Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich

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Heute ist Samstag, der 18. März, und ich sitze im überfüllten Coffeeshop auf dem Flughafen von Fort Lauderdale und versuche, die vier Stunden Wartezeit zwischen dem Auschecken auf dem Kreuzfahrtschiff und meinem Rückflug nach Chicago totzuschlagen, indem ich all das, was ich im Rahmen der soeben abgeschlossenen Reportage gesehen, gehört und getan habe, noch einmal und in hypnotischer Versenkung Revue passieren lasse.

Ich habe sacharinweiße Strände gesehen, Wasser von hellstem Azur. Ich habe einen knallroten Jogginganzug gesehen, mit extrabreiten Revers. Ich habe erfahren, wie Sonnenmilch riecht, wenn sie auf 21.000 Pfund heißes Menschenfleisch verteilt wird. Ich bin in drei Ländern mit »Mään« angeredet worden. Ich habe 500 amerikanischen Leistungsträgern beim Ententanz zugeschaut. Ich habe Sonnenuntergänge erlebt, die aussahen wie nach einer digitalen Bildbearbeitung, und einen tropischen Mond, der am Himmel hing wie eine fette Zitrone – statt des spröden Gesteinsbrockens unter dem gewohnten US-Sternenzelt.

Ich habe mich sogar (wenn auch nur kurz) in eine Conga-Polonaise eingereiht.

Ich muss allerdings zugeben, dass ich wohl lediglich durch eine Art Peter-Prinzip an den Job gekommen bin. Weil nämlich eine gewisse Edelgazette von der Ostküste der Meinung war, mein erster Auftrag, ein formal nicht näher festgelegtes »Feature« über die gute alte State Fair, sei ganz gut gelaufen, haben sie mir diesmal diese superlaue Kreuzfahrtgeschichte anvertraut, wiederum ohne jeden Hinweis darauf, was genau von mir erwartet wird. Dennoch hat sich für mich persönlich der Druck erhöht; denn betrugen die Spesen für die State-Fair-Story (die Glücksspielverluste nicht eingerechnet) noch schlappe 27,00 Dollar, so müssen sie hier gleich 3.000 Dollar hinlegen, bevor auch nur eine einzige – womöglich auch noch »packende« – Zeile auf dem Papier steht. Und wann immer ich mich von Bord aus, über Satellitentelefon, bei ihnen melde, versichern sie mir mit der größten Gelassenheit, ich solle mir nicht so viele Gedanken machen. Mehr kriegt man von diesen Zeitungsleuten nicht zu hören, schon gar kein ehrliches Wort. Alles, was sie wollen, behaupten sie, sei eine persönliche Dokupostkarte im Breitwandformat. Mit anderen Worten: Junge, lass dich feudal durch die Karibik schippern und schreib einfach auf, was du gesehen hast.

Ich habe jede Menge weißer Ozeanriesen gesehen. Ich habe Schwärme winziger Fische mit fluoreszierenden Flossen gesehen. Ich habe einen dreizehnjährigen Jungen gesehen, der ein Toupet trug. (Die Fluoreszenzfische hielten sich an jeder Anlegestelle bevorzugt zwischen unserer Schiffswand und dem Beton der Kaimauer auf.) Ich habe die Nordküste von Jamaika gesehen. Ich habe die 145 Katzen im Haus von Ernest Hemingway in Key West, Florida, gesehen (gerochen übrigens auch). Ich kenne inzwischen den Unterschied zwischen einfachem Bingo und Prize-O und weiß, was ein Bingo Multi-Bonus ist. Ich habe Camcorder gesehen, für die man eigentlich einen Kamerawagen gebraucht hätte; ich habe Gepäckstücke, Sonnenbrillen und Kneifer in schreienden Neonfarben gesehen, und ich habe festgestellt, dass es über zwanzig verschiedene Marken von Badelatschen gibt. Ich habe Steeldrums gehört und Meeresschneckenbeignets gegessen und war Zeuge, wie eine Frau in Silberlamé einen gläsernen Aufzug von innen flächendeckend vollgekotzt hat. Ich habe im Zweivierteltakt von Siebzigerjahre-Discomusik den Arm gen Saaldecke gereckt, was ich seinerzeit (1977) ums Verrecken nicht getan hätte.

