erklären, warum gerade Michigan?
MURPHY: Weil da die nächste Vorwahl stattfindet.
AFFE: Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mike, dann würden wir Sie, glaub ich, gern dazu bringen, etwas ausführlicher auf folgende Frage einzugehen: Was ist Ihr Ziel in Michigan?
MURPHY: Viele Wählerstimmen zu bekommen. Das gehört zu unserer Geheimstrategie, um die Kandidatur zu gewinnen.
–, dass es oft genug schwer ist zu merken, ob McCain überhaupt da ist und was seine Miene oder Füße gerade anstellen, weil man alle Konzentration darauf verwendet, nicht wie ein Bekloppter loszugackern, wenn man Murphy hört und dann sieht, wie die 12A gravitätisch nicken und grundsätzlich alles, was er sagt, in ihren identischen Notizbüchern mitstenografieren. Der wichtigere und interessantere Grund (2) ist, dass dies rein zufällig die Woche ist, in der sich John S. McCains Antikandidatenstatus praktisch vor aller Welt in Luft aufzulösen droht und er zunehmend ungreifbar und paradox und gewissermaßen als Mensch ununterscheidbar vom Strauch und dem GOP-Establishment wird, in Opposition zu denen er sich immer definiert und die er in New Hampshire so überstrahlt hat, aber die Geschichte steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Das Abenteuerliche an der Toilettentür von Bockmist 1 ist, dass sie sich seitlich öffnet und schließt, mit einem Zischen à la Raumschiff Enterprise zur Seite gleitet, wenn man drinnen nur ganz leicht die DOOR-Taste streift – d.h., man geht rein, drückt leicht auf DOOR, um die Tür zu schließen, kümmert sich um sein Geschäft und drückt wieder leicht auf DOOR, um die Tür zu öffnen: ein Kinderspiel – nur ist die DOOR-Taste nur wenige Zentimeter von der linken Schulter des männlichen Journalisten entfernt, der da über der Toilettenschüssel steht und sich um sein Geschäft kümmert, einer Toilettenschüssel ohne Geländer oder Griffe oder sonst was, woran man sich (sozusagen) festhalten könnte, und wenn man nur ganz leicht nach links taumelt oder schwankt, streift die besagte Schulter die Taste, was – wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass es um einen fahrenden Bus geht – die Tür aufzischen lässt, während man da noch steht und sich um sein Geschäft kümmert, und die Folgen des jähen Herumwirbelns, um wieder auf die Taste zu drücken und die Tür wieder zu schließen, während man da in medias res ist, sind offenkundig zu gräulich vorzustellen, mit dem Ergebnis, dass sich unter den Stammpassagieren von Bockmist 1 bis zum 9. Februar ein wichtiges ungeschriebenes Gesetz herausgebildet hat: Wenn ein Mann aufsteht und zwei Drittel des Weges nach hinten zur Toilette hinter sich hat, räumen alle das Sichtfeld der Toilettentür; dass es sich um einen lokalen Journalisten handelt oder um jemanden, der neu auf die Tour rotiert worden ist oder erstmals in BM1 mitfährt, merkt man an dem leisen erstickten Schrei, der unweigerlich ertönt, wenn er auf der Toilette ist und die Tür unerwartet aufzischt, und meistens grinst dann ein angegrauter alter Stift von der Charleston Post and Courier und ruft: »Willkommen in der nationalen Politik!«, während der Neuling wie wahnsinnig auf die Taste eintatzt und Jay am Lenkrad mit dem Handballen fröhlich auf die Hupe drückt und den Spaß auf diesen langen und in der Regel hirnlosen FZ mitnimmt, wo immer er ihn kriegen kann.
Kommt man an der Steuerbordseite von Bockmist 1 vorbei, sind keine Laptops in Aktion und kaum Sichtblenden runtergezogen, die saubersten Fenster sind gleich hinter dem Kühlschrank, und draußen steht da oben bestimmt irgendwo die Sonne, aber der Februarausblick wirkt trotzdem lichtlos. Die Landschaft mitten in South Carolina sieht unbewohnbar aus, lynchisch, die Himmel haben die Farbe von niedriglegiertem Stahl, das Land besteht aus toten Grasnarben und Besensegge mit schiefgewehten Buscheichen und Kiefern, und man hört förmlich, wie die Moskitos in ihren ausgebeulten Eiern atmen und auf den Frühling warten. Der Winter ist hier unten zugleich kühl und drückend, und Jay muss immerzu an der Klimaanlage herumfummeln, weil es den einen zu heiß und den anderen zu kalt ist. Zottlige Palmettopalmen mischen sich zunehmend unter die Kiefern, je weiter man nach Süden kommt, und die Mischung aus Koniferen und Palmen ist unstimmig wie in einem schlechten Traum. Teilweise sind die vor den Fenstern vorbeiziehenden Bäume abgestorben und werden von Kudzu und Louisianamoos überwuchert, das aussieht wie Trocknerflusen aus der Hölle. Sattelschlepper und gruselig große Pick-ups bilden die einzige Gemeinschaft unserer Busse, und die Pick-ups sind alle rostig, haben Gewehrständer auf den Ladeflächen und rechtslastige Aufkleber; manchmal hupen sie beifällig. Die Fenster von BM1 liegen so hoch, dass man bei den Sattelzügen in die Fahrerhäuschen sehen kann. Die Autobahn selbst ist farblos und sieht an den Rändern angeknabbert aus, an den Standspuren liegt Müll, und der Mittelstreifen besteht aus verdorrtem Gras, und verschiedenste Reifenprofile und Bremsspuren riffeln die Grasnarben Dutzende von Meilen weit, als wäre es hier irgendwann in der Vergangenheit des I-26 zur größten Massenkarambolage aller Zeiten gekommen. Alles sieht tot aus und scheint darüber nicht glücklich zu sein. Vögel ziehen ihre Kreise und wissen nicht, wohin. Es gibt auch seltsame Bäume mit glatten und leuchtenden Rinden, die Pekannussbäume sein könnten; genau weiß das anscheinend keiner. Die Techs haben alle ihre Sichtblenden herabgezogen, obwohl sie keine Laptops haben. Man ahnt schon, wie gespenstisch es hier unten im Sommer sein muss, mit dem ganzen nassen Moos, den Dämpfen aus den Sümpfen, Hunden mit hervortretenden Rippen, und alle schwitzen ihre Hüte durch. Die Medienleute schauen nie zum Fenster raus. Alle sind es gewohnt, die ganze Zeit unterwegs zu sein. Orte werden nur am Telefon genannt: Die Journalisten und Aufnahmeleiterinnen sind immerzu an ihren Handys und versuchen, die Handys anderer Leute zu erreichen, und denen sagen sie dann: »South Carolina! Und wo bist du gerade?« Die andere feste Größe der meisten Handygespräche in einem fahrenden Bus lautet: »Die Verbindung ist fast weg, hörst du mich noch, ich ruf gleich zurück!« Ein unverkennbares Merkmal der Aufnahmeleiterinnen ist, dass sie die Antennen ihrer Handys ganz mit den Zähnen herausziehen; Journalisten nehmen die Finger, oder sie haben Headsets und können beim Sprechen tippen.
Im Moment sind die meisten Leute auf der Steuerbordseite an ihren Handys. Es gibt schwarze und mattgraue Handys; eine Lady von MSNBC hat ein rosa Handy, das ihr Verlobter ihr bei Hammacher Schlemmer besorgt hat. Manche Handys sind so winzig, dass die Sprechmuschel kaum das Ohrläppchen des Anrufers hinter sich lässt und man sich fragt, wie man sich da überhaupt verständlich macht. Es gibt Headsets verschiedener Marken und Farbgebungen, manchmal ohne Antennen, sowie die schon erwähnten Ohrhörer-mit-schotenartigem-Baumelding-Handys. Außerdem gibt es Pager, Beeper, vibrierende Beeper, Sprachnachricht-Pager, deren Chips alle Stimmen verzerren, und Palm Pilots, die CNN-Schlagzeilen und Volltextnachrichten der verschiedenen Telefonnachrichtendienste der Leute wiedergeben, die alle 27 Medienvertreter an Bord von BM1 haben (also Telefonnachrichtendienste), und oft schlagen sie die Zeit tot, indem sie deren Vorzüge diskutieren und komische Anekdoten austauschen. Viele Handys haben individuelle Klingeltöne, was bei so vielen Handys auf so begrenztem Raum wahrscheinlich auch ganz sinnvoll ist. Es gibt ein »Twinkle Twinkle Little Star«, ein »Hail Hail the Gang’s All Here«, eine Walzerversion des Anfangs von Beethovens 5. Symphonie, op. 67, in erhöhtem Tempo usw. Das einzige Haar in der Suppe ist, dass ein Fotograf von US News and World Report, ein Stift von Copley News Service und eine langbeinige Aufnahmeleiterin von CNN, die immer rote Strümpfe und ein Zopfband trägt, alle drei denselben Klingelton aus der Ouvertüre von Rossinis »Wilhelm Tell« haben, also kommt es immer zu einiger Verwirrung und trilateralem Grapschen nach dem Handy, wenn unterwegs eine Ouvertüre von »Wilhelm Tell« loslegt. Die Handys der Network-Techs haben alle Standardklingeltöne.
Jay, der offizielle Fahrer von Bockmist 1 und einer von nur zwei Stammpassagieren an Bord ohne Handy (er benutzt Travis’ großes graues Nokia, wenn er einen der anderen Busfahrer anrufen muss, was häufiger vorkommt, weil Jay, wie er selbst als Erster zugeben würde, in bestimmten Navigationsbereichen ein bisschen schwach auf der Brust ist), hat einen kleinen Aktenkoffer voller CDs dabei, und bei langen FZ hört er die über einen Sony Discman mit großen, wulstigen Studioqualitätskopfhörern (was illegal sein könnte), weigert sich aber, dem Rolling Stone gegenüber zu Protokoll zu geben, was für Musik er da hört. John S. McCain bevorzugt angeblich Klassiker aus den Sechzigern, erträgt aber auch Fatboy Slim, was doch durchaus aufgeschlossen ist. Kopfhörer benutzt außer Jay nur ein 12A, der Umgangskantonesisch lernt, und wenn der aus dem Express wegrotiert wird, sitzt er in BM1 an Backbord immer ganz weit hinten inmitten seiner Kantonesisch-Lehrkassetten und wiederholt immerzu rätselhafte Kreischsalven in einer Lautstärke, die er wegen der Kopfhörer nicht regulieren kann, und dieser Mann hat oft sehr viel Platz für sich. Travis ist aufgewacht und steht in Handykontakt mit Todd vorne im Express, balanciert in seiner üblichen heiklen Haltung auf der Kante eines Sitzplatzes, der von einem wirrsträhnigen und leicht durchgeknallten älteren Briten vom Economist eingenommen wird, der sich gern äußerst redselig darüber auslässt, wie absolut hingerissen die britische Leserschaft von John McCain und dem ganzen populistischen Tory-McCain-Phänomen ist, was zwar alle so spannend finden wie ein Lehrbuch über die Artenvielfalt von Staubsaugertüten, aber er ist trotzdem beliebt, denn er ist ein außergewöhnlich begabter Klemmer heißer Speisen bei den Wahlkampfessen, und er gibt ab. Der Stift vom Miami Herald neben den beiden aktualisiert die Adressbuchfunktion seines Palm Pilot und drückt dazu auf winzige Tasten mit etwas, das wie ein kleiner schwarzer Sektquirl aussieht. Und es wird gerade eine Anekdote zu Gehör gebracht. Eine herrlich sarkastische und komische Libanesin aus Australien (fragen Sie nicht), die für den Boston Globe schreibt, trinkt ein Edensoy mit Vanillearoma und erzählt Alison Mitchell und dem Aufnahmeleiter von ABC mit dem Ohrhörerhandy auf der anderen Seite vom Gang, wie sie am Vorabend im Radisson von North Augusta eingecheckt habe, zum ihr zugewiesenen Zimmer hochgegangen sei und es von einem nackten Mann belegt vorgefunden habe – »Splitterfasernackt. Im Adamskostüm. Barfuß bis zum Hals. Hatte nur einen Waschlappen vor dem Gemächt. Gar nicht mal groß«, was sich (wie Alison M. später erschlossen haben wollte) auf den Waschlappen bezog.
Die letzten noch unerwähnten Stammpassagiere von BM1 sitzen am Arbeitstisch an Steuerbord, der gleich neben der überfüllten Couch und hinter der Gruppe von Techs vorn im Bus steht. Das sind CNN-Korrespondent Jonathan Karl, CNN-Aufnahmeleiter Jim McManus (beide sehen wie Elfjährige aus) und ihr Tontechniker, und die drei machen irgendwas, das interessant genug ist, um ein ungeschickt ausbalanciertes Stehenbleiben und Zuschauen zu rechtfertigen und den leicht durchgeknallten Economist-Typen zu ignorieren, der sich irritiert räuspert, weil im Gang direkt neben seinem Kopf ein Hintern in einer ungewaschenen Hose hin und her schwankt. Der CNN-Tontechniker (Mark A., 29, aus Atlanta und nach Jay der größte Tourteilnehmer, nackenverrenkend anzuschauen und imstande, einen Stock mit Galgenmikro direkt über McCains Kopf zu richten, auch wenn er im dicksten Gewimmel ganz hinten steht) hat aus einem komplex gepolsterten Futteral einen Sony SX-Series Portable Digital Editor (Einzelhandelspreis 32.000 Dollar) ausgepackt, mit Kopfhörern, Jonathan Karls Laptop von Dell Latitudes und seinem Handy verbunden, und jetzt sehen sich die drei im Schnelldurchlauf die CNN-Videoaufnahmen der Grundsatzerklärung an der Strafrechtsakademie von South Carolina heute Morgen an und suchen eine bestimmte Stelle, wo McCain Jonathan Karls Notizen zufolge sinngemäß gesagt hat: »Unabhängig davon, wie Gouverneur Bush und seine Stellvertreter meine Haltung zur Todesstrafe verzerrt haben …« Ein digitaler Timer unter dem 13-Zoll-Bildschirm vom SX erfasst Sekunden und Sekundenbruchteile bis zur vierten Stelle hinterm Komma, und es ist einfach faszinierend zuzuschauen, als sie vorspulen, Mark A. sich über die Kopfhörer etwas anhört, das nur noch unvorstellbares Vorspul-Streifenhörnchenpiepsen sein kann, und abwartet, bis er Karl bitten kann, die Aufzeichnung auf Normalgeschwindigkeit zu schalten, wenn er zu den von McManus so genannten »Kampfausdrücken« der Rede kommt, mit denen sie die CNN-Zentrale sofort beschicken sollen, damit man das Kurzzitat dort etwas Bösem gegenüberstellen kann, das der Strauch anscheinend heute Morgen in Michigan über McCain gesagt hat, und dann eine topaktuelle Nachricht daraus machen kann, was in diesem Wahlkampf heute so an Negativität zur Sprache gekommen ist.
Das ist jetzt eine hübsche Gelegenheit für Zynismus angesichts der Medienvorstellung von »Kampfausdrücken«, während das CNN-Team durch die Rede spult, Jim McManus sein fünftes Krispy Kreme des Tages isst und auf Mark A.s Signal wartet, Jonathan Karl seine Brille mit seiner Krawatte poliert und Mark A. sich mit vor akustischer Konzentration geschlossenen Augen vorbeugt; gleich hinter Marks massiger Schulter, auf dem hinteren Rand der vorderen Steuerbordcouch, sitzt NBC-Kameramann Jim C., der an einem bösen Fall von Kampagnengrippe leidet, sich blutrote Holunderbeerentinktur in eine Flasche Wasser gießt und seinen Gesichtsausdruck dabei sorgfältig im Zaum hält, denn die Holunderbeerenarznei stammt von seiner Frau, die zufällig die Aufnahmeleiterin des NBC-Teams ist, direkt auf der anderen Seite des Ganges sitzt und sein Trinken mit Argusaugen verfolgt, und nachher wird es lustig, wenn sie außer Hörweite ist und Jim C. Sprüche über Holunderbeeren klopft. Zynische Beobachtung: Die Tatsache, dass John McCain in der Rede am Vormittag mehrmals Amerikas »moralische Verarmung« beklagt hat, einen »Schamverlust«, den er den »pausenlosen Sturmangriffen einer gewaltverherrlichenden Unterhaltungsindustrie« zur Last legte, »die ihren moralischen Kompass an die Gier verloren hat« (wenn sich McCain aufregt, neigt seine Rhetorik zu Bildbrüchen), und Geräusche von sich gab, deren Interpretation stark danach klang, die US-amerikanische Unterhaltungsbranche an die staatliche Kandare nehmen zu wollen, was gelinde gesagt brisante verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen dürfte – diese Tatsache interessiert CNN gegenwärtig nicht weiter. Sie fahnden auch nicht nach der haarsträubenden Stelle der Rede, an der McCain erklärte, unser nächster Präsident solle als »Oberbefehlshaber im Krieg gegen Drogen« angesehen werden und die Befehlsgewalt übertragen bekommen, sowohl Geld als auch (so hörte es sich an) Truppen in »Nationen zu entsenden, die anscheinend Unterstützung brauchen, um ihre Exporte von Giften zu kontrollieren, die unsere Kinder bedrohen«. Wenn man bedenkt, dass eine staatliche Medienkontrolle zu dem Urbösen gehört, auf das immer hingewiesen wird, wenn wir liberale Demokratien von totalitären Regimen unterscheiden wollen, und dass die Entsendung von Truppen, um souveränen Staaten bei der Regelung ihrer inneren Angelegenheiten zu »helfen«, den USA einige der schlimmsten Fiaskos der letzten fünfzig Jahre beschert hat, dann klingen diese Teile von McCains Rede eher nach »Kampfausdrücken«, über die eine reife demokratische Wählerschaft in den Nachrichten etwas hören möchte. Aber das ist uns offenbar egal und den Networks daher auch. Möglicherweise ließe sich die These vertreten, dass so viele junge Unabhängige und Demokraten von McCain so begeistert sind, weil die Wahlkampfmedien seine saft- und kraftstrotzende Offenheit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken und die manchmal extrem beängstigenden rechtsextremen Standpunkte außer Acht lassen, zu denen er sich in dieser Offenheit bekennt … aber egal, das eigentlich Fesselnde am Steuerbordtisch von BM1 ist jetzt gerade das, was auf dem Bildschirm des Sony SX mit McCains Gesicht passiert, als die beiden durch die langweiligen Details der Rede spulen. McCain hat weiße Haare (vorzeitig; aus Hoa Lo), dunkle Augenbrauen, eine rosarote Kopfhaut unter etwas, das noch nicht ganz ein Sardellenbrötchen ist, und Pausbäckchen. Bei einem normalen analogen Vorspulen würde man alberne Gesichtsverzerrungen erwarten, denn auf vorgespulten Filmen sieht ja jeder spastisch und albern aus. Die Aufnahme und das Videoschnittgerät von CNN sind aber digital, und beim Vorspulen beschleunigt der Büstenausschnitt von McCain vor acht Streifen der großen Fahne nicht und wird dadurch albern, sondern er explodiert eher in Unmengen von digitalen Kästchen und kleinen Vierecken, und diese Pünktchen fliegen durcheinander, blähen sich auf, schrumpfen, kollabieren, wirbeln herum und setzen sich im Wahnsinnstempo des Vorspulens neu zusammen, und das Bild, das dabei herauskommt, scheint dem schlimmsten Drogenalbtraum aller Zeiten entsprungen, ein physiognomischer Zauberwürfel, dessen Viereckchen und Kästchen herumfliegen, die Formen wechseln und manchmal kurz davor zu sein scheinen, sich zu einem menschlichen Gesicht zusammenzufügen, was auf dem Hochgeschwindigkeitsbildschirm aber nie ganz klappt.
Es ist schwer, plausible Antworten auf die Frage zu bekommen, warum Jungwähler sich so wenig für Politik interessieren. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es so gut wie unmöglich ist, jemanden dazu zu bringen, konzentriert darüber nachzudenken, warum er sich für etwas nicht interessiert. Die Langeweile selbst steht der Nachforschung im Weg; die Tatsache des Gefühls reicht. Ein Grund lässt sich aber definitiv benennen: Politik ist nicht cool. Oder eher umgekehrt: Coole, interessante, lebendige Menschen zieht es anscheinend nicht in die Politik. Denken Sie mal daran zurück, was das damals an der Highschool für Jugendliche waren, die sich für Schülerämter beworben haben: Überkämmte Streber, autoritätshörig und auf traurige Weise ehrgeizig. Emsig bemüht, sich an die Regeln zu halten. Die Jugendlichen, die andere Jugendliche gern verprügelt hätten, wenn das nicht so sinnlos und stumpf gewesen wäre. Und jetzt schauen Sie sich an, wie im Jahr 2000 manche Erwachsenenversionen derselben Jugendlichen aussehen: Al Gore, der am zutreffendsten von CNN-Soundtechniker Mark A. beschrieben wird: »verblüffend lebensecht«; Steve Forbes mit seiner feuchten Stirn und dem bekloppten Kichern; G.W. Bush mit seinem Patrizierschmunzeln und dem durch die Mangel gedrehten Jargon; selbst Clinton mit seinem großen roten Schleimergesicht und dem »Ich teile Ihren Schmerz«. Männer, die gar nicht genug Menschliches an sich haben, um gehasst zu werden – wenn einer von denen ins Blickfeld rückt, meldet sich spontanes Desinteresse, die leidenschaftliche Gleichgültigkeit, mit der man sich oft gegen Schmerz wappnet. Gegen Traurigkeit. Das dürfte sogar der wichtigste Grund sein, warum sich so viele von uns so wenig für Politik interessieren: Moderne Politiker machen uns traurig, tief in uns drin verletzen sie uns auf eine Art und Weise, die sich kaum greifen, geschweige denn beschreiben lässt. Es ist viel leichter, die Augen zu verdrehen und sich alles am Arsch vorbeigehen zu lassen. Wahrscheinlich hängt Ihnen schon dieser eine Absatz zum Hals raus.
Und das ist einer der Gründe, warum so viele Medien John McCain im Wahlkampf mögen: Er ist einfach cool. Nichtstreberhaft. Clinton war in der Schule im Schülerparlament und in der Band – McCain war als Sportskanone in der A-Mannschaft und ein Teufelskerl, von dessen Fähigkeiten zum Feiern und Flachlegen ehemalige Klassenkameraden heute noch voller Ehrfurcht erzählen. Er machte in Annapolis fast als Klassenletzter seinen Abschluss und bekam Probleme, weil er seine Düsenjäger immer zu tief flog, Stromleitungen kappte, ständig Unfälle baute und allgemein einfach cool war. Mit 63 ist er witzig und schlau und macht sich über sich selbst, seine Frau, seine Mitarbeiter, andere Politiker und die Tour lustig. Er verschaukelt Journalisten und erzählt ihnen den letzten Scheiß, aber keiner nimmt ihm das übel, weil es die Sorte letzter Scheiß ist, wo man das Gefühl hat, dieser total coole und wichtige Typ nimmt einen wahr und mag einen so sehr, dass er einem den letzten Scheiß erzählt. Manchmal zwinkert er einem ohne jeden Grund zu. Wenn sich das nach Kinkerlitzchen anhört, vergessen Sie bitte nicht, dass diese Journalistenprofis sehr oft mit Politikern zu tun haben, und bei den meisten Politikern tut Tuchfühlung einfach weh. Wie ein landesweiter Stift dem Rolling Stone und einem anderen Nichtprofi sagte: »Wenn ihr miterlebt hättet, wie sich die anderen Kandidaten aufführen, wärt ihr von McCain noch viel begeisterter. Er handelt noch halbwegs in der Größenordnung von Normalsterblichen.« Und die dankbaren Tourmedien übermitteln – und übertreiben dabei vielleicht – McCains Normalsterblichkeit ihrem riesigen Publikum, der Wählerschaft, die ihrerseits so ekstatisch dankbar ist für einen Präsidentschaftskandidaten, der noch halbwegs in der Größenordnung von Normalsterblichen handelt, dass man sich wirklich verdutzt fragt, wie sehr die Wähler nach einem Minimum an Echtheit in den Männern dürsten müssen, die sie »führen« und »inspirieren« wollen.
Natürlich gibt es Jungwählergruppen, die ganz entschieden moderne Politik machen. Auf der einen Seite wären da die rechtsextremen Christen um Rowdy Ralph Reed, und am anderen Ende des Spektrums gibt es ACT UP und die neuen Männer und zornigen FrauInnen der politisch korrekten Linken. Interessant ist, dass diese extremen Splittergruppen überproportional viel Macht haben, weil die Jungwähler der politischen Mitte den Arsch nicht hochkriegen, um zur Wahl zu gehen. Es ist genau so, wie wir es in Gemeinschaftskunde damals in der Mittelstufe gelernt haben: Wenn ich wähle und du nicht, zählt meine Stimme doppelt. Und nicht nur die Randgruppen profitieren – faktisch ist es für ein sehr mächtiges Establishment von Vorteil, dass die meisten jungen Menschen Politik hassen und Wahlabstinenz üben. Auch darüber kann man mal nachdenken – falls Sie das noch aushalten.
Es gibt noch etwas, das John McCain immer sagt. Er achtet darauf, es am Ende jeder Rede und jeder BV zu sagen, die Presseleute aus den Bussen hören es diese Woche also rund hundertmal. Er macht immer eine Kunstpause und sagt dann: »Ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich habe heute vielleicht ein paar Sachen gesagt, denen Sie vielleicht nicht zustimmen, und ich werde ein paar Dinge gesagt haben, denen Sie hoffentlich zustimmen können. Aber ich werde Ihnen. Immer. Die Wahrheit sagen.« Das ist McCains Abschlussnummer, sein Nachhall auf der Sechssaitigen. Und die stehenden Ovationen, die er damit jedes Mal erntet, muss man gesehen haben. Aber eine Frage bleibt dabei. Warum spenden diese Menschenmengen von Detroit bis Charleston so frenetischen Beifall, bloß weil man ihnen verspricht, nicht zu lügen?
Na, ist doch sonnenklar. Wenn McCain das sagt, bejubeln die Menschen nicht ihn, sondern sie jubeln, weil es ein gutes Gefühl ist, ihm zu glauben. Sie jubeln, weil sich ein seltsamer Knoten im Wählermagen lockert. McCains Fazit und seine Offenheit versprechen, anders gesagt, keine Empathie mit dem Schmerz der Wähler, sondern Befreiung davon. Weil wir belogen und betrogen worden sind, und es tut weh, belogen zu werden. Im Grunde genommen ist es wirklich so simpel: Es tut weh. Das lernen wir mit ungefähr vier Jahren – es ist die erste Erklärung der Erwachsenen, warum es schlimm ist zu lügen (»Wie würdest du es denn finden, wenn …?«). Und jahrelang bekommen wir durch schlechte Erfahrungen eingetrichtert, dass es nervt, belogen zu werden – dass es einen herabsetzt, einem die Selbstachtung nimmt, Respekt vor dem Lügner und vor der Welt. Besonders wenn man chronisch und systematisch belogen wird und die Erfahrung einen lehrt, dass alles, woran man angeblich glauben soll, in Wirklichkeit bloß ein auf Lügen beruhendes Spiel ist. Jungwählern ist das nachhaltig eingebläut worden. Sie persönlich erinnern sich vielleicht nicht an Vietnam oder Watergate, aber ich möchte wetten, Sie erinnern sich an »Keine neuen Steuern«, »nicht eingeweiht«, »gegenwärtig keine direkte Kenntnis etwaigen Fehlverhaltens«, »aber nicht inhaliert« und »Hatte keinen Sex mit besagter Ms. Lewinsky« usw. usf. Es tut weh, sich sagen zu müssen, dass diese angeblichen »Staatsdiener«, zwischen denen man gezwungenermaßen wählen muss, allesamt falsche Fuffziger sind, deren einziges Anliegen das eigene Gedeihen und Vorankommen ist und die Ihnen, ohne rot zu werden, dermaßen die Hucke volllügen, dass Ihnen klar ist, dass die Sie für Idioten halten. Wer würde also nicht gähnen, sich abwenden und lieber Apathie und Zynismus kultivieren, statt sich dem Schmerz einer so verächtlichen Behandlung auszusetzen? Und wer würde sich nicht vor Begeisterung überschlagen, wenn er einen Spitzenpolitiker erlebt, der ihn tatsächlich als Menschen behandelt, als intelligenten Erwachsenen, der Respekt verdient hat? Einen Politiker, der urplötzlich und aus heiterem Himmel im Fernsehen als dieser total aussichtslose Kandidat auftritt und sagt, dass Washington gelähmt ist, dass dort alle gekauft sind und dass die einzige echte Chance, »die Regierungsgewalt dem Volk zurückzugeben«, was angeblich das Ziel aller Kandidaten ist, darin besteht, die riesigen nicht ausgewiesenen politischen Spenden von Unternehmen, Lobbyverbänden und politischen Aktionsgruppen zu verbieten … was alles sattsam bekannte Wahrheiten sind, die jeder kennt, aber kein Politiker hatte in letzter Zeit genug Arsch in der Hose, das auch laut zu sagen. Wer würde nicht johlen, wenn er so was hört, noch dazu von einem Mann, der bekanntlich lieber vier Jahre in einem dunklen Kasten hockte, als gegen einen Kodex zu verstoßen? Wer von uns wäre selbst im Jahr 2000 so zynisch, dass er tief im Herzen nicht noch etwas gute alte abgeschmackte amerikanische Hoffnung verspürte, die da im Dornröschenschlaf liegt wie die Leidenschaft einer alten Jungfer, nicht erloschen, sondern nur auf den Märchenprinz wartend, der sie zu würdigen weiß? Dass John S. McCain III dagegen war, den Geburtstag von Martin Luther King in Arizona zum Feiertag zu machen, dass er glaubt, Rodungen wären gut für Amerika, dass er findet, unsere heutigen Waffengesetze wären nicht klinisch wahnsinnig – all das spielt keine Rolle für die Bürgerversammlungen, wo alle auf den Beinen sind und die eigene Fähigkeit bejubeln, endlich mal echten Grund zum Jubeln zu haben.
Und sind diese Menschenmengen alle blöd, naiv oder über 40? Schauen Sie genau hin. Und wenn Sie immer noch glauben, die Jungwähler als Generation hätten die Fähigkeit verloren – oder den Wunsch hinter sich gelassen –, an einen Politiker zu glauben, schauen Sie sich in Time mal die Aufnahmen des Raves in South Carolina näher an oder die Bildtelegramme der Jungwähler von New Hampshire am Abend von McCains dortigem Sieg.
Schauen Sie sich danach aber auch die Fotos von McCain selber an dem Abend an. Er ist der Einzige, der nicht lächelt. Warum? Kommen Sie drauf? Weil er jetzt gewinnen könnte. Als er anfangs nur mit seiner Frau und ein paar Beratern in einem klapprigen Wahlkampftransporter unterwegs war, bekam er in den Umfragen von PBS und C-Span etwa 3 Prozent. Und es ist leicht (oder zumindest vergleichsweise leicht), den Leuten die Wahrheit zu sagen, wenn man nichts zu verlieren hat. New Hampshire hat alles verändert. Am 7. Februar brachten die drei großen Nachrichtenmagazine auf dem Cover allesamt Aufnahmen von McCain in dem Augenblick, wo die Ergebnisse von New Hampshire bekannt gegeben wurden. Es lohnt sich, seine Augen auf diesen Fotos unter die Lupe zu nehmen. Ab jetzt gibt es etwas zu verlieren oder zu gewinnen. Ab jetzt wird es kompliziert – der Wahlkampf, die Chancen und die Strategie; und wenn es kompliziert wird, wird es auch gefährlich, denn die Wahrheit ist selten kompliziert. Kompliziertes hat meist mit gemischten Motiven, Grauzonen und Kompromissen zu tun. In den Nachrichten war das verdächtige Grollen dieser neuen Komplikationen erstmals zu hören, als McCain bei Fragen zur Konföderiertenfahne von South Carolina herumeierte und lavierte. Das war vor ein paar Tagen. Jetzt steht er für alle im Brennpunkt. Glauben Sie nicht, für die Tourmedien stünde dabei nichts auf dem Spiel. Jetzt, heute, wo für alle die zweiwöchige Ochsentour durch South Carolina losgeht, stellen sich zwei Fragen nach McCain. Die leichte Frage, mit der sich alle Stifte und Chefs auseinandersetzen müssen, ist, ob er gewinnen wird. Die andere – die von den Augen auf diesen Fotos aufgeworfen wird – ist schon schwerer in Worte zu fassen.
Die Woche vom 7.–13. Februar wird dem Rolling Stone als richtige »Depriwoche« der GOP-Wahlkampftour verkauft, ein Zeitraum, der politisch geradezu atemberaubend unsexy ist. Letzte Woche war der Schocker von New Hampshire; nächste Woche ist der wilde Ansturm auf die Vorwahlen in South Carolina am 19. Februar, bei denen es nach Ansicht der Zwölf Affen für McCain ebenso wie für den Strauch um die Wurst geht. Diese Woche hocken alle in den Schützengräben: Händeschütteln, Fundraising, Reisen, Umfragen auswerten, Strategien entwerfen, Tage mit acht Veranstaltungen in Michigan, Georgia, New York und South Carolina überstehen. Der tägliche Presseplan wird von 12- auf 10-Punkt-Schrift verkleinert. Bürgerversammlung im Ukrainischen Kulturzentrum von Warren, Michigan. Lincoln-Day-Dinner der GOP von Saginaw County. Redaktionstreffen mit der Detroit News. Pressekonferenz in schräger, nach Crackküche aussehender Internetfirma in Flint. Nachtflug nach North Savannah mit gecharterter 707, an deren Heck noch schwach das schablonierte PanAm zu erkennen ist. Bürgerversammlung in Spartanburg, South Carolina. Geschlossener Empfang für McCain-Anhänger in drei Bundesstaaten samt Fernsehübertragung aus Charleston. Stadtforum der AARP. Bürgerversammlung in North Augusta. Live-Bürgerversammlung an der Clemson Univ. mit Chris Matthews von Hardball (MSNBC). Bürgerversammlung in Goose Creek. Pressekonferenz in Greenville. Klinkenputzen mit den Kongressabgeordneten Lindsey Graham und Mark Sanford sowie Senator Fred Thompson (Republikaner/Tennessee) und ungefähr 300 Medienvertretern in Florence, South Carolina. NASCAR-Tour und Testfahrt auf dem Darlington Raceway. Bürgerversammlung im Arsenal der Nationalgarde in Fort Mill. Sechsstündiger Flug für zweistündige Spendengala mit Anhängern in New York City. Der Kongressabgeordnete Lindsey Graham richtet in Seneca, South Carolina, ein schräges Grillfest für Unmengen von Männern mit stahlgrauen Augen, Daunenwesten und Truckermützen aus. Signierstunde bei Chapter 11 Books in Atlanta. Aufnahme der Tim Russert Show für CNBC. Bürgerversammlung in Greer. Cyber-Spendengala in Charleston. Larry King Live mit einem Larry King, der noch mehr wie ein Rieseninsekt aussieht als sonst. Presse-Briefing in Sumter. Bürgerversammlung in Walterboro. Immer weiter. Zum Frühstück ein Krispy Kreme, zum Mittagessen ein Sandwich in Plastikfolie und Chips, zum Abendessen mal sehen. Bis auf McCain sind alle schlecht drauf und müde. »In Sachen Euphorie machen wir vielleicht gerade ein Tief durch«, gibt Travis am Montagmorgen in seiner Einführung für neue Stifte zu …
… Bis es genau an diesem Tag zu einer großen taktischen Verschiebung kommt, die McCains Pressekorps überrumpelt, alle möglichen Dinge in Bewegung bringt und Mitte der Woche den dramatischen taktischen Höhepunkt auslöst, den Chris-Duren-Vorfall, der politisch dann total sexy und tierisch aufregend ist, wenn auch nicht unbedingt so, wie man es gern bejubelt.
Die große taktische Verschiebung beginnt im E&B-Saal von etwas namens Riverfront Hotel im geradezu unglaublich unter die Räder gekommenen und deprimierenden Flint, Michigan, wo sich am 7. Februar um 15:00 alle Medienvertreter aus Express und Ludenkutsche versammeln, während McCain in einer Suite im ersten Stock mit seinen Stabschefs kuschelt. Während der Vorwahlkampagne gibt es definitiv keinen besseren Ort für einen Blick hinter die Kulissen als den E&B-Raum, der üblicherweise das drittklassige Fest- oder Konferenzsälchen eines Hotels neben dem Foyer ist, das McCain2000 mietet (auf Kosten der Medien, anteilig genauestens aufgeteilt, genau wie jeden Tag die Sitzplätze in Bussen und Flugzeugen, die kontinentalen Frühstücke vor dem Kofferappell und sogar die »gelieferten Mittagessen« in den E&B-Sälen, die heute aus seltsam knallrotem Schinken auf Wonderbread und Maischips bestehen sowie Kaffee, der wie heißes Wasser mit braunem Buntstift schmeckt, und alle Stifte lästern über das Essen bei McCain2000 und schmücken wehmütig das Gerücht aus, bei Bush2000 bestehe das Mittagessen für Journalisten aus mehreren Gängen mit heißen Speisen, die auf richtigen Tellern von aalglatten Männern mit weißen Tüchern über den Armen serviert würden), sodass Journalisten mit Redaktionsschluss am Nachmittag ihre Texte abschließen und einreichen bzw. ihre Networks beschicken können. In Flint ist der E&B-Raum ein 18 x 15 Meter großer Festsaal mit Neonkronleuchtern, Ornamentteppichen und acht langen Tischen mit Faxgeräten, Buchsen und Steckdosen sowie (gepolsterten) Klappstühlen für die Pressevertreter, die dann Notizbücher aufschlagen, Laptops aufklappen, Sony SX- und DVS-Series Digital Editors hochfahren und loslegen können. Um 15:15 sind alle Stühle mit Aufnahmeleiterinnen oder Stiften besetzt, die alle gleichzeitig zu essen, zu tippen und zu telefonieren versuchen, und ein jugendlicher bebrillter Hüne unbekannter Herkunft und Position geht herum und verteilt Lichtfilter für Computerbildschirme Marke NoGlare™, Sicherheits-Überspannungs- und Blitzschutzleisten, 8-fach, Marke Power Strip™, sowie technische Unterstützung für Leute, deren Laptops oder Handys ausfallen, Travis, Todd und die anderen Pressebetreuer verteilen ganze Stapel von Pressemitteilungen, der ganze E&B-Saal summt und brummt, überall erklingt das Vierfachbimmeln hochfahrender Windows-Programme, das Fiepen und statische Rauschen von Modemverbindungen, das vielphasige Klackern von über vierzig Tastaturen, das nadlige Sirren von Faxgeräten, die New York und Atlanta grüßen, und das Murmeln von Leuten mit Headsets, die ihrem Beispiel folgen. Die Zwölf Affen haben ihren eigenen langen Tisch und sitzen dort gemäß einer nur ihnen bekannten präzisen Hierarchie, alle sitzen in identischen Positionen da, haben die Beine unter den Stühlen gekreuzt, ein Stenonotizbuch vor sich und links eine große Flasche Evian in Reichweite.