Ich habe erfahren, dass jenseits von Ultra-ultra-Ultramarinblau noch eine Steigerung möglich ist. Ich habe während dieser einen Woche mehr und vor allem besser gegessen als jemals zuvor in meinem Leben, und während ich dies tat, habe ich am eigenen Leib den Unterschied zwischen »Rollen« und »Stampfen« eines Schiffs bei schwerer See erlebt. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie ein Alleinunterhalter vor Publikum allen Ernstes sagte: »Okay, jetzt aber Scherz beiseite …« Ich habe blasslila Hosenanzüge gesehen, Sakkos von menstrualem Rosa, braun-violette Trainingsanzüge und weiße Freizeitschuhe, die ohne Socken getragen wurden. An den Blackjack-Tischen habe ich professionelle Kartengeberinnen erlebt, die so wunderschön waren, dass man dort gern den letzten Dollar verzockt hätte. Ich habe erwachsene US-Bürger aus dem gehobenen Mittelstand gehört, erfolgreiche Geschäftsleute, die am Infocounter wissen wollten, ob man beim Schnorcheln nass wird, ob Skeetschießen im Freien stattfindet, ob die Crew ebenfalls an Bord schläft oder um welche Uhrzeit das Midnight-Buffet eröffnet wird. Ich kenne die feinen cocktailogischen Unterschiede zwischen einem Slippery Nipple und einem Fuzzy Navel. Ich weiß, was ein Coco Loco ist. In einer einzigen Woche war ich 1.500-mal Zielobjekt des berühmten amerikanischen Servicelächelns. Ich hatte zweimal Sonnenbrand, und zweimal hat sich die Haut geschält. Ich habe auf See Tontauben geschossen. Reicht das? Damals schien es nämlich nicht zu reichen. Ich habe den subtropischen Himmel wie ein schweres Tuch über mir gespürt. Ein Dutzend Mal bin ich zusammengezuckt bei jenem alles durchbebenden Darmwind der Götter, der da heißt Nebelhorn. Ich habe die Grundlagen von Mah-Jong in mich aufgenommen, ein zweitägiges Bridgeturnier verfolgt (in Teilen), gelernt, wie man eine Rettungsweste über einem Smoking anlegt, und beim Schach gegen ein neunjähriges Mädchen verloren.

(Vielleicht sollte man korrekterweise sagen: Ich habe auf See nach Tontauben geschossen.)

Ich habe mit unterernährten Kindern um den Preis für Halskettchen gefeilscht. Ich kenne jede denkbare Erklärung und Rechtfertigung eines Menschen, der 3.000 Dollar für eine Karibik-Kreuzfahrt ausgibt. Und ich musste mich schon sehr zusammenreißen, als mir ein echter Jamaikaner original jamaikanisches Gras anbot.

Einmal habe ich vom Oberdeck aus gesehen, wie das niagarahafte Schraubenwasser der Steuerbordschraube die auffällige Rückenflosse eines Hammerhais (nehme ich mal an) umspülte.

Ich habe Reggae als Aufzugsmusik gehört – ein Eindruck, für den mir die Worte fehlen. Ich weiß, was es heißt, wenn man vor der eigenen Toilette Angst hat. Ich habe diesen typischen Seemannsgang bekommen und wäre ihn mittlerweile gern wieder los. Ich habe Kaviar gegessen und war mit dem kleinen Jungen neben mir am Tisch einig: Das Zeug schmeckt voll abgeranzt.

Ich weiß jetzt, was sich hinter dem Begriff »Duty Free« verbirgt.

Ich kenne nun die Höchstgeschwindigkeit eines Kreuzfahrtschiffs in Knoten.[639] Ich habe viele leckere Sachen gegessen: escargots, Ente, Baked-Alaska, Lachs an Fenchel, einen Pelikan aus Marzipan und ein Omelette mit forensischen Spuren von echten oberitalienischen Trüffeln. Ich habe Leute im Liegestuhl allen Ernstes