Alle reagieren sehr empfindlich, wenn man ihnen über die Schulter schaut, um zu sehen, woran sie gerade arbeiten.
Die Medienvertreter bei McCain2000 ohne tägliche Abgabetermine – also die Techs, ein sehr junger Mann von einem der Wochenblätter, die die Leute an den Supermarktkassen von Detroit gratis mitnehmen können, sowie (nachdem er kein Glück damit gehabt hat, durch den Saal zu spazieren und den Leuten über die Schultern zu schauen) der Rolling Stone – sitzen hinten im E&B-Saal auf einer sehr langen improvisierten Ottomane aus Mänteln, Gepäck und Nichthartschalenkoffern mit elektronischen Geräten. Selbst die Network-Techs, für gewöhnlich wahre Zenmeister im Herumsitzen und Zeittotschlagen, sind beim heutigen E&B gelangweilt bis zum Gehtnichtmehr. Nachdem sie hin und her gerannt sind, um in diesem üblen Viertel ihre ganze Ausrüstung aus dem Bus zu holen, aus der sie dann hier hinten im Saal eine Chaiselongue gebaut haben, haben sie nichts mehr zu tun, können aber auch nicht gut weg, weil ihre Aufnahmeleiterinnen beim Beschicken der Zentrale mit Material jeden Augenblick ihre Hilfe brauchen könnten. Techs bekämpfen die Langeweile, indem sie äußerst phlegmatisch und lethargisch werden, und nebeneinander auf der Ottomane sehen sie aus wie Echsen, deren Gehege unzureichend beheizt wird. Niemand liest. Die Pulsfrequenzen gehen auf 40 runter. Dem ABC-Kameramann fallen die Augen zu, und er döst auf unruhige Weise. Die Techs von CBS und CNN, die gern Karten spielen, spielen heute nicht mal, sondern tauschen sich nur über denkwürdige Kartenspiele ihrer Vergangenheiten aus. Als sich der Rolling Stone hinten wieder zu den Techs setzt, kommt eine kurze und nicht unfreundliche Diskussion über die Entbehrungen und Spannungen von Journalisten mit Redaktionsschlüssen auf und darüber, warum es ein Fauxpas ist, anderen Reportern beim Tippen über die Schultern zu schauen. Überall liegen unverteilte Power-Strip-Steckerleisten herum, und eine Weile spielen die Techs eine nette wasserwaagengewichtemäßige Verarsche mit dem Jungen vom Detroiter Gratisblatt, stöpseln jede Menge Achtfachstecker ein, spielen etwas, das angeblich Todes-Cribbage heißt, und kommen mit komplizierten Regeln und Seemannsgarn von Todes-Cribbage-Partien in früheren E&B-Sälen an, bis Jim C. schließlich sagt, dass sie bloß Spaß machen und dass der Junge (der extrem nervös wirkt und es allen recht machen will) die ganzen Achtfachstecker auch zurücklegen kann.
Es hat nicht mal einen Tag gedauert, um zu merken, dass die Network-Techs – die mehrheitlich zugegebenermaßen wie alt gewordene Roadies aussehen und sich auch so anziehen, aber zu hundert Prozent professionell drauf sind, wenn ein Gewimmel oder das Filmen einer BV ansteht – exponentiell besser sind, wenn man abhängen und was erfahren will, als alle anderen auf der Tour. Klar, die jüngeren Mitarbeiter von McCain und seine Pressebetreuer sind alle echt cool, relaxt und komisch und bringen den supersympathischen Kameradschaftsgeist von Ivy-League-Verbindungshäusern mit (diese Woche ist es total angesagt, sich anzuschleichen, Karatehiebe in den Nacken zu mimen und dazu so schrill »Kiai!!!« zu brüllen, dass die Zwölf Affen missbilligend aufsehen), aber dieser Kameradschaftsgeist ist auf sie beschränkt wie bei einer Militäreinheit, die gemeinsame Kampfeinsätze hinter sich hat, und besonders bei Stiften sind sie zurückhaltend und reserviert, reden auch inoffiziell so gut wie nie über sich oder die Kampagne und sind von den Stabschefs offenbar davor gewarnt worden, die Aufmerksamkeit von ihrem Kandidaten abzulenken oder sich etwas entlocken zu lassen, das ihm in den Medien schaden könnte.
Selbst die Techs können dichtmachen, wenn man ihnen zu nah auf die Pelle rückt. Hier im E&B von Flint erzählt einer von den Tonfritzen einen unbestätigten und fast unglaublichen Vorfall, bei dem ein paar ältere Techfreunde von ihm auf der Toilette vom Kampagnenflugzeug des damaligen Kandidaten Jimmy Carter im Februar ’76 tatsächlich gekifft haben – »Damals ging manchmal echt die Post ab, das war alles quasi viel relaxter als die Tour von heute« –, aber als er um Namen und Telefonnummern dieser älteren Freunde gebeten wird (noch so ein echter Fauxpas, erklärt Jim C. später), umwölkt sich sein Gesicht, und er verweigert die Namen und fordert, die Anekdote im Notizbuch vom Rolling Stone nur allgemein »einem von den Tonfritzen« zuzuschreiben, weswegen der Vorfall hier nur als unbestätigt erwähnt wird, und den Rest der Woche macht dieser spezifische Typ total die Schotten dicht, wenn der Rolling Stone in Sichtweite ist, was schade, aber auch schmeichelhaft ist.
»RG« ist, wie oben erwähnt, Tourjargon für »Rauchgelegenheit«, die mit sehr wenigen Ausnahmen nur von den Techs genutzt wird (von denen aber umso intensiver); in den Bussen ist das Rauchen selbst dann verboten, wenn man hoch und heilig verspricht, den Rauch sorgfältig aus dem Fenster zu pusten; praktisch das einzige Gute an den E&Bs ist daher, dass sie de facto eine einzige lange RG darstellen, allerdings muss man dazu auch hier in die Kälte raus und den Anblick von Flint ertragen, und die Techs müssen erst die Genehmigungen ihrer Aufnahmeleiterinnen holen und ganz genau angeben, wo sie dann sind. Draußen am Seiteneingang zum Riverfront am Parkplatz, wo es so kalt und windig ist, dass man mit Fäustlingen rauchen muss (eine Praxis, die der Rolling Stone überhaupt nicht empfehlen kann), zählen Jim C. und sein langjähriger Freund und Partner Frank C. en detail weitere Tour-Fauxpas auf und lassen sich mit einigem Mitgefühl über das brutale Leben von Kampagnenreportern aus: das Leben aus dem Koffer und den Versuch, trotzdem immer gebügelte Klamotten zu haben; die inständige Hoffnung, dass das Hotel abends noch Zimmerservice hat; die Ernährung mit einer Wahlkampfdiät, die oft genug nur aus Zucker und Koffein besteht (Diabetes scheint die Staublunge des politischen Journalismus zu sein). Dann die ständigen Schlagzeilen; die einzigen Freunde der Stifte auf der Tour sind gleichzeitig auch ihre Konkurrenten, deren Artikel sie die ganze Zeit lesen, möglichst aber nur insgeheim, damit sie nicht unsicher wirken. Vier junge Männer in Jacken über Sweatshirts mit übergestülpten Kapuzen streichen um die Ludenkutsche der Medien herum, stiften sich gegenseitig an, die Fenster auszuprobieren, und zwei Techveteranen verdrehen nur die Augen und winken. Der Ludenkutscher ist nirgends zu sehen – niemand weiß, wohin die Fahrer während der E&Bs verschwinden (auch wenn es da so Theorien gibt). Abgeraten wird auch vom Rauchen bei starkem Wind, wenn man gleichzeitig auf der Stelle hüpft. – Die NBC-Techs sagen, das ist auch nicht nur bei Kampagnen so: Politikjournalisten sind immerzu in dem einen oder anderen Kasten unterwegs, oft wochenlang, sehr einsam, und die Verbindung mit ihren Angehörigen halten sie nur über Handys und Telefonnachrichtendienste. Der Rolling Stone spekuliert, dass jeder im Pressekorps von McCain2000, vom Tech bis zum 12A, vielleicht deswegen einen Ehering trägt – es ist wichtig, das Gefühl zu haben, dass es jemanden gibt, zu dem man nach Hause kommen kann. (Von ihrem autoritären detaillierten Führungsstil in Sachen Gesundheit mal abgesehen, schreibt Jim C. der Anwesenheit seiner Frau auf der Tour die Erhaltung seines gesunden Menschenverstands zu; als Frank C. das hört, schreibt er flachsend der Abwesenheit seiner Frau auf der Tour die Erhaltung seines gesunden Menschenverstands zu.) Kein Tech raucht Filterzigaretten. Der Rolling Stone erwähnt, vor der Abschaltung als Quelle durch seinen, des RS’ Fauxpas habe der ungenannt bleibende Tontechniker gesagt, das allnächtliche Schlafen in Hotels sei für die Medienvertreter von McCains Wahlkampagne Stressfaktor Nummer eins. Der Strauch steigt anscheinend in Fünfsterneläden mit Golfplätzen, Springbrunnen mit spritzenden Nymphen und Kurzwahlnummern für die Hausmasseurin ab. Anders bei McCain2000, wo man Marriotts, Courtyards by Marriott, Hampton Inns, Signature Inns, Radissons, Holiday Inns und Embassy Suites bevorzugt. Der Rolling Stone, der für das Leben eines mobilen Journalisten einfach nicht geschaffen ist, führt die seelenmordende Anonymität und die flüchtige Gleichförmigkeit von Kettenhotels ins Feld: die allgegenwärtigen Blumenmuster der Bettdecken, die mannigfaltigen wattschwachen Lampen, die fahlen, fest verschraubten Gemälde an den Wänden, das schizoide Flüstern der Klimaanlage, die kläglichen Flauschteppiche, den Geruch unbekannter Reinigungsmittel, die Kleenexspender an den Wänden, die automatisierten Weckanrufe, die lichtdichten Vorhänge, die Fenster, die sich grundsätzlich nicht öffnen lassen. Dieselben Fernseher mit derselben Stimme, die auf der achtsekündigen Bandansage des voreingestellten Hotelsenders dasselbe »Willkommen im « sagt. Das Gefühl, dass alles im Zimmer von tausend Händen schon mal angefasst worden ist. Die Spülgeräusche anderer. Der RS fragt, ob es ein Wunder sei, dass über die Hälfte aller Selbstmorde in den USA in Kettenhotels verübt würden. Jim und Frank sagen danke, sie haben’s geschnallt. Frank hebt zum Abschied einen Skihandschuh, als die jungen Männer am Bus endlich aufgeben und abziehen. RS verweist auf das zentrale Paradox von Kettenhotels: die Form der Gastlichkeit ohne ihr Gefühl – Sauberkeit wird Sterilität, die Höflichkeit der Angestellten eine Form der Zurechtweisung. Das schreckliche Oxymoron »Hotelgast«. Es wäre denkbar, dass die Hölle ein Kettenhotel ist. Ob es Zufall sein könne, dass McCain als Kriegsgefangener im Hanoi Hilton einsaß? Jim zuckt die Schulter; Frank sagt, man gewöhnt sich daran und denkt lieber nicht länger drüber nach. Netzwerkkamera- und -tontechniker scheffeln massenweise Überstunden, wenn sie bei einer Wahlkampagne über längere Zeiträume hinweg vor Ort bleiben. Frank C. hat McCain2000 seit Anfang Januar ununterbrochen begleitet und wird frühestens zu Ostern rausrotiert; das Geld finanziert ihm drei freie Monate, in denen er Indieplatten arrangiert, bis elf schläft und keine Sekunde lang an Hotels, Gewimmel oder die seltsamen Schmerzen seiner Nieren denkt, die einen Tag lang im Bus durchgerüttelt worden sind.
Am Montagnachmittag, dem ersten und einzigen E&B in Michigan, wird der Rolling Stone auch mit dem Handywalzer bekannt gemacht, einem der beeindruckendsten Naturphänomene der ganzen Tour. Wenn man vom Seiteneingang zum Riverfront in den Hotelbereich zurückgeht, wo der E&B und die Toiletten liegen, muss man eine Art großes leeres Foyer durchqueren. Das dauert sehr lange, hundert Meter nichts als Plattenmauern und Hinweistäfelchen mit den protzigen Namen der Fest- und Konferenzsäle vom Riverfront – der Eichensaal, der Windsorsaal –, aber als wir jetzt von der RG zurückkommen, ist hier ein halbes Dutzend Pressevertreter aus dem E&B-Saal versammelt, jeder fünfzehn Meter vom nächsten entfernt, um ungestört reden zu können, und alle laufen mit einem Handy am Ohr müßig und gegen den Uhrzeigersinn im Kreis herum. Diese kleinen Kreise sind der Handywalzer, wahrscheinlich das digitale Pendant zum Kritzeln oder Nasebohren beim Festnetztelefonieren. Es liegt etwas seltsam Niedliches in den verschiedenen Kreisen des Walzers, die verschiedene Durchmesser, Schrittlängen und Rotationsfrequenzen haben, aber allesamt gegen den Uhrzeigersinn und mit dem Handy am Ohr. Wir verlangsamen, um den Anblick auf uns wirken zu lassen; man kann nicht anders. Von oben – wenn es im ersten Stock beispielsweise eine Galerie gäbe – würden die Walzer wie Zahnräder einer fremdartig diffusen Maschine wirken. Frank C. sagt, er kann ihren Gesichtern ablesen, dass etwas im Busch ist. Jim C., der seinen Holunderbeerensaft in der einen Hand und Hustensirup in der anderen hat, sagt, interessant sei, dass Medienleute südlich des Äquators denselben Handywalzer tanzen, aber da unten tanzen sie im Uhrzeigersinn.
Wie sich herausstellt, liegt Frank C. wieder einmal goldrichtig, und die Journalisten sind herausgeflitzt und walzen durchs Foyer, weil sich während unserer RG im E&B-Saal offenbar herumgesprochen hat, Mike Murphy, Stabschef von McCain2000, würde zu einem Spontanbriefing betreffs einer brandneuen, zweiseitigen Presseerklärung (noch warm vom Kopierer) herunterkommen, die von Travis und Todd gerade verteilt und deren erste Seite hier faksimiliert wird:
Dieses Dokument ist nicht nur ungewöhnlich, weil die Presseerklärungen von McCain2000 üblicherweise Paradebeispiele nichtssagender Belanglosigkeit sind – »McCAIN SETZT HEUTE WAHLKAMPAGNE IN MICHIGAN FORT«; »McCAIN ISST BEI VETERANENPICKNICK IN SOUTH CAROLINA ZWEI TELLER KARTOFFELSALAT« –, sondern auch, weil gerade Mike Murphy höchstpersönlich herabgekommen ist, um diesen abrupten Tonwechsel in der Wahlkampfrhetorik zu begründen. Murphy ist zwar erst 37, sieht aber älter aus und ist der Seniorstratege von McCains Kampagne, ein professioneller Politikberater, der schon achtzehn Senats- und Gouverneurskampagnen zum Erfolg geführt hat und wie erwähnt eine ständige und bissige Präsenz in McCains Pressesalon an Bord des Expresses ist. Er ist ein kleiner hüftstarker Mann, von irgendwie hefiger Blässe, hat rote Babyhaare auf dem großen Kopf und schläfrige Schildkrötenaugen hinter einer bewusst streberhaften Hornbrille, wie sie jetzt viele Musiker und Studenten tragen. Er hat kurze, gedrungene und stumpfe Gliedmaßen und scheint immer in einem Sessel zu versacken oder sich auf etwas aufzustützen. Oxymoron hin oder her, Mike Murphy sieht aus wie ein riesiger Zwerg. Bei den Politikprofis hat er den Ruf, (1) intelligent und saukomisch und (2) ein richtiger Kampfhund zu sein, der für Klienten wie Oliver North, Christine Todd Whitman (New Jersey) und John Engler (Michigan) die Wahlkampagnen – wahre Bosheitskonzerte – orchestriert und Werbesendungen produziert hat, die die New York Times mit einem verbalen Weichzeichner als »einige der scharfkantigsten Spots der Branche« bezeichnet hat. Er lehnt an der Wand vom E&B, hat die Hände ins Kreuz gelegt, wippt aus den Hüften vor und zurück, trägt genau dasselbe wie diese ganze Woche – gelbe Köperhose, braune Wallabys und eine uralte und ultracool aussehende braune Lederjacke – und ist in einem 180°-Kreissegment von den Zwölf Affen umgeben, die alle Stenonotizbücher oder winzige Profikassettenrekorder gezückt haben und sich vor Aufregung permanent räuspern oder die Brillen hochschieben.
Murphy sagt, er wolle nur mal »vorbeischauen«, um das Pressekorps mit ein paar Hintergrundinformationen zu der scharfen Presseerklärung und mit der Vorankündigung zu versorgen, dass die McCain-Kampagne außerdem einen Spot mit einer »Stellungnahme« plane, die ab dem nächsten Tag in South Carolina ausgestrahlt werde. Murphy verwendet neunmal in zwei Minuten die Worte »Stellungnahme« und »Stellungnahme-Spot«, und als einer der Zwölf Affen ihn mit der Frage unterbricht, ob es angemessen sei, diesen neuen Spot als negativ zu charakterisieren, wirft Murphy ihm einen blutstillenden Blick zu und buchstabiert noch einmal sehr langsam »S-t-e-l-l-u-n-g-n-a-h-m-e«. Er lehnt und wippt an der Wand zwischen der Saaltür und dem runden Tischchen, auf dem sich noch ungegessene Sandwichs stapeln (die von der Zeit gar nicht gut behandelt worden sind), die Zwölf Affen, einige Aufnahmeleiterinnen und minder wichtige Stifte bilden ein Halbgewimmel um ihn herum, und hinten stellen sich verschiedene Pressevertreter an und lösen sich wieder, um hinauszugehen und die neuen Entwicklungen telefonisch in ihre Hauptquartiere durchzugeben.
Mike Murphy erklärt dem Hemisphärengewimmel, in der Presseerklärung und dem neuen Spot schlage sich die nach zähem Ringen getroffene Entscheidung von McCain2000 nieder, auf das zu reagieren, womit sich Gouverneur G.W. Bush der im Januar mit Handschlag besiegelten Übereinkunft der beiden Kandidaten entziehe, einen bilateral positiven Wahlkampf zu führen. Seit fünf Tagen lasse der Strauch vor allem in New York und South Carolina Spots ausstrahlen, die McCains politisches Programm auf für Murphy »mutwillig verzerrende Weise« darstellten. Außerdem seien da die Push-Umfragen (vgl. die obige Presseerklärung), die allgemein als das Hinterletzte in Sachen schäbige Wahlkampftaktik gälten (der Kongressabgeordnete Lindsey Graham, der McCain morgen bei den BV vorstellt, wird diese Suggestivumfragen den Wählern von South Carolina gegenüber als »das Crack der modernen Politik« bezeichnen). Das Schlimmste, das absolut Untragbarste, betont Murphy, sei aber, dass der Strauch auf einem Podium in South Carolina vor ein paar Tagen mit einem spinnerten und eingefleischt extremistischen Veteranen aufgetreten sei, und dieser habe John McCain in aller Öffentlichkeit beschuldigt, er habe nach seiner Rückkehr aus Vietnam »seine Kameraden im Stich gelassen«, und auch ohne nähere Beschäftigung mit Senator McCains bestens dokumentierter persönlicher Biografie und seinen heldenhaften legislativen Bemühungen über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg, Verbesserungen für Veteranen herbeizuführen, sagt Murphy (und seine Stimme steigt an dieser Stelle um eine Oktave, und seine Wangen laufen hochrot an, und offenbar ist er persönlich getroffen und gekränkt, was bedeutet, entweder mag er John S. McCain III persönlich und glaubt an ihn, oder aber er hat diese furchterregende Fähigkeit, seine Wangen nach Belieben hochrot anlaufen lassen zu können, so, wie berühmte Schauspieler sich aufs Stichwort zum Weinen bringen können), verstoße das so eklatant gegen alle guten Sitten, dass eine Stellungnahme einfach unumgänglich sei.
Die Zwölf Affen sind alte Profis bei dieser Sorte Schlagabtausch und versuchen, Murphy vom Tun des Strauchs abzulenken und Ihnen eine zitierfähige Erklärung abzugeben, warum sich McCain selbst zu dieser Stellungnahme im Fernsehen entschlossen habe, die Travis und Todd jetzt aus einem frischen Kopienstapel zirkulieren lassen und die hier dank der Duldung durch diverse Stellen ebenfalls reproduziert werden kann –
–, und an dieser Stellungnahme heben die 12A hervor, dass insbesondere der »Verdreht die Tatsachen wie Clinton«-Teil schon ziemlich negativ sei, denn wenn man einen Republikaner im Jahr 2000 mit Clinton vergleiche, dann könne man ihn auch gleich als Satanisten brandmarken. Mike Murphy – zu dessen Job als Seniorstratege es gehört, eine Art ablenkenden Blitzableiter für taktische Kritik an McCain abzugeben – sagt aber, er, Mike Murphy, sei die treibende Kraft hinter der »starken Stellungnahme« des Spots gewesen, er habe sich für diesen Spot »vehement eingesetzt«, habe »die Kampagne« allerdings erst »nach sehr viel Hin und Her« zur Zustimmung bewegen können, denn »Senator McCain hat euch Jungs ja ins Stammbuch geschrieben, dass er eine Wahlkampagne will, auf die wir alle stolz sein können«. Nun verstehen sich Politikreporter sehr gut darauf, eine Anfrage immer wieder ganz leicht umzuformulieren und im Grunde ständig dieselbe Frage zu stellen, bis sie endlich die gewünschte Antwort erhalten, und nachdem sie dieses Spielchen ein paar Minuten gespielt haben, haben sie Murphy dann auch so weit, dass er die Hände in so einer »Was soll man da machen?«-Geste hochwirft und sagt: »Passt auf, ich werd den Teufel tun und meinen Mann fünf Tage lang mit Dreck beschmeißen lassen, ohne Revanche zu üben«, woran sich dann noch ein paar Minuten Kritteln über die semantischen Unterschiede zwischen »Stellungnahme« und »Revanche« anschließen, und schließlich streckt Murphy langsam den Arm aus, pikst eines der Sandwichs auf dem Tisch, als würde er eine klinische Sonde einführen, und sagt: »Wenn Bush seine negativen Spots aus dem Verkehr zieht, nehmen wir unsere Stellungnahme zurück. Sofort. Sie können mich beim Wort nehmen.« Damit dreht er sich zur Tür. »Ich hab nur mal vorbeigeschaut, um Ihnen das zu sagen.« Auf dem Rücken seiner Lederjacke ist ein Fleck, der entweder Tipp-Ex oder Vogelkot ist. Es fällt schwer, Murphy nicht zu mögen, aber auf ganz andere Weise als bei seinem Kandidaten. Wo McCain als fast schon brutal offen und direkt rüberkommt, ist Murphys Auftreten schlitzohrig und raffiniert; er hat eine Art Augenzwinkern, das einen glauben lassen möchte, er würde sich über seine eigene Schlitzohrigkeit lustig machen. Er kann aber auch direkt sein. Einer der ältesten und elitärsten 12A im Gewimmel ruft ihm noch nach, dass in diesem Wahlkampf doch wohl keinem Kandidaten die Pistole auf die Brust gesetzt werde, und Mike (die Affen nennen ihn Mike) werde doch wohl zugeben, dass McCain auf eine »Zitat ›Stellungnahme‹« zu Bushs Spot einfach hätte verzichten und damit »auf dem rechten Weg« hätte bleiben können; Murphys letztes Wort über die Schulter ist dann nur noch: »Jungs, wenn ihr einen Pazifisten wollt, unterstützt Bradley.«
In der restlichen guten halben Stunde, bevor John McCain schließlich wieder so weit ist, den Express zu besteigen (N.B.: Später wird bekannt, dass McCain heute Halsschmerzen hatte, was bei seinem Stab offenbar Panikattacken auslöste, er könne an derselben Kampagnengrippe erkranken, die das Pressekorps heimsuchte [Jim C.s Kampagnengrippe sollte sich erst zu einer Bronchitis und dann wohl zu einer leichten Lungenentzündung auswachsen, und drei Tage lang gruppierten sich die Stammpassagiere von Bockmist 1 in South Carolina so um, dass Jim C. zum Pennen eine Couch für sich hatte, auf der er bei langen FZ schlafen konnte, weil er richtig krank war, und erst am Freitag hatte er endlich mal genug Zeit, um sich auch nur Antibiotika zu besorgen, und trotzdem war er die ganze Woche auf den Beinen und filmte bei jeder Rede und jedem Gewimmel, und nach Meinung des RS war er unglaublich tapfer und beklagte sich mit keinem Wort über die Kampagnengrippe im Gegensatz zu den Zwölf Affen, von denen viele ständig Fieber maßen, ihre Drüsen abtasteten und in ihre Handys greinten, um rausrotiert zu werden, sodass es Mitte der Woche in South Carolina eigentlich nur noch neun Affen waren und dann nur noch acht, auch wenn die Techs aus Achtung vor der Tradition weiterhin von Zwölf Affen sprachen], und es stellt sich heraus, dass sich die E&B in Flint so hingezogen hat, weil Mrs McC., Wendy und John Weaver, der politische Geschäftsführer von McCain2000, McCain da oben gurgeln und inhalieren und Echinacea zerstoßen ließen) und nach Saginaw zu fahren, prüfen die Techs ihre Geräte, machen sich für das Gewimmel am Haupteingang vom Riverfront bereit und hören sich dabei die Zusammenfassung von Presseerklärung und Murphys Kommentaren durch den Rolling Stone an, bestätigen, dass der Strauch tatsächlich negativ geworden ist (sie wussten das alles schon lange vor den Zwölf Affen u.a., weil die Techs und Aufnahmeleiter mit ihren Kollegen in den Bussen vom Strauch im ständigen Austausch stehen, während die Pendants der Affen bei Bush2000 genauso unnahbar sind und bei der Informationsweitergabe knausern wie die 12A selbst), und schlagen die letzte Zeit im E&B von Flint tot, indem sie in aller Ruhe die Negativität von Bush2 und McCains Stellungnahme aus taktischer Perspektive analysieren.
Von der schon erwähnten Coolness und dem Korpsgeist mal abgesehen, sollten Sie wissen, dass der einzige journalistische Coup des Rolling Stone in dieser Woche darin besteht, über diese Kamera- und Tonleute zu stolpern und bei ihnen hängen zu bleiben. Die Techs von Fernsehnachrichten – die alle schon an unzähligen Wahlkampagnen teilgenommen haben und weder die Egomanie der Journalisten noch den politischen Eigennutz des Mitarbeiterstabs von McCain2000 mitbringen, um sich den Blick vernebeln zu lassen – erweisen sich als scharfsinnigere und gescheitere politische Analytiker als sämtliche Kommentatoren, die Sie lesen oder im Fernsehen hören können, und ihre Einschätzung der heutigen Entwicklungen in Sachen Negativität ist so außerordentlich nuanciert und durchdacht, dass sich der RS davon nur eine Scheibe abschneiden und hier zusammenfassen kann.
Negativ zu werden, ist riskant. Meinungsumfragen haben gezeigt, dass die meisten Wähler Negativität megageschmacklos finden, und wenn ein Kandidat fies wird, muss er das meistens bitter bereuen. Von daher ist die erste große Frage für alle Techs, warum Bush2000 die Negativitätskarte überhaupt ausgespielt habe. Eine mögliche Erklärung ist, dass der Strauch von McCains Sieg in New Hampshire persönlich so schockiert war und kalte Füße bekommen hat, dass er jetzt wie ein verwöhntes Kind um sich schlägt und McCain zu treffen versucht, wo er nur kann. Das überzeugt die Techs aber nicht. Verwöhntes Kind hin oder her, Gouverneur Bush ist das Geschöpf der Stabschefs seiner Kampagne, und diese Stabschefs sind die besten Berater, die man, wenn man das volle Vertrauen und die Bonität des GOP-Establishments genießt, für 70.000.000 Dollar kaufen kann; das sind keine verwöhnten Kinder, das sind gestandene Taktikprofis, und wenn Bush2000 negativ wird, dann steckt dahinter eine solide politische Logik.
Diese Logik erweist sich als tatsächlich grundsolide, ja inspiriert, und die Techs von NBC, CBS und CNN machen sich an die Ausgestaltung, während der ABC-Kameramann für den Abendflug nach Süden mehrere Notfallsandwichs in seine Objektivtasche stopft, denn die Verpflegungspraxis des Kampagnenflugzeugs ist von berüchtigter Unzuverlässigkeit. Nach dem Angriff des Strauchs hat McCain zwei Handlungsoptionen. Übt er keine Revanche, halten manche Wähler in South Carolina ihm zugute, dass er nicht vom rechten Wege abweicht. Es kann aber auch als Kuschen verstanden werden, und das würde McCains Image des harten Mannes kompromittieren, der sich von niemandem auf die Stulle furzen lässt und Washingtons Kleptokratie niederstarren will. Gar nicht zu reagieren, könnte als Appeasement-Politik gegenüber einem Aggressor verstanden werden, was bei einem Kandidaten mit Militärhintergrund, der die Streitkräfte erneuern und in der Außenpolitik nicht mehr so ein Schisshase sein will, nicht gut ankommt, zumal in einem Bundesstaat wie South Carolina, der höhere Prozentsätze an sowohl Veteranen als auch Waffennarren als jeder andere aufweist. Nach übereinstimmender Auffassung der Techs bleibt McCain also gar nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen. Das ist aber äußerst gefährlich, denn wenn er Revanche nimmt – was all der ausgekochten Schlitzohrigkeit von Murphy zum Trotz natürlich bedeutet, selber negativ zu werden –, riskiert McCain, als ehrgeiziger »Sieg um jeden Preis«-Politiker dazustehen, wo er doch Unmengen an Zeit, Energie und Geld investiert hat, um glaubwürdig die Rolle des genauen Gegenteils davon spielen zu können. Und ein noch wichtigerer Grund, warum McCain es sich nicht leisten kann, dass der Strauch ihn »auf sein Niveau runterzieht« (in der Wendung des CBS-Kameramanns aus Louisiana, der deutlich kleiner ist als der Techdurchschnitt und neben seiner ganzen sonstigen Ausrüstung deshalb immer noch eine kleine Alutrittleiter mit sich rumschleppt, die er in Gewimmeln mit seiner Kamera hochsteigt, was seine Mobilität einschränkt, aber dadurch wettgemacht wird, dass er nach einhelliger Meinung der anderen Techs ein geradezu okkultes Talent dafür mitbringt, immer die vollkommene Stelle zum Aufbauen seiner Trittleiter zu finden, und dann genau von der von seinem Hauptquartier gewünschten Warte aus filmen kann – Jim C. sagt: »Technisch macht dem kleinen Südstaatler keiner was vor«), ist, dass Bush dann seinerseits Revanche gegen die Revanche üben kann, gegen die McCain dann wieder Revanche nimmt, und so weiter und so fort, und dann degeneriert das ganze GOP-Rennen in null Komma nichts zu der langweiligen, deprimierenden und zynischen Retourkutschenfahrt, die Wähler abschreckt und von den Urnen fernhält … zynismusmäßig besonders Jungwähler, wagen der Rolling Stone und der minderjährige Stift vom Detroiter Gratiswochendingens einzuwerfen, die jetzt beide so fieberhaft mitschreiben wie die 12A bei Murphy. Die Techs sagen: Gut, okay, kann sein, aber der taktische Dreh- und Angelpunkt ist, dass John S. McCain es sich nicht leisten kann, Wähler abzuschrecken, denn seine ganze Strategie beruht darauf, die Leute zu begeistern, sie zu inspirieren, mehr Wähler anzuziehen, und zwar gerade die, die das Wählen aufgegeben haben, weil sie von der ganzen Negativität und dem Bockmist der Politiker so angewidert und gelangweilt sind. Anders gesagt, RS und der Detroiter Gratiswochenblattjunge stellen die These in den Raum, der Strauch könne das Kandidatenrennen der GOP unter Umständen aus politischem Eigennutz hässlich und negativ werden lassen, damit die Wähler auf die ganze Sache so gelangweilt, zynisch und angewidert reagieren, dass sie sich gar nicht mehr aufraffen zu wählen. Die Reaktion der ABC-Techs läuft auf ein ›Was du nicht sagst, du Blitzmerker‹ hinaus, und der gute alte Frank C. erläutert dann etwas geduldiger: Richtig, wenn die Wahlbeteiligung niedrig ausfällt, besteht die Mehrheit der Leute, die die Ärsche hochkriegen und doch wählen gehen, aus republikanischen Ewiggestrigen, also der christlichen Rechten und den Parteigetreuen, und diese Gruppen wählen, was man ihnen sagt, die werden vom GOP-Establishment kontrolliert, und das hat, wie schon gesagt, sein ganzes Geld und seine Glaubwürdigkeit in den Strauch investiert. Mark A. von CNN macht eine Pause bei seinen speziellen Dehnübungen, die die Durchblutung der Arme verbessern (Tontechniker sind sehr armbewusst, denn um ein Galgenmikrofon in einem Gewimmel richtig zu positionieren, muss man mit ausgestreckten Armen längere Zeit drei Meter lange Stöcke und zwei Kilo schwere Galgenmikrofone [und das sind zwei Kilo ohne den Pudel] horizontal halten [und wenn Sie das für einen Klacks halten, dann probieren Sie es mal mit einem Besen oder einer Astschere mit Teleskopstange aus], und zwar mit der zusätzlichen Maßgabe, dass das schwere Mikro am Ende nicht wippt, von den Kameras erfasst wird oder [Gott behüte, aber es kursieren Horrorstorys] dem Kandidaten auf den Kopf klonkt), um einzuwerfen, dass das auch erklärt, warum der verblüffend lebensechte Al Gore drüben im Kandidatenrennen der Demokraten bei seinen Angriffen auf Bill Bradley so schonungslos negativ und deprimierend war. Da Gore wie der Strauch das Establishment seiner Partei hinter sich hat, ihre Organisation, ihr Geld und die konformistischen Ewiggestrigen, die wählen, was man ihnen sagt, ist es in Big Als Interesse (und dem seiner Parteibosse), so wenige Wähler wie möglich zu den demokratischen Vorwahlen zu locken, denn je niedriger die Wahlbeteiligung, desto mehr zählen die Stimmzettel der Wähler des Establishments. Und das wiederum, sagt der kleine aber hoch angesehene CBS-Kameramann, erklärt, warum die von uns gewählten Volksvertreter zwar immer die Hände ringen und Pflichtübungen der Bekümmernis angesichts der niedrigen Wahlbeteiligungen absolvieren, aber in der Substanz ändert sich nichts, um die Politik weniger hässlich oder deprimierend zu machen und auf die Weise mehr Wähler an die Urnen zu locken: Die gewählten Volksvertreter sind Platzhirsche, und niedrige Wahlbeteiligungen begünstigen Platzhirsche aus demselben Grund wie indirekte Zuwendungen.
Nur am Rande eine kurze Durchsage des Rolling Stone. Angenommen, Sie gelten demografisch als Jungwähler, dann ist es die Mühe wert, sich einen Augenblick Ihrer wertvollen Zeit lang mit den Konsequenzen der letzten Argumente der Techs zu befassen. Wenn die Politik Sie langweilt und anwidert und wenn Wahlen Ihnen gestohlen bleiben können, dann wählen Sie faktisch die in den Schützengräben hockenden Establishments der beiden großen Parteien, die, worauf Sie Gift nehmen können, nicht bescheuert, sondern sich deutlich bewusst sind, dass es ihren Interessen dient, wenn Sie angewidert, gelangweilt und zynisch bleiben, also geben sie Ihnen gern jeden erdenklichen psychologischen Grund, am Tag der Vorwahlen zu Hause zu bleiben, ein Kawumm nach dem anderen zu kiffen und MTV zu schauen. Bleiben Sie ruhig zu Hause – aber lügen Sie sich nicht in die Tasche, Sie würden nicht wählen. In Wirklichkeit gibt es kein Nichtwählen: Entweder wählen Sie, indem Sie wählen gehen, oder Sie wählen, indem Sie zu Hause bleiben und stillschweigend den Wert der abgegebenen Stimme eines Ewiggestrigen verdoppeln.
Wie dem auch sei, inzwischen sind die Medienvertreter im E&B-Saal am Entmodemisieren, werfen Disketten aus, packen ihre Sachen und bereiten sich auf ihre Berichte von John McCains 18:00-Rede beim Lincoln-Day-Dinner der GOP von Saginaw vor, wo ein als Uncle Sam verkleideter Republikaner auf Dreimeterstelzen auftaucht, die ganze Zeit durch den halbdunklen Festsaal wackelt, mehrmals fast ins Podium der Networkteams kracht und alle Welt auf die Palme bringt und wo die Zwölf Affen den Oberkellner bestechen oder belabern, sie an einen Tisch für trotz Reservierung nicht erschienene Gäste zu platzieren und Abendessen zu servieren, während der Rest vom Pressekorps hinten im Saal stehen und dem leicht durchgeknallten Typen vom Economist helfen muss, Knabberkram zu klemmen, wenn keiner kuckt. Den Techs dabei zuzusehen, wie sie sich für das Gewimmel um McCain ausrüsten, wenn der den Klartextexpress besteigt, ist, als würde man Soldaten bei der Vorbereitung auf einen Kampfeinsatz zusehen: Man muss unzählige Behälter und Futterale an Rücken und Brust festmachen oder um die Hüfte schlingen, verbinden und fixieren, sauteure Geräte mit Filtern, Kassetten, Birnen und Ersatzakkus bestücken und mit komplexen Schnüren und Koaxialkabeln verbinden, Pudel über Galgenmikrofone mit hoher Filterleistung stülpen, Stöcke auswählen und sorgfältig auseinanderziehen, bis sie an die Rüssel monströser Insekten erinnern und leicht wippen (also die Stöcke und Mikros der Tonleute), wenn die Techs im Gewimmel mit McCain Schritt halten und seinen Kopf im Mittelpunkt der Aufnahme und genau unter dem Mikro am langen Stock zu halten versuchen für den Fall, dass er etwas Nachrichtenwürdiges von sich gibt. McCain trägt einen frischen blauen Nadelstreifenanzug, und sein Teint ist von KG-Fieber oder taktischem Adrenalin gerötet. Als er durchs Foyer vom Riverfront auf das Gewimmel zugeht, hinterlässt er ein leichtes Kielwasser hochwertigen Aftershaves, hinter ihm sieht man Cindy McCain, die ihm mit ihren exquisit manikürten Händen unsichtbare Flusen von der Schulter zupft, und in solchen Augenblicken kommt man kaum umhin, für diesen Mann zu schwärmen, ihn richtig zu mögen und auf jede praktisch machbare Weise, die einem nur einfällt, unterstützen zu wollen.
Und das ist jetzt der beste Teil der technischen Aufrüstung vor jedem Gewimmel: Zusehen, wie die Kameramänner ihre 40.000-Dollar-Ausrüstung wie Granatwerfer auf die Schultern wuchten, die Sicherheitsgurte unter dem anderen Arm hindurchführen, straffziehen, mit oft geübter Fingerfertigkeit die Schnappverschlüsse einrasten lassen und dann unter den Gewichten der Kameras schräg stehen. Jim C. sagt immer mit tiefer Pseudo-Bwana-Stimme »Hoch, Simba«, wenn er die Kamera auf die rechte Schulter hievt, und Frank C. und er führen gern eine kleine Pantomime auf, die an Footballspieler erinnert, die vor einem wichtigen Spiel die Helme aneinanderdreschen, nur dass die Techs das sehr vorsichtig machen und aufpassen, dass sich die Geräte nicht berühren und die Kabel nicht verheddern.
Die Einschätzung der Techs ist also, dass die Entscheidung von Bush2, negativ zu werden, taktisch solide und politisch praktisch brillant ist und McCains Strategen zu einem riskanten Drahtseilakt zwingt. McCain muss versuchen, Revanche zu üben, ohne das inspirierende Image zu verlieren, auf dem rechten Weg zu sein, dem er den Sieg in New Hampshire zu verdanken hat. Deswegen hat Mike Murphy wertvolle Kuschelzeit mit seinem Kandidaten geopfert und ist in den E&B-Saal runtergekommen, um den Zwölf Affen zu verklickern, dass Bushs Angriffe so eklatant gegen alle guten Sitten verstießen, dass sich McCain zu einer »Stellungnahme« genötigt sah. McCain2000 muss die heutige Revanche so hindrehen, wie Nationen Kriegserklärungen hindrehen, soll heißen, McCain muss es so aussehen lassen, als werde er nicht aggressiv, sondern erwehre sich nur eines Aggressors. Um das durchzuziehen, braucht McCain2000 ungeheure Disziplin und Abgefeimtheit. Und die morgen im Fernsehen ausgestrahlte »Stellungnahme« ist nach Ansicht der Techs, während der kopierte Text noch herumgeht, disziplin- und abgefeimtheitsmäßig kein vielversprechender Auftakt, am wenigsten der »Verdreht die Tatsachen wie Clinton«-Passus, wegen dem die 12A über Murphy hergefallen sind. Der Satz ist zu fies. Bei McCain2000 hätte man sich für einen viel weicheren und klügeren Spot entscheiden können, der mit einer Lammsgeduld bestimmte »bedauernswerte Irrtümer« in Bushs Spots »richtiggestellt« und »mit allem nötigen Respekt« darum »gebeten« hätte, dass die Push-Umfragen nicht fortgesetzt würden (alles in Anführungszeichen von Jim C. vorgeschlagene Ausdrücke und Wendungen), was genau den richtigen Ton des rechten Wegs getroffen hätte. Der jetzige Spot mit seinem »Verdreht wie Clinton« klinge nicht nach rechtem Weg, sondern nur verärgert und aggressiv. Und er ermögliche Bush die Stellungnahme, dass McCain die mit Handschlag besiegelte Übereinkunft verletze, gegen das elfte Gebot verstoße (= »Du sollst einem anderen Republikaner nichts Schlechtes nachsagen«, was ewiggestrige GOPler sehr ernst nehmen) und eklatant gegen alle guten Sitten sei … was für die Techs natürlich Bockmist ist, was aber wirksamer Bockmist sein könnte, und McCain biete dem Strauch mit seinem aggressiven Spot eine Blöße, die dieser sofort nutzen werde.
Wenn es ein Fehler ist, warum begeht McCain ihn dann? Inzwischen sind die Techs im Bus, haben das Gewimmel am Hotelausgang hinter sich und das Gewimmel am Eingang in Saginaw vor sich, und da die Fahrt nur zehn Minuten dauert, haben sie nur die Kameras abgenommen und die Stöcke eingefahren, den Rest ihrer Ausrüstung aber noch umgeschnallt, müssen deswegen unangenehm aufrecht dasitzen, zucken bei jedem Schlagloch zusammen und erinnern im verspiegelten Himmel der Ludenkutsche erst recht an Kampftruppen, die in einem Science-Fiction-Film zu einem außerplanetarischen Brückenkopf unterwegs sind. Nach der Analyse der Techs ist das »Verdreht die Tatsachen wie Clinton« davon motiviert, dass McCain wirklich und persönlich stinksauer auf den Strauch ist und dass er Mike Murphy die Leine abgenommen und ihm erlaubt hat, das zu tun, worauf er sich am besten versteht: zubeißen. McCain ist bekanntlich ein temperamentvoller Mensch (auch wenn er im Wahlkampf bisher extrem beherrscht aufgetreten ist und sich das in der Öffentlichkeit nie hat anmerken lassen), und Jim C. meint, der eigentlich geniale Kniff der Strategen vom Strauch sei es gewesen, McCain bis aufs Blut zu reizen, sodass er negativ werden wollte, obwohl John Weaver und die anderen Stabschefs ihn gewarnt haben dürften, dass er Bush2000 damit nur in die Hände spiele. Diese Analyse erinnert den Rolling Stone plötzlich an die Stelle im Paten, wo Sonny Corleones tödliche Schwäche sein aufbrausendes Temperament ist, das Barzini und Tattaglia ausnutzen, wenn sie Connie von Carlo zusammenschlagen lassen, was Sonny so fuchsteufelswild macht, dass er losfährt, um Carlo umzubringen, und in Barzinis Hinterhalt an der Mautstelle am Richmond Parkway ermordet wird. Jim C. ist schweißgebadet, versucht, unter seinen achtzehn Kilo Ausrüstung nicht zu husten, und sagt, da könne was dran sein, und Randy van R. (der Kameramann von CNN und einsilbige Cineast) könnte sich denken, dass der Beraterstab vom Strauch seine gesamte Strategie tatsächlich an Barzinis geniale List im Paten angelehnt hat, und Frank C. spinnt den Gedanken weiter und sagt, Bush2s Analogie zum Verprügeln von Connie Corleone wäre dann der Auftritt mit dem übergeschnappten Veteranen, der behauptet hatte, McCain hätte seine Kameraden im Stich gelassen, was auf den ersten Blick dämlich und unnötig fies von Bush war, aus einer anderen Perspektive vielleicht aber einfach genial, wenn es nämlich McCain so wütend gemacht hätte, dass sein Rachebedürfnis sein politisches Urteilsvermögen in den Schatten gestellt habe. Frank C. warnt nämlich, dass diese Revanche – und Bushs Reaktion darauf und McCains Gegenreaktion auf Bushs Reaktion – das Einzige ist, was die Zwölf Affen und die anderen Pressegeier wirklich interessiert, und wenn McCain die Dinge zu hässlich werden lässt, dann bringt er niemanden mehr dazu, auf irgendetwas anderes zu achten.
Für den Rolling Stone wäre es natürlich tierisch interessant gewesen, die Gespräche auf höchster Ebene zu verfolgen, bei denen McCain, John Weaver, Mike Murphy und die anderen Stabschefs der Kampagne das alles ausbaldowert und die Presseerklärung und den Spot mit der Stellungnahme formuliert haben, aber solche Strategiesitzungen sind für Journalisten natürlich tabu, und sei es nur, weil die Medien ja gerade das Objekt und die Zielgruppe für die Ergebnisse solcher Strategiesitzungen sind; sie sind die Kritiker, die entscheiden, ob das alles aufgeht (und Murphys kleine Extra-»Vorankündigung« im E&B von Flint war die Ouvertüre dieser Strategie, was jedem im Saal klar war, was aber niemand laut aussprach).
Es zeigt sich aber, dass es schon reicht, den Techs dabei zuzuhören, wie sie die Zeit totschlagen, indem sie die Weichenstellungen des Tages dekonstruieren, denn die Ereignisse der nächsten Tage bestätigen ihre Analyse zu so ziemlich hundert Prozent. Am Dienstagmorgen lautet im Fernseher vom Radisson in North Savannah, South Carolina, sowohl bei Today als auch bei Good Morning America der Aufmacher »GOP-Wahlkampagne wird hässlich«, und gezeigt wird der Ausschnitt von McCains neuem Spot, wo er »verdreht die Tatsachen wie Clinton« sagt; und klar doch, mittags hat der gute alte Strauch schon eine Reaktion parat, wirft John S. McCain vor, die per Handschlag besiegelte Übereinkunft zu verletzen und negativ zu werden, und sagt (der Strauch), ihn (den Strauch) habe es »persönlich verletzt und schockiert«, mit Bill Clinton verglichen zu werden; bei sechs über ganz South Carolina verteilten BV und Presse-Briefings in Folge wettert McCain gegen Push-Umfragen und »Gouverneur Bushs Büchsenspanner«, die »mich angreifen und mir vorwerfen, Amerikas Veteranen im Stich zu lassen«. Er klingt jedes Mal schriller und gereizter, und wenn er mit den Veteranen ankommt, schwillt und pulsiert in der linken Schläfe eine Ader, die vorher niemand bemerkt hat; bei einem Presse-Briefing im Hilton Head beteuert der Strauch, er wisse absolut nichts von sogenannten Push-Umfragen, und unterstellt, bei McCain2000 habe man sich die ganze Angelegenheit als eine schäbige politische Masche aus den Fingern gesogen; am Mittwochmorgen ist im Fernseher der Embassy Suites in Charleston ein noch aggressiverer Spot zu sehen, zu dem Murphy McCain überredet hat, und dieser Spot wirft Bush jetzt vor, die Handschlagübereinkunft einseitig zu verletzen und negativ zu werden, zeigt dann eine Nachtaufnahme der berühmten Fassade von 1600 Pennsylvania Avenue mit der Palisade ungeniert vor sich hin spritzender Fontänen im Vordergrund und fragt: »Verkraftet Amerika noch einen Politiker im Weißen Haus, dem wir nicht trauen?«, wobei sich niemand an grammatischen Bezugsproblemen stößt, aber Frank C. sagt, die Aufnahme vom Weißen Haus sei jetzt aber wirklich ein Schlag unter die Gürtellinie, und wenn McCain in South Carolina verliert, kann das durchaus an diesem Spot liegen; und siehe da, am Mittwochabend zeigen Fokusgruppenumfragen, dass die Wähler in South Carolina McCains neuen Spot negativ und deprimierend finden, Umfragen, die der Strauch sofort aufgreift und breitblökt, und die Strategen von Bush2000 strahlen derweil »als Reaktion« auf McCains »empörende« Gleichsetzung von Bush2 mit W.J. Clinton, die »Bushs Ruf schädigt und ihn tief verletzt hat«, einen neuen Spot aus, der erst einen Ausschnitt des Handschlags in New Hampshire zeigt, dann das Foto eines wütend und bösartig dreinschauenden McCain und beides mit den Worten kommentiert: »John McCain versprach per Handschlag eine saubere Wahlkampagne und griff Gouverneur Bush dann mit irreführenden Spots an«, und um das Maß vollzumachen, folgt dann noch ein Kurzzitat aus den NBC Nightly News vom 4. Februar: »McCain warb Gelder von Organisationen ein, die vor seinem Senatsausschuss erschienen … und setzte im Interesse seiner Spender Behörden unter Druck«, wozu Jim C. (der ja für NBC News arbeitet) anmerkt, der ursprüngliche Beitrag in den NBC Nightly News habe sich nur darum gedreht, dass Bushs Unterstützer McCain diese Dinge vorwarfen, das Kurzzitat sei also auf wirklich schäbige und irreführende Weise aus dem Zusammenhang gerissen worden, aber zu diesem Zeitpunkt – Donnerstag, 10. Feb., 7:45, im Konvoi unterwegs zu den ersten BV des Tages in Spartanburg und Greenville – spielt das schon keine Rolle mehr, weil es zu so vielen zutiefst verletzenden Vorwürfen und Gegenvorwürfen gekommen ist, dass es bloß als eine weitere Retourkutsche wahrgenommen würde, wenn sich McCain über die irreführende Verwendung des NBC-Zitats beklagte, und genau deswegen, meint Jim C., habe man sich bei Bush2000 bestimmt gedacht, sie könnten auch dieses Zitat noch verfälschen und damit ungestraft davonkommen, womit er absolut richtigliegt, denn in den Umfragen in South Carolina gehen sowohl die Unterstützerzahlen als auch die prognostizierten Wahlergebnisse für McCain bei den Vorwahlen in den Keller, und die Techs haben alle Hände voll zu tun, ihren Aufnahmeleitern bei der Suche nach den »Kampfausdrücken« in den Bändern aller Reden zu helfen, denn die Networks wollen nichts anderes, und in Bockmist 1 & 2 sind alle entmutigt und gelangweilt, und selbst der x-beinige Gang der 12A federt nicht mehr so …
… bis es aus heiterem Himmel plötzlich zu dem sehr weit oben erwähnten dramatischen taktischen Höhepunkt kommt, der auf die Medien wie eine Adrenalinspritze wirkt und es abends bei allen fünf Networks in die Nachrichten schafft. Er ereignet sich bei der BV in Spartanburg, die in einem kleinen, steil ansteigenden Hörsaal im Zentrum der Schönen Künste einer kleinen Hochschule abgehalten wird, deren Name bisher allen egal war, und als das Pressekorps von McCain2000 eintrifft, ist es schon so brechend voll, dass sogar die Gänge besetzt sind, und bis auf die Techs und ihre Aufnahmeleiterinnen bleiben alle draußen im Foyer, wo es nur so wimmelt von Studierenden, die ebenfalls keine Sitzplätze mehr abbekommen haben, herumstehen, sich Notizen für etwas namens Sprachwissenschaft 210 machen – McCains Besuch ist offenbar Anlass einer Seminarhausaufgabe – und den Rolling Stone entzücken, weil auch sie den 12A ständig über die Schultern schauen und sehen wollen, was die schreiben. Neben dem Gratisgebäck-und-Anmeldung-für-Freiwilligenarbeit-bei-McCain2000-Tisch steht eine hohe Eichensäule oder ein Pfosten oder so, auf dessen vier Seiten 24-Zoll-Farbbildschirme angebracht worden sind, die die Dauernachrichten von CNN übertragen, deren Kameras auf McCains Gesicht und die riesige Fahne hinter ihm gerichtet bleiben (Wo kriegt man bloß so riesige Fahnen? Was wird nach der Kampagne aus denen? Wo wandern die hin? Wo kann man so große Fahnen überhaupt kaufen? Oder gibt es vielleicht bloß eine einzige, und das Vorauskommando von McCain2000 nimmt die hinterher wieder ab und wetzt damit zur nächsten BV, um sie wieder aufzuhängen, bevor McCain und die Kameras kommen? Haben Gore, der Strauch und die ganzen anderen Kandidaten jeder eine eigene Riesenfahne?), und wenn man sich vorsichtig einen Weg bahnt, kommt man rasch um die Säule herum und sieht, wie McCain seine 22,5 in alle vier Himmelsrichtungen gleichzeitig zum Besten gibt. Die Stirnwand des Foyers ist aus Glas, und auf dem Kieshof gleich dahinter wird ein atemberaubender Handywalzer mit zwanzig Beteiligten um zwei Ü-Wagen örtlicher Nachrichtensender herum getanzt, die im Leerlauf vor sich hin dieseln und ihre 15-m-Mikrowellenantennen ausgefahren haben, außerdem liefern vier gut gekleidete Männer aus der Gegend mit Handmikrofonen ihre Aufsager ab, alle vier mit ihren Techs verkabelt. Verglichen mit Schieffer, Bloom und den Networktalenten im KT-Express wirken die Männer aus der Gegend regelrecht außerirdisch knallig: Ihr Make-up macht ihre Haut orange und ihre Lippen violett, und ihre Frisuren sind so gegelt, dass sich die Umgebung der Köpfe in ihnen spiegelt. Die Sendeschüsseln der regionalen Ü-Wagen, die wie riesige Blumen auf ihren Teleskopstangen erblühen, sind allesamt nach Süden ausgerichtet, und ihre Stempel zeigen Richtung Mikrowellenrelais Nr. 434B für die Region Südosten in der Nähe von Greenville.
Ehrlich gesagt, wären wahrscheinlich alle nationalen Stifte hier draußen im Foyer, selbst wenn der Hörsaal nicht voll wäre, denn nach ein paar Tagen sind die 22,5, mit denen McCain jede einzelne BV eröffnet, so stumpfsinnig und gleich, dass es einen schier an die Pulsadern treibt. Journalisten, die McCains Kampagne schon seit Weihnachten abdecken, berichten, Murphy und andere hätten ihn bearbeitet, mehr »Botschaftsdisziplin« zu wahren, was im Politikjargon bedeutet, möglichst alles auf kurze, einprägsame Slogans einzudampfen und diese den Leuten immer wieder um die Ohren zu hauen. Das hat dazu geführt, dass die Stifte in McCains Pressekorps jedes einzelne botschaftsdisziplinierte Fitzelchen der 22,5 – von McCains Einstiegswitz, in der Schule seiner Kinder werde er immer für deren Opa gehalten, über »Man braucht kein Talent, um abgeschossen zu werden«, »das Eiserne Dreieck aus Geld, Interessengruppen und Rechtswesen«, »Clintons untaugliche, auf Schnappschüsse erpichte Außenpolitik« und »Als Präsident werde ich keine innerbetriebliche Ausbildung brauchen« bis hin zu »Ich werde Al Gore schlagen wie eine Trommel« und einem halben Dutzend anderer Sprüche, die sich immer nach einer Mischung aus Kabarett und Motivationsseminar anhören – so oft gehört haben, dass sie es einfach nicht mehr aushalten; und sie müssen bei den BV zwar dabei sein, falls doch mal was Großes oder Negatives passiert, halten sich aber möglichst fern und würden alles tun, um bloß nie wieder die 22,5 mit anhören zu müssen – und natürlich das Lachen und Johlen und die stehenden Ovationen eines BV-Publikums, das das alles zum ersten Mal hört, und deswegen sind die Stifte jetzt alle draußen im Foyer, spechten den Studentinnen hinterher und debattieren, an welche Stummfilmdiva der Lidschatten der lokalen Chefs am ehesten erinnert.
Aus Fairness muss man sagen, dass McCain kein Redner ist und auch nicht so tut, als wäre er einer. Sein eigentliches Metier ist die Konversation, das Geplänkel beim direkten Gespräch. Das liegt daran, dass er über eine schnelle und flexible Intelligenz verfügt, die den meisten anderen Kandidaten fehlt. Menschen, Fragen und Argumente empfindet er außerdem anscheinend als wirklich belebend – was vielleicht auf jahrelange Debatten im Kongress zurückgeht –, und deswegen mag er die Aussprachen bei den Bürgerversammlungen so und den ständigen Gedankenaustausch mit der Presse in seinem Salon auf Rädern. Wenn sich die Medien also über seine Zugänglichkeit wundern, die sie von alters her mit Verwundbarkeit gleichsetzen, merken sie offenbar nicht, dass sie ihm in Wirklichkeit auf den Leim gehen, wenn sie sich mit ihm unterhalten, statt sich seine Reden anzuhören. Im Gespräch ist er gewitzt, lebendig und menschlich und scheint wirklich zuzuhören und direkt auf einen einzugehen und nicht nur auf die demografische Abstraktion, der man zufällig entspricht. Seine Reden und die 22,5 dagegen sind vorgefertigt und gekünstelt, manchmal auch unheimlich und rechtslastig, und wenn man ihnen genau zuhört, dann hat man manchmal das Gefühl, ein warmer wohltuender Nebel lichte sich, und man möchte lieber nicht, dass dieser Mann den Chef der Umweltschutzbehörde ernennt oder die mindestens zwei neuen Richter, die in der nächsten Legislaturperiode in den Supreme Court berufen werden müssen, und man fängt wieder an, sich zu fragen, was diesen John McCain bloß so attraktiv macht.
Die Bedenken zerstreuen sich dann aber wieder, wenn McCain bei den BV anfängt, Fragen zu beantworten, was in Spartanburg inzwischen der Fall ist. Dieser Teil des Abends fängt grundsätzlich damit an, dass McCain sein Publikum zu »Fragen, Kommentaren und der einen oder anderen Beleidigung eines zufällig anwesenden Marine« einlädt (was mit der Wiederholung ebenfalls rasant an Witz verliert [Angehörige der Navy und der Marines sind sich anscheinend nicht grün]). Die Fragen decken immer das ganze Spektrum der Vox populi ab, von talmudbärtigen Männern, die sich nach Tschetschenien und Reformen des Schadensersatzrechts erkundigen, über Highschoolkinder, die mit zitternden Händen Fragen von ausgedruckten Blättern ablesen, Moms, die sich um die spätere Altersversorgung ihrer Kinder sorgen, bis hin zu tattrigen Veteranen der American Legion, die McCain als »Lieutenant« anreden und wollen, dass er ihren Salut erwidert. Die obligatorischen schielenden Fundamentalisten wollen ihn darauf festnageln, dass Jesus Homosexualität ein Gräuel genannt habe (worauf McCain, was man ihm hoch anrechnen muss, entgegnet, sie hätten sich da wohl im Testament geirrt). Außerdem gibt es abseitige Fragen nach der Reglementierung von Indexfonds, der Privatisierung der Post, Horrorgeschichten über die Health Maintenance Organization, Internetpornografie, Prozesse gegen die Tabakindustrie und Leute, die glauben, der Zweite Verfassungszusatz gebe ihnen das Recht auf eigene Granatwerfer. Es handelt sich um ungesiebte Zufallsfragen, der Kandidat nimmt sie alle entgegen, und nie ist er besser oder menschlicher als in diesen Wortwechseln, und selbst wenn der Fragesteller wütend oder behämmert ist, sagt McCain nur: »Ich bin – bei allem Respekt – anderer Meinung«, oder: »Da haben wir wohl eine Meinungsverschiedenheit«, und dann setzt er ihm in glasklarem Englisch und mit einer Liebenswürdigkeit, die nie herablassend wird, seine Einwände auseinander. Für einen temperamentvollen Mann, der im Ruf steht, die Narren ungern zu ertragen, geht McCain mit den Leuten bei BV unglaublich geduldig und fair um, zumal wenn man bedenkt, dass er 63 ist, an Schlafmangel und chronischen Schmerzen leidet und sich ständig davor hüten muss, in einen Fettnapf zu treten oder sich in die Nesseln zu setzen. Das tut er nicht. Egal wie abgestanden und botschaftsdiszipliniert die 22,5 am Anfang sind, in den Frage-Antwort-Runden der BV überwältigt einen das Gefühl, dass man es mit einem anständigen, ehrenwerten Mann zu tun hat, der Menschen, die er wirklich wahrnimmt, die Wahrheit sagen will. Und man steht mit diesem Eindruck nicht allein.
Das vorherrschende Gefühl unter den Techs und nicht affenartigen Stiften ist, dass McCains menschliche Sternstunde der bisherigen Kampagne in der Bürgerversammlung in Warren, Michigan, am Montag stattgefunden hat. Da war bei der Frage-Antwort-Runde ein Mann in den besten Jahren aufgestanden, Sportjacke & Baskenmütze, ein unauffälliger Mann, der sich aber als wahnsinnig herausstellte – und zwar buchstäblich; klinisch schizophren gemäß der Terminologie im Diagnosekatalog für psychische Erkrankungen. Der Mann war ans Mikro getreten und hatte gesagt, die Regierung von Michigan habe eine Maschine zur Gedankenkontrolle und beeinflusse Gehirnwellen, und gegen diese Beeinflussung der Gehirnwellen helfe nicht einmal, sich rollenweise Aluminiumfolie um den Kopf zu wickeln und nur winzige, nadelgroße Guck- und Atemlöcher hineinzustechen, und er sagte, er wolle wissen, ob McCain als Präsident die Gedankenkontrollmaschine von Michigan nutzen werde, um die Mörder aufzuspüren, ob er den Kongress begnadigen und persönliche Wiedergutmachung für sechzig lange Jahre staatlicher Gedankenkontrolle leisten werde, und ob er das schriftlich bekommen könne. Die Frage ist nicht komisch; im Saal herrscht peinliche Stille. Stellen Sie sich vor, wie leicht ein Kandidat an dieser Stelle hätte erbleichen oder ins Stottern kommen können oder wie er den Mann von Hilfskräften mit stahlharten Augen hätte an die Luft befördern lassen können oder wie er sich (am allerschlimmsten) über den Typ hätte lustig machen können, um das Erschrecken und die peinliche Berührtheit im Saal zu entschärfen und beim Publikum durch Humor zu punkten, wobei die jüngeren Stifte angesichts von so viel zynischem Abscheu wohl einfach in Ohnmacht gefallen wären, denn der arme Mann steht da immer noch am Mikro, sieht zu McCain hoch und wartet auf Antwort. Und unglaublicherweise sieht McCain das – die Menschlichkeit des Manns und das Gewicht, das diese Probleme für ihn haben –, und er sagt, ja, er verspreche ihm, sich damit auseinanderzusetzen, und ja, dieses Versprechen gebe er ihm schriftlich, obwohl er der Ansicht sei, dass »wir bei dieser Gedankenkontrollmaschine eine Meinungsverschiedenheit haben«. Unterm Strich entschärft er den Wahnsinnigen und behandelt ihn voller Respekt, ohne auf ihn hinabzusehen oder sich selbst als schizophren zu gerieren, und das alles macht er schnell, anmutig und grundanständig; wenn das aufgesetzt ist, dann ist McCain die Inkarnation des Satans. Und als sie ihre Geräte nach dem Post-BV-Presse-Briefing und Gewimmel in der scheußlichen Ludenkutsche später wieder abrüsten, sagen die Techs, dass er das (also der Teufel) nicht ist, und sie wären bis zum letzten Mann bewegt gewesen von der nicht simulierbaren Menschlichkeit des Austauschs. Gleichzeitig sind sie beeindruckt von der Professionalität, mit der McCain den Mann entwaffnet hat, und Jim C. mahnt den Rolling Stone, nicht so zynisch und aus der Lamäng die Möglichkeit von der Hand zu weisen, dass es eine Koexistenz von beidem geben kann – menschliche Aufrichtigkeit und politische Professionalität –, denn genau das ist das große Yin-und-Yang-Paradox der McCain2000-Kampagne und damit viel interessanter als die robotisierten unmenschlichen Vollprofikampagnen, die er sonst so begleitet habe, und Jim sagt, deswegen mache ihm die Plackerei diesmal fast nichts aus.
Vielleicht gibt es wirklich eine Koexistenz – von Menschlichkeit und Politik, von Gerissenheit und Anstand. Aber es wird kompliziert. Als sich die meisten Stifte im Foyer bei der Frage-Antwort-Runde in Spartanburg nach zwei Fragen zu China und einer zur Besteuerung von E-Commerce auf der anderen Seite der Glasscheibe noch über die lokalen Chefs mokieren, erhält eine demografisch total durchschnittliche Fußballmutti das Wort, etwas über dreißig, typische Mittelklasse, in rostfarbener Hose und mit diesen runden, zu großen Brillengläsern, die alle total durchschnittlichen Fußballmuttis über dreißig tragen, sie steht auf, und jemand reicht ihr das Mikro. Sie stellt sich als Donna Duren vor, direkt hier aus Spartanburg, South Carolina, und sie habe einen vierzehnjährigen Sohn namens Chris, dem Mr und Mrs Duren Familienwerte, Respekt vor Autoritäten und einen unzynischen Idealismus in Bezug auf Amerika und seine verfassungskonform gewählten Vertreter einzuimpfen versucht haben. Sie wollen, dass er Helden findet, an die er glauben kann, sagt sie. Donna Duren braucht eine Weile für ihre Geschichte, aber niemand langweilt sich, und selbst vor den Bildschirmen am Pfosten hier draußen spürt man, wie die Spannung im BV-Saal steigt, und die landesweiten Stifte schieben sich von den Foyerscheiben wieder zu den Bildschirmen und drängeln Leute beiseite (was sie echt gut können), um besser sehen zu können. Mrs Duren sagt, Chris – eindeutig ein sensibler Junge – sei von dem Lewinsky-Skandal und den nicht jugendfreien Enthüllungen »sehr, sehr erschüttert« gewesen und auch von dem haarsträubenden Verhalten von Clinton, Starr, Tripp und so ziemlich allen anderen am Amtsenthebungsverfahren Beteiligten, und Chris habe viele verstörende und unangenehme Fragen gestellt, die Mr und Mrs D. kaum hätten beantworten können, und alles in allem sei es eine wirklich schwere Zeit gewesen, und sie sei froh, dass sie sie hinter sich hätten. Und letztes Jahr dann, so ziemlich in der Talsohle in Sachen Idealismus und Respekt vor gewählten Autoritäten, sagt sie, habe Chris John McCain und McCain2000.com entdeckt, habe sich für die Kampagne interessiert, und anscheinend lasen die Eltern ihm auch jugendfreie Passagen aus McCains Faith of My Fathers vor, und das Ende vom Lied ist, dass der junge Chris endlich einen Helden fand, an den er glauben konnte: John S. McCain III. Man kann nur mutmaßen, was sich während dieser Geschichte auf McCains Gesicht abspielt, denn die Bildschirme werden von CNN gespeist, und Randy van R. von CNN richtet sein Objektiv ununterbrochen auf Donna Duren, die einen so ikonischen Prototyp abgibt und so nachhaltig die ganz spezielle stille Würde einer durchschnittlichen Amerikanerin ausstrahlt, die weiß, dass sie durchschnittlich ist, und mit sich und ihrer Familie nur ein anständiges, unzynisches Leben führen möchte, dass sie Ausdrücke wie »Familienwerte« und »Held« in den Mund nehmen kann, ohne dass man die Augen verdreht. Aber gestern Abend, sagt Mrs D., hätten sie gerade alle zusammen im Wohnzimmer mustergültig gewaltfreies Fernsehen gesehen, als oben plötzlich das Telefon klingelte, und Chris sei hochgegangen und habe abgenommen. Kurz darauf, sagt Mrs D., sei er ins Wohnzimmer zurückgekommen, habe geweint, sei richtig erschüttert gewesen und habe gesagt, da sei ein Mann am Telefon gewesen, der von der 2000er-Kampagne angefangen und Chris gefragt habe, ob er wisse, dass John McCain ein Lügner und Schwindler sei, und dass jemand, der John McCain wähle, entweder blöd, kein Amerikaner oder beides sei. Der Anrufer sei ein Interviewer für Bush2000 gewesen, sagt Mrs Duren, die Knöchel der Hand am Mikro kalkweiß, die Stimme fast versagend, aufgelöst auf total durchschnittliche und bewegende elterliche Weise, und sie sagt, sie will bloß, dass Senator McCain das weiß, dass er weiß, was Chris passiert ist, und dann möchte sie noch wissen, ob man nichts dagegen tun kann, dass solche Leute unschuldige Jugendliche anrufen und sie in Desillusionierung und Unsicherheit stürzen, ob sie wirklich blöd sind, bloß weil sie Helden suchen, an die sie glauben können.
Und in diesem Augenblick (um 8:53) geschieht zweierlei hier draußen im Foyer des Zentrums der Schönen Künste. Erstens bilden die landesweiten Stifte einen Kreis und geben Nummern in ihre Handys ein und die Aufnahmeleiterinnen der Networks stürmen durch die Saaltüren, ziehen mit den Zähnen ihre Handyantennen raus, und alle suchen freie Stellen für den Walzer, während sie den Networks und Chefredaktionen den Kern dieser fesselnden negativitätsbezogenen Entwicklungen durchgeben und zu ihren Gegenstücken im Pressekorps Bush2000 durchzukommen versuchen, um zu hören, ob es vom Strauch schon eine Reaktion auf Mrs Durens Erzählung gibt, und am Ende dieser Erzählung geschieht dann das Zweite, Randy van R. (CNN) schwenkt nämlich endlich auf McCain, und man sieht, dass dessen Gesicht gequält und blass ist, und er sieht noch erschütterter aus als Mrs Duren eben. Und McCain starrt nur ein paar Sekunden zu Boden, und dann … bittet er um Entschuldigung. Er drischt nicht auf Bush2 oder die Push-Umfragen ein und macht auch nicht den Eindruck, als wolle er aus der Sache politisches Kapital schlagen. In seiner Miene mischen sich Traurigkeit, Anteilnahme und Bedauern, und er sagt, er sei überhaupt nur in diesen Wahlkampf eingestiegen, um junge Amerikaner zu inspirieren, sich besser zu fühlen, wenn sie sich für etwas engagieren, und eine Geschichte wie die von Mrs Duren, die heute eigens zu dieser BV gekommen sei, um sie ihm zu erzählen, sei so ungefähr das Schlimmste, was er hätte hören können, und wenn Mrs D. nichts dagegen habe, würde er ihren Sohn gern anrufen – er fragt noch mal nach seinem Namen, und Randy van R. schwenkt glatt zu Donna Duren, die »Chris« sagt, und schwenkt dann wieder zu McCain zurück –, er würde Chris gern anrufen und am Telefon gern persönlich um Entschuldigung bitten und ihm sagen, dass es da draußen bedauerlicherweise schlechte Menschen gebe und dass es ihm leidtue, dass Chris solche Sachen habe hören müssen, aber es sei trotzdem niemals falsch, an etwas zu glauben, die Politik sei trotzdem ein Prozess, der das Engagement lohne, und dabei wirkt er wirklich erschüttert, McCain, und fast schon als Nachsatz sagt er noch, Donna Duren und andere betroffene Eltern und Bürger sollten vielleicht bei der Bush2000-Kampagne anrufen und sie bitten, mit Push-Umfragen aufzuhören, Gouverneur Bush sei ein guter Mann, der selber eine Familie habe, und es sei kaum vorstellbar, dass er eine solche Aktion seiner Kampagne gebilligt hätte, falls er überhaupt davon erfahren hatte, und er (McCain) werde Gouverneur Bush zum x-ten Mal anrufen und ihn bitten, diese Negativität zu stoppen, und jetzt sehen McCains Augen doch tatsächlich feucht aus, also tränig, was vielleicht nur auf die Scheinwerfer zurückgeht, aber doch verstörend ist, die ganze Angelegenheit ist verstörend, denn McCain wirkt auf eine Weise aufgewühlt, die ein bisschen zu … die fast schon dramatisch ist. Er nimmt noch ein paar BV-Fragen entgegen, bricht dann plötzlich ab und sagt, es tue ihm leid, aber dieser Chris-Duren-Zwischenfall gehe ihm so nach, dass er sich kaum konzentrieren könne, und er entschuldigt sich bei der BV, dankt der Menge im Saal, vergisst seine Botschaftsdisziplin und endet nicht mit seinem Immer. Die Wahrheit sagen. Trotzdem bekommt er tosenden Applaus, und die Bildschirme der viergesichtigen Säule zeigen nichts mehr, denn Randy, Jim C. u.a. schultern ihre Kameras und werfen sich ins Gewimmel, als McCain sich anschickt, den Saal zu verlassen.
Das alles ist jetzt gar nicht so einfach, schon gar nicht McCains fast übertrieben wirkende Betrübnis im Hinblick auf Chris Duren, die wirklich fast too much war; und dem alten Journalismushasen wirbeln haufenweise verstörende und womöglich zynisch vernetzte Gedanken und Fragen durch den Kopf. Die Tatsache beispielsweise, dass Donna Durens Geschichte die Wahlkampftaktik des Strauchs weit verheerender anprangerte als alles, was McCain je sagen könnte; ist es möglich, dass das McCain nicht schon auf der Bühne des Hörsaals aufgegangen ist? Ist es möglich, dass er die Aufnahmeleiterinnen mit ihren Handys und die Kameraleute mit ihren geschulterten Apparaturen nicht gesehen hat, die sich ihre Wege durch die Zuhörer in den Gängen bahnten, und nicht sofort wusste, dass Mrs Durens Geschichte und seine Reaktion darauf von allen Networks ausgestrahlt werden und Bush2000 dumm dastehen lassen? Ist es möglich, dass ein Teil von McCain durchaus merkt, dass das, was Chris Duren da widerfahren ist, ihm politische Pluspunkte verschafft, und dass er trotzdem ein grundanständiger, nicht berechnender Mann ist, den einfach nur Schreck und Bedauern überfallen, weil ein Jugendlicher so desillusioniert worden ist? War es rein menschliche Anteilnahme, die ihn dazu gebracht hatte, sich zu entschuldigen, statt den Strauch zu kritisieren, oder ist McCain so gerissen, dass er sofort wusste, dass Mrs Durens Geschichte Bush schon außer Gefecht gesetzt hatte und dass es seine (McCains) menschliche Anständigkeit gegenüber Bushs gewissenloser Negativität nur betonte, wenn er sich entschuldigte und erschüttert dreinschaute? Ist es möglich, dass er wirklich Tränen in den Augen hatte? Ist es (huärg) möglich, dass er sich bewusst zum Weinen brachte, weil er wusste, wie anständig, teilnahmsvoll und nicht negativ er dann dastehen würde? Und was das angeht: Hey, warum sollte ein Interviewer überhaupt ein Interesse daran haben, jemanden zu manipulieren, der noch gar nicht wählen darf? Hat Chris Duren am Telefon vielleicht eine erwachsen klingende tiefe Stimme? Aber sollte man nicht meinen, dass sich ein Interviewer nach dem Alter des Gesprächspartners erkundigt, bevor er seine Nummer abzieht? Und wie kam es, dass niemand, nicht mal die abgebrühten 12A draußen im Foyer, diese Frage gestellt hatte? Wo waren die denn mit ihren Gedanken?
Bockmist 1 ist leer bis auf Jay, der irgendwo hinten im HPP eine PG nutzt, und durch die Backbordfenster sieht man die ganzen Techs, Chefs und Talente in einem Megagewimmel um Mrs Donna Duren im Kieshof, und zusätzlich stellt sich die zynische Vorstellung ein, dass ein unternehmungslustiges Networkteam jetzt garantiert gerade an der Junior Highschool des armen Chris Duren vorfährt (abends stellt sich vor dem Fernseher leider heraus, dass prompt genau das passiert war). Der Bus pöttert lange im Leerlauf vor sich hin – die Gewimmel und Aufsager nach der Veranstaltung dauern länger als die gesamte BV –, und als die Stammpassagiere von BS1 endlich eintrudeln, haben sie alle Hände voll zu tun, müssen tippen, telefonieren und einreichen, und die Techs haben ihre SX und DVS Digital Editors aufgebaut (der CBS-Mann balanciert seine Kamera auf der Trittleiter im Gang, weil alle Tische und der HPP besetzt sind) und helfen ihren Aufnahmeleitern, den Ausschnitt mit Mrs Durens Geschichte und McCains Reaktion darauf zu finden und zu timen, damit die Senderzentralen sofort damit beschickt werden können, und die Zwölf Affen haben in geschlossener Formation den Klartextexpress geentert, der vor uns auf dem I-85 fährt und unter all dem Gewicht in McCains rückwärtigem Salon hecklastig ist. Dem Rolling Stone steht leider keiner der sonstigen Medienprofis zur Verfügung, mit dem er sich über den Fall Chris Duren austauschen und der ihm vielleicht helfen könnte, auf die Reihe zu kriegen, wo man jetzt zynisch werden darf und wo nicht, und welche der vielen von dem Vorfall aufgeworfenenen verstörenden Fragen paranoid oder irrelevant sind und welche dagegen menschlich und/oder journalistisch verwertbar … die Frage beispielsweise, ob McCain im Ernst Chris Duren anrufen wollte. Wie sollte er auch nur an die Nummer der Durens herangekommen sein, wenn Mrs Duren die ganze Zeit fest umwimmelt war, als sein Stab und er aufbrachen? Will er die vielleicht einfach im Telefonbuch nachschlagen? Und wo waren Mike Murphy und John Weaver eigentlich die ganze Zeit, die normalerweise bei jeder BV in den Kulissen am Handywalzer teilnehmen, heute aber spurlos verschwunden waren? Und sitzt Murphy jetzt vielleicht gerade im Pressesalon vom Express in seinem roten Sessel neben McCain, beugt sich zu seinem Kandidaten, flüstert ihm leise und ruhig ins Ohr, welche politischen Vorteile dieser jüngste Vorfall für ihn hat, und empfiehlt diverse geschmackvolle, aber effiziente Mittel, daraus Kapital zu schlagen und aus dem engen taktischen Kasten herauszukommen, in dem sie stecken, seit Bush2 negativ geworden ist? Falls Murphy das macht, wie sieht dann wohl McCains Reaktion aus – hört er zu, ist er noch zu erschüttert, um zuzuhören, oder ist er irgendwie beides? Hat McCain – bewusst oder unbewusst – bei seiner Reaktion auf Mrs Durens Geschichte womöglich chargiert und seine Betrübnis übertrieben, um einen plausiblen und gut aussehenden Ausweg aus der Negativitätsspirale zu finden, die ihm in den Meinungsumfragen dermaßen geschadet hat, dass Jim und Frank schon unken, er könne South Carolina verlieren, wenn das so weitergeht? Ist es schon zynisch, sich das zu fragen?
Am Tag darauf gibt John S. McCain III beim ersten Presse-Briefing vor dem gesamten zusammengewimmelten Korps eine plausible, gut aussehende und sehr emotionale Erklärung ab. Es ist ein schöner warmer 11.-Februar-Morgen vor dem Embassy Suites (vielleicht auch einem Hampton Inn) in Charleston, direkt nach dem Kofferappell. McCain setzt die Presse darüber in Kenntnis, der Fall des jungen Chris Duren habe ihn so bekümmert, dass er nachts noch lange in sich gegangen sei und seinen Stab dann instruiert habe, jede Negativität zu unterlassen und die neuen Fernsehspots von McCain2000 in South Carolina zurückzuziehen, egal ob der Strauch seine negativen Spots zurückziehe oder nicht.
Gerahmt vom erschütternden Kontext des Falls Chris Duren, ist McCains Entscheidung jetzt absolut kein Kuschen und keine Appeasement-Politik mehr, sondern lässt ihn als grundanständigen und ehrenwerten Mann auf dem rechten Weg dastehen, der dagegen ist, dass man der Jugend in ihren politischen Idealismus reinpfuscht, und sich nie damit abfinden wird. Es ist eine bewegende Erklärung mit großen Auswirkungen, ein meisterhaftes Briefing, und alle im Gewimmel sind beeindruckt, einige sogar persönlich ergriffen, und niemand (Rolling Stone inklusive) wagt die Bemerkung, dass der Anruf für die Durens zwar ein Unglücksfall war, für John S. McCain und McCain2000 hinsichtlich der taktischen Schlachten dieser Woche aber ein jesusmäßiger Glücksfall, dass die ganze Sache für McCain2000 auch dann nicht besser hätte laufen können, wenn sie … wenn es dafür ein Drehbuch gegeben hätte, wenn also beispielsweise Mrs Donna Duren eine ausgebildete Schauspielerin oder eine begabte Anhängerin gewesen wäre, die heimlich angesprochen, eingewiesen, bezahlt und in die Menge von über 300 ungesiebten Fragestellern eingeschmuggelt worden wäre, wo ihre erhobene Hand im Meer der durchschnittlichen Wählerhände auserkoren worden wäre und sie die Gelegenheit bekommen hätte, ihre Schmonzette auszubreiten, die es am Vorabend in alle fünf Networks geschafft, Bush2 nachhaltig geschadet und McCain aus dem taktischen Kasten dieser Woche befreit hatte. Egal wie man es betrachtet (und es lässt sich eine hübsche lange FZ darüber nachdenken), der Vorfall und die BV von gestern waren ein fast unglaublicher politischer Glücksfall für McCain … oder aber der Fall von etwas ganz anderem, das niemand – keine Zwölf Affen, nicht Alison Mitchell oder die so herrlich zynische Lady vom australischen Globe und auch kein absolut scharfsichtiger und unsentimentaler Jim C. – je andeutet oder laut erwähnt, was auch verständlich ist, denn auch nur über die Denkmöglichkeit von so etwas zu spekulieren, wäre so schmerzhaft, dass man unmöglich weitermachen könnte, und das ist die Hauptaufgabe der Presse, des Stabs, der Klartextkarawane und McCains selber, Tag für Tag für Tag – weitermachen.
Noch ein Paradox: Es ist so gut wie unmöglich, über die wirklich wichtigen Dinge in der Politik zu sprechen, ohne Ausdrücke zu verwenden, die zu so grässlichen Klischees geronnen sind, dass wir glasige Augen kriegen und sie kaum noch richtig hören. Ein solcher Begriff ist »Führen«, den alle großen Kandidaten ständig anbringen – »Führungsrolle übernehmen«, »eine echte Führungsperson«, »neue Führungsqualitäten für ein neues Jahrhundert« usw. – und zu einer solchen Banalität haben verkommen lassen, dass man sich kaum klarmachen kann, was »Führen« eigentlich bedeutet und ob heutige Jungwähler wirklich geführt werden wollen. Seltsam ist, dass das Wort »Führen« selbst ein langweiliges Klischee ist, aber wenn Sie dann jemandem über den Weg laufen, der tatsächlich eine Führungspersönlichkeit ist, dann ist dieser Mensch keine Spur langweilig; er ist sogar das Gegenteil von langweilig.
Eine echte Führungsperson ist natürlich nicht einfach jemand, dessen Vorstellungen Sie teilen, und er ist auch niemand, den Sie rein zufällig für einen guten Kerl halten. Eine echte Führungspersönlichkeit ist jemand, der die Menschen dank seiner besonderen Macht, seines Charismas und Vorbildcharakters inspirieren kann, und »inspirieren« ist hier emphatisch und nicht als Klischee gemeint. Eine echte Führungspersönlichkeit kann uns irgendwie dazu bringen, gewisse Dinge zu tun, die wir tief in unserem Inneren für gut halten und gern tun würden, die wir in der Regel aber allein nicht zustande bringen. Es ist eine geheimnisvolle und schwer auf den Begriff zu bringende Eigenschaft, aber schon als Kinder spüren wir instinktiv, wenn wir ihr begegnen. Sie können sich wahrscheinlich erinnern, diese Eigenschaft bei bestimmten großartigen Trainern oder Lehrern gesehen zu haben oder auch bei echt coolen älteren Mitschülern, zu denen Sie »aufgesehen haben« (übrigens eine interessante Wendung) und denen Sie ähnlich sein wollten. Manche von uns werden sich daran erinnern, diese Eigenschaft als Kind bei einem Pastor oder Rabbiner gesehen zu haben, bei einem Gruppenleiter der Boy Scouts, bei den eigenen Eltern oder denen von Freunden, bei einem Boss in irgendwelchen Ferienjobs. Und ja, das alles sind »Autoritätspersonen«, aber es handelt sich um eine spezifische Autorität. Wenn Sie beim Militär waren, wissen Sie, wie unglaublich schnell man merkt, welche Vorgesetzten echte Führungspersönlichkeiten sind und welche nicht und dass der Rang absolut nichts damit zu tun hat. Die wahre Autorität einer Führungsperson ist eine Macht, die man ihr freiwillig überträgt, und man überlässt sie ihr nicht resigniert oder widerwillig, sondern glücklich; es fühlt sich richtig an. Im tiefsten Inneren mag man fast immer das Gefühl, das man einer wahren Führungsperson entgegenbringt, man stellt fest, dass man härter arbeitet und sich selbst anspornt und auf eine Art und Weise zu denken beginnt, die einem völlig unmöglich wäre – wäre da nicht dieser Mensch, den man respektiert, an den man glaubt und dem man gefallen möchte.
Anders gesagt, eine echte Führungspersönlichkeit ist jemand, der uns dabei hilft, über die Grenzen unserer Faulheit und Selbstsucht hinauszuwachsen, Schwäche und Angst zu überwinden, der uns dazu bringt, Besseres und Schwereres zu schaffen, als wir aus eigenem Antrieb fertigbrächten. Nach allem, was wir wissen, war Lincoln eine Führungspersönlichkeit, ebenso Churchill, Gandhi und Martin Luther King. Teddy und Franklin Roosevelt, de Gaulle wahrscheinlich, Marshall natürlich und vielleicht auch Eisenhower. (Hitler war natürlich auch ein richtiger Führer, ein äußerst mächtiger sogar, also muss man sich vorsehen; manchmal braucht es nur eine schräge persönliche Macht.)
Der letzte amerikanische Präsident, der echte Führungsqualitäten hatte, dürfte vor vierzig Jahren JFK gewesen sein. Kennedy war kein besserer Mensch als seine sieben Amtsnachfolger: Wir wissen, dass er über seine Vorgeschichte im Zweiten Weltkrieg log, gruselige Verbindungen zur Mafia hatte und im Weißen Haus mehr herumvögelte, als der arme alte Clinton sich je hätte träumen lassen. Aber JFK hatte das eigentümliche Charisma einer Führungspersönlichkeit, und wenn er Sachen sagte wie »Frag nicht, was dein Land für dich tun kann; frag, was du für dein Land tun kannst«, dann verdrehte niemand die Augen oder hielt das für Sprücheklopferei. Im Gegenteil, viele Menschen fühlten sich inspiriert. Und das anschließende Jahrzehnt mag in anderer Hinsicht verkorkst gewesen sein, aber Millionen von Jungwählern engagierten sich für soziale und politische Anliegen, die nichts damit zu tun hatten, einen Klempnerjob zu ergattern, sich teure Sachen kaufen zu können oder die besten Partys mitzunehmen; und nach dem, was man so hört, waren die Sechzigerjahre insgesamt eine sauberere und glücklichere Zeit als unsere Gegenwart.
Es lohnt sich, den Gründen dafür nachzugehen. Es lohnt sich, mal ernsthaft darüber nachzudenken: Wenn John McCain sagt, er wolle Präsident werden, um eine Generation junger Amerikaner zu inspirieren, sich für größere Anliegen als ihren Eigennutz zu engagieren (was bedeutet, er will eine echte Führungspersönlichkeit werden), dann gähnen viele der angesprochenen jungen Amerikaner, verdrehen die Augen oder reißen clevere ironische Witze, statt sich wie von Kennedy inspiriert zu fühlen. Klar, JFKs Publikum war in mancher Hinsicht unschuldiger als wir: Vietnam lag noch ebenso in der Zukunft wie Watergate oder die Savings-and-Loan-Krise usw. Aber es ist mehr als das. Die Wissenschaft von Verkauf und Marketing steckte 1961 noch in ihren niedlichen Kinderschuhen, als Kennedy das mit dem »Frag nicht …« sagte. Die jungen Leute, die er inspirierte, waren nicht schon ein Leben lang geschickten Marketingstrategen ausgesetzt gewesen. Sie wussten noch nichts von Imageberatung. Verkäufer waren ihnen noch nicht so total und grauenhaft vertraut.
Sie müssen jetzt genau aufpassen, denn es geht um etwas, das zunächst auf der Hand zu liegen scheint. Es gibt einen Unterschied zwischen einer großen Führungsperson und einem großen Verkäufer. Es gibt natürlich auch Gemeinsamkeiten. Ein großer Verkäufer ist gemeinhin charismatisch und sympathisch, und oft kann er uns dazu bringen, Dinge zu tun (Dinge zu kaufen, Dingen zuzustimmen), für die wir uns ohne ihn nicht entscheiden würden, und uns dabei auch noch gut zu fühlen. Außerdem sind viele Verkäufer grundanständige Leute, an denen man vieles bewundern kann. Auch ein wahrhaftig großer Verkäufer ist aber noch keine Führungspersönlichkeit. Weil das ultimative, vorrangige Motiv des Verkäufers Eigennutz ist – wenn man kauft, was er verkauft, profitiert der Verkäufer. Er kann also eine noch so mächtige, charismatische, bewundernswerte Persönlichkeit haben, er kann Sie noch so sehr davon überzeugen, dass der Kauf in Ihrem Interesse ist (was vielleicht sogar stimmt) – instinktiv wird Ihnen immer klar sein, dass er letztendlich nur auf den eigenen Nutzen bedacht ist. Und diese Klarheit schmerzt … klar, es ist nur ein leichter Schmerz, er ziept nur ein bisschen und wird einem oft gar nicht bewusst. Aber wenn man großen Verkäufern, Verkaufsmaschen und Marketingkonzepten lange genug ausgesetzt ist – sagen wir, ab den Comics in der Wochenendzeitung –, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man zu der (sei’s auch unbewussten) Überzeugung gelangt, dass alles Verkauf und Marketing ist, und wenn jemand einen scheinbar mag oder ein edles Anliegen hat, dann ist das ein Verkäufer, und in letzter Konsequenz ist man dem genauso scheißegal wie das Anliegen, denn in Wahrheit ist er nur auf den eigenen Nutzen bedacht.
Manche Leute finden, Präsident Ronald W. Reagan (1981–89) sei unsere letzte echte Führungspersönlichkeit gewesen. Unter denen sind aber kaum Jungwähler. Auch in den Achtzigerjahren konnten die meisten jüngeren Amerikaner einen Marketingfritzen meilenweit gegen den Wind riechen und wussten ganz genau, dass Reagan in Wahrheit nur ein großer Verkäufer war. Und er verkaufte die Idee seiner selbst als Führungspersönlichkeit. Und wenn Sie, sagen wir mal, unter 35 sind, gilt das für so ziemlich jeden Präsidenten, mit dem Sie aufgewachsen sind: Alle waren begabte Verkäufer, umgeben von klugen und kostspieligen Politikstrategen, Medien- und Imageberatern, die seine »Kampagne« (wie in »Werbekampagne«) leiteten und ihm halfen, uns die Idee zu verkaufen, es sei in unserem Interesse, ihn zu wählen. Die Interessen, die diese Typen wirklich antrieben, waren in letzter Konsequenz aber immer eigennützig. Vor allen Dingen wollten sie Präsident werden, wollten manipulative Macht und Prominenz, wollten Unsterblichkeit für die Nachwelt – das konnte man riechen. (Jungwähler haben in der Regel einen besonders gut ausgebildeten Geruchssinn für so was.) Und deshalb waren diese Typen keine echten Führungspersönlichkeiten: Weil ihre tiefsten, elementarsten Motive als selbstsüchtig durchschaut wurden, konnten sie uns unmöglich inspirieren, unseren eigenen Eigennutz zu transzendieren. Stattdessen verstärkten sie in der Regel unseren vom Markt konditionierten Glauben, dass letztlich jeder auf sich allein gestellt ist, dass es im Leben um Verkaufen und Profit geht und dass Wörter und Wendungen wie »Dienen«, »Gerechtigkeit«, »Gemeinschaft«, »Patriotismus«, »Pflicht«, »die Regierungsgewalt dem Volk zurückgeben«, »Ich teile Ihren Schmerz« und »Mitfühlender Konservativismus« nur bewährte Verkaufsmaschen der Politikbranche sind, so, wie »Anti-Zahnstein« und »Frischerer Atem« die Maschen der Zahnpastabranche sind. Wir mögen uns für sie entscheiden, wie wir Zahnpastamarken auswählen. Aber wir sind nicht inspiriert. Sie sind nicht das Wahre.
Es ist auch keine Angelegenheit des bloßen Lügens oder Nichtlügens. Jeder weiß, dass sich das beste Marketing der Wahrheit bedient – soll heißen, manchmal ist eine bestimmte Zahnpastamarke wirklich besser. Darum geht es nicht. In Sachen Führung geht es um den Unterschied, ob man jemandem glaubt oder ob man an ihn glaubt.
Das ist zugegebenermaßen etwas vereinfacht. Alle Politiker verkaufen etwas, haben das immer getan. FDR, JFK, MLK und Gandhi waren große Verkäufer. Aber sie waren mehr als das. Das konnten die Leute riechen. Dieses komische kleine bisschen mehr. Das hatte mit »Charakter« zu tun (was natürlich auch ein Klischee ist – Zähne zusammenbeißen).
Und das alles erklärt, warum man sich lieber alte Schwarz-Weiß-Filmchen von John F. Kennedys Reden anschaut, denn es ist so verdammt viel komplizierter, John McCain bei Pressekonferenzen, -briefings und Bürgerversammlungen zu erleben (inzwischen ist es Mittwoch, der 9. Februar, und wir verfolgen morgens um 8:20 die Charlestoner BV im scheußlichen Foyer von etwas namens Carolina Ice Palace), bei denen er so auffallend ehrlich, offen, hemdsärmelig, idealistisch und bockmistfrei auftritt und vor jubelnden Menschenmengen Sätze wie »Ich kandidiere nicht zum Präsidenten, weil ich jemand sein, sondern weil ich etwas tun will« oder »Wir führen einen nationalen Kreuzzug, um die Regierungsgewalt dem Volk zurückzugeben« von sich gibt. Im Februar 2000 ist es unmöglich zu unterscheiden, ob John McCain eine wahre Führungspersönlichkeit oder nur ein wahnsinnig begabter Verkäufer ist, ein Unternehmer, der eine Marktlücke ebenso entdeckt hat wie ein Mittel, sie zu schließen.
An diesem Punkt stößt man nämlich auf das nächste Paradox. Der Frühling des Jahres 2000 – der Vormittag von Amerikas Kater nach der ganzen Lewinsky-und-Amtsenthebungsverfahrenskiste – stellt einen Augenblick des so gut wie beispiellosen Zynismus und des Ekels angesichts der nationalen Politik dar, einen Augenblick, in dem unverblümte »Es ist mir scheißegal, ob ihr mich wählt«-Ehrlichkeit eine unglaublich attraktive, absatzfähige und wählbare Eigenschaft wird. Ein Augenblick, in dem ein Antikandidat ein echter Kandidat werden kann. Nur stellt sich dann eben die Frage, ob ein echter Kandidat noch ein Antikandidat sein kann. Wie verkauft man die Weigerung eines Menschen, sich zu verkaufen?
In der McCain2000-Kampagne gibt es viele Aspekte – die Taufe des Busses auf den Namen »Klartextexpress«, die punktgenaue Veröffentlichung von Faith of My Fathers, die aufgebauschte »Offenheit« und »Spontaneität« des Pressesalons im Express, die botschaftsdisziplinierte Weise, in der McCain den Zuhörern sein »Ihnen. Immer. Die Wahrheit sagen.« einbimst –, die darauf hindeuten, dass sehr kluge und gerissene Marketingexperten es vermarkten wollen, dass ein Kandidat kluges und gerissenes Marketing ablehnt. Ist das schlecht? Oder nur verwirrend? Nehmen wir mal an, Sie haben einen Kandidaten, der sagt, Meinungsforschung ist Bockmist, und er weigert sich, seinen Wahlkampf nach den Ergebnissen von Meinungsumfragen maßzuschneidern, und nehmen wir weiter an, neue Meinungsumfragen zeigen dann, dass die Leute auf den »Meinungsumfragen sind Bockmist«-Standpunkt dieses Kandidaten richtig abfahren und ihn deswegen wählen wollen, und nehmen wir an, der Kandidat studiert diese Meinungsumfragen (wer würde das nicht?) und sagt dann noch lauter und häufiger, dass Meinungsumfragen Bockmist sind und dass er das, was er sagt, nicht von ihnen abhängig machen wird, ja vielleicht macht er »Meinungsumfragen sind Bockmist« sogar zu einem Wahlkampfslogan, wiederholt ihn in jeder Rede und malt Meinungsumfragen sind Bockmist auf seinen Wahlkampfbus … ist er dann ein Heuchler? Ist es Heuchelei, dass ein Wahlkampfslogan von McCain in South Carolina »Die Wahrheit sagen, auch wenn sie ihm politisch schadet« lautet, was, da es sich um einen Wahlkampfslogan handelt, darauf hinausläuft, dass McCain aus seiner Gleichgültigkeit gegenüber politischem Nutzen politischen Nutzen ziehen will? Was ist der Unterschied zwischen Heuchelei und Paradox?
Ist Ihnen das jetzt unvereinfacht genug? Eins können wir doch wohl festhalten: Wenn Sie ein stramm konservativer, in Sachen Marketing ausgebuffter Jungwähler sind, dann können wir als sicher voraussetzen, dass Sie John McCains Kampagne gemischte Gefühle entgegenbringen, was absolut modern und amerikanisch ist; in Ihnen tobt ein Krieg zwischen Ihrem Bedürfnis zu glauben und Ihrem Glauben, dass das Bedürfnis zu glauben Bockmist ist, dass es allüberall nur noch um Verkauf und Verkäufer geht. Wenn Ihr Zynismus die Oberhand gewinnt, halten Sie es für möglich, dass auch McCains attraktivste Eigenschaften nur vom Marketing motiviert sind. Seine hochgelobte Gewohnheit beispielsweise, die eigenen Leichen aus dem Keller zu holen – schlechte Noten, vertrackte Scheidung, Anklage als einer der Keating Five –, könnte echte Ehrlichkeit und Offenheit sein, sie könnte aber auch McCains gerissene Methode sein, möglicher Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er sich selbst kritisiert, bevor jemand anders überhaupt dazu kommt. Die Bescheidenheit, mit der er über seinen Heldenmut als Kriegsgefangener spricht – »Man braucht kein Talent, um abgeschossen zu werden«; »Ich war kein Held, aber ich hatte das Glück, meinen Dienst in der Gemeinschaft von Helden abzuleisten« –, könnte echte Demut sein, es könnte aber auch eine clevere Art sein, gleichzeitig als heldenhaft und demütig dazustehen.
Eine solche Entweder-oder-Analyse kann man bei so gut wie allem an diesem Kandidaten durchführen. Selbst die unglaubliche Ausdauer, die er auf der Tour an den Tag legt, könnte eine Funktion von McCains angeborener Energie und der Lust auf Menschen sein, sie könnte aber auch auf brennenden Ehrgeiz zurückgehen, auf eine solche Gier, gewählt zu werden, dass sie ihn über alle vernünftigen menschlichen Grenzen hinaus treibt. Das entscheidende Wort ist hier »vernünftig«: Der Strauch steigt in Luxushotels wie dem Charleston Inn ab, hat immer sein eigenes Kissen dabei und schläft gern bis neun, während McCain in höllischen Kettenhotels schläft, Limo aus der Dose trinkt und sich auf eine Art und Weise bewegt, zu der normale Menschen nur unter Amphetaminen imstande wären. Gestern Abend war die Klartextkarawane erst um 23:40 wieder am Embassy Suites, und angeblich saß McCain danach noch drei Stunden mit Murphy und Weaver zusammen, um mögliche Reaktionen auf die Reaktionen von Bush2 auf den negativen Spot zu planen, den McCain nach dem neuen negativen Spot von Bush2 hat senden lassen, und man kann sich denken, dass das Aufstehen, Rasieren, Duschen und Anziehen eines schicken Anzugs seine Zeit dauert, wenn man die Arme nicht über Schulterhöhe anheben kann, außerdem musste er noch frühstücken, und der KT-Express ist heute Morgen um 7:38 abgefahren, und jetzt, um 8:22, bewegt sich McCain quasi im Laufschritt über das Podium im Foyer eines Carolina Ice Palace, dessen Hässlichkeit so dermaßen jenseits von Gut und Böse ist, dass die Journalisten die Gratiskrapfen ablehnen. (Das Foyer ist mit rotem und blauem Gummi ausgelegt – genau, Gummi –, und sechs Meter eine Wendeltreppe aus grünem Stahl hoch befindet sich ein offenes Zwischengeschoss mit senffarbenen Rohrgeländern, von denen lange violette Banner des Eishockey-Jugendverbands herabhängen, und drinnen hört man die Orgel der Eisbahn und eine Symphonie aus dem Zwitschern und Wummern einer riesigen Videospielhalle am anderen Ende des quietschorangen Saals, und auf beiden Seiten der BV-Bühne sind riesige Bildschirme angebracht, die aus drei mal drei gleich großen Einzelbildschirmen bestehen, und auf dem linken Großbildschirm sieht man neun gleich große Gesichter von McCain reden und auf dem rechten sieht man ein großes, in neun Rechtecke aufgeteiltes Gesicht von McCain reden, und jeder Quadratmeter des kompromisslos hässlichen Foyers ist von fanatischen Anhängern aus South Carolina besetzt, und es ist mindestens 35 Grad heiß, und das Ganze ist ein solcher Angriff auf die Sinne, dass sich alle Medienvertreter bis auf Jim C. und die Techs von der Bühne wegdrehen, mit abgewandten Gesichtern zuhören und mehrheitlich mehr als einen Kaffee auf einmal trinken.) Und auch nach allerhöchstens vier Stunden Schlaf macht McCain da oben auf der Bühne dieselbe Metamorphose durch wie immer, wenn eine Menschenmenge auf ihn reagiert, über seine Witze lacht und Kaffee und Kinder abstellt, um klatschen zu können, wenn er sagt, er werde Al Gore schlagen wie eine Trommel. Live und in Farbe ist McCain nicht so schnittig und prachtvoll telegen wie der Republikaner Mark Sanford oder der Strauch. McCain ist klein, schmächtig und auf irgendwie verdrehte Weise steif. Er wirkt, als wäre er in seinem Anzug geschrumpft. Seine Stimme ist ein dünner Tenor und an sich weder fesselnd noch mitreißend. Wenn er auf der Bühne aber Fragen entgegennimmt und auf und ab tigert wie in einem Käfig, scheint sich sein Körper zu weiten, und seine Stimme entwickelt Resonanz, und anders als der Strauch hat er keine Leibwächter, die Bühne ist nach allen Seiten offen, die Fragen sind ungesiebt, er gibt gute Antworten, bei den besten BV leuchten die Augen der Menschen, und im Gegensatz zu Gores Augen eines toten Vogels oder den süffisanten Blicken des Strauchs liegt in McCains weit offenen und aufrichtigen Augen ein attraktiver inspirierender Glanz, der einer Hingabe an die Sache entspringt, der Sucht eines Demagogen nach der süchtigen Verehrung durch eine Menschenmenge oder der unersättlichen Gier danach, der mächtigste weiße Mann auf Erden zu werden. Oder allem dreien.
Es geht, überspitzt gesagt, um Folgendes: Es besteht eine Spannung zwischen John McCains Anziehungskraft und der Weise, wie diese Anziehungskraft strukturiert und verpackt werden muss, damit er gewählt wird. Damit wir ihn kaufen. Und die Medien – und die sind schließlich der Kasten, in dem McCain uns frei Haus geliefert wird, in aller Regel unsere einzige Möglichkeit, an ihn heranzukommen, und auch sie bestehen aus Einzelnen, Wählern und oft genug Jungwählern –, die Medien sehen und spüren diese Spannung, besonders im Pressekorps der Busse von McCain2000. Da machen Sie sich mal nichts vor. Und vergessen Sie nicht, dass die auch nur Menschen sind und dass ihre jeweilige Weise, diese Spannung aufzulösen und zu entscheiden, wie sie MacCain sehen wollen (und wie sie ergo Sie McCain sehen lassen wollen), viel weniger von der politischen Ausrichtung eines Reporters abhängt als von seinen kleinen inneren Schlachten zwischen Zynismus und Idealismus und Marketing und Führungskraft. Die rechtsextreme National Review nennt McCain beispielsweise »Schlitzohr und Rampensau«, und bei der guten alten linken New York Review of Books hat man das Gefühl, »McCain ist kein Anti-Clinton … er ist eher ein Un-Clinton, so wie 7Up die Un-Cola war: anderer Geschmack, identischer Zuckergehalt«, und die politisch gleichmütige Vanity Fair zitiert Insider aus Washington mit unbekannten Präferenzen mit der Aussage »Man sollte McCains Gerissenheit nicht unterschätzen. In vielerlei Hinsicht sind seine Positionen hinsichtlich ihrer Medienwirkung sehr ausgeklügelt«.
Na, ist nicht wahr! Hier in South Carolina geht es beim deprimierendsten und zynischsten Zwischenfall der ganzen Woche um nichts anderes als gerissene und ausgeklügelte Medienwirkung. (Zumindest in gewissen Launen sieht es [vielleicht] so aus.) Denken Sie bitte noch mal an den Chris-Duren-Zwischenfall am 10. Februar in Spartanburg und McCains enormen Kummer und sein Versprechen, den desillusionierten Jugendlichen höchstpersönlich anzurufen und sich bei ihm zu entschuldigen. Am nächsten Nachmittag, wieder in North Charleston, informiert der neue, unilateral nicht negative McCain bei einem Presse-Briefing vor dem E&B das Pressekorps, er werde jetzt in sein Hotelzimmer gehen und Chris Duren anrufen. Der Anruf wird »ein Privatgespräch zwischen dem jungen Mann und mir«, sagt McCain. Dann schaltet sich ein sehr streng dreinblickender Todd ein, der Pressebetreuer, und gibt bekannt, dass nur Network-Techs ins Zimmer dürfen, und filmen dürfen sie zwar das gesamte Telefonat, aber Tonmitschnitte sind nur in den ersten zehn Sekunden gestattet. »Zehn Sekunden, dann werden die Mikros abgeschaltet«, sagt Todd und funkelt Frank C. und die anderen Tontechniker an. »Das ist ein Privatgespräch, kein Medienereignis.« Jetzt mal langsam. Wenn das ein »Privatgespräch« ist, warum erlaubt man dann, dass McCain dabei gefilmt wird? Und warum nur zehn Sekunden Ton? Warum nicht entweder ein Gesamttonmitschnitt oder gar keiner?
Die moderne, amerikanische Antwort stammt aus dem Grundkurs Marketing. Die Kampagne möchte publik machen, dass McCain sein Versprechen hält und einen traumatisierten Jugendlichen anruft, sie möchte aber auch publik machen, dass McCain ihn »privat« anruft und die Angelegenheit nicht nur aus krassen politischen Motiven ausschlachtet. Es gibt keine andere Erklärung für das Abschalten der Mikros nach zehn Sekunden, denn jetzt müssen die Networks, die das Filmchen ausstrahlen, erklären, warum es nach der Begrüßung keinen Ton mehr gibt, und diese Erklärung lässt McCain doppelt gut dastehen, teilnahmsvoll und unpolitisch. Bedeutet diese gerissene Berechnung der Medienwirkung, dass sich McCain in Wahrheit nicht für Chris Duren interessiert, ihn in Wahrheit nicht wieder aufbauen und seinen Glauben an politische Prozesse wiederherstellen will? Nicht unbedingt. Aber was hat es zu bedeuten, dass McCain2000 beides auf einmal haben will, so wie Konzerne spenden und dann auf PR-Gewinne setzen, indem sie mit ihrem Altruismus werben? Bedeutet dieses »Tu Gutes und rede darüber«, dass die Geschenke und der Anruf nicht »gut« sind? Die Antwort hängt davon ab, welche Grauzonentoleranz Sie in Bezug auf Ehrlichkeit vs. Marketing aufbringen, oder Ehrlichkeit plus Marketing oder Führungskraft plus deren Verpacken und Verkaufen.
Wenn Sie aber wie der arme alte Rolling Stone an diesem Punkt der Tour so weit sind, dass Sie ungefähr genauso viel Angst vor Ihrem eigenen Zynismus wie vor Ihrer eigenen Leichtgläubigkeit und den Verkäufern haben, die sich daran laben, dann merken Sie vielleicht, dass Sie unwillkürlich immer wieder und öfter an eine dunkle und kastengroße Zelle in einem gewissen Hilton am anderen Ende der Welt und vor drei Karrieren denken müssen, an die Folter, die Angst, das Angebot der Freilassung sowie an einen gewissen Jungwähler namens McCain, der sich weigerte, gegen einen Kodex zu verstoßen. In dem Kasten gab es keine Techs, keine Berater oder Referenten, keine Paradoxa oder Grauzonen; nichts zu verkaufen. Da gab es nur einen Mann und das, was sein Charakter ihm an Kraft geben konnte. Und das kann man nicht genug betonen. Dieser Kasten im Hoa Lo wird vor Ihrem inneren Auge zu einer Garderobe mit einem Stern an der Tür, dem ureigensten Ort hinter der Bühne, wo »der wahre McCain«, wie man annehmen muss, heute noch lebt. Und das Paradox lautet, dass dieser Kasten, der McCain »real« macht, per definitionem versperrt ist. Unzugänglich. Da kommt keiner rein oder raus. Auch das muss man betonen, und Sie sollten es nicht vergessen. Egal wie viele »Hinter den Kulissen«-Stifte auf den Fall angesetzt werden, ein »Profil« von John McCain kann nie mehr sein als das: einseitig, äußerlich und von so vielen Objektiven gebeugt und gebrochen, dass weit mehr als ein Mann zum Vorschein kommt. Verkäufer oder Führungspersönlichkeit, keins von beidem oder beides: Das letzte Paradox – das wahrhaft winzige Kernparadox, wie verschüttet unter all den anderen sich drehenden Kästen und Rechtecken der Kampagnenrätsel, die sich an McCain ablagern – ist, dass die Frage, ob er wirklich »real« ist, weniger von seiner Überzeugung als von Ihrer abhängt. Versuchen Sie, wach zu bleiben.
2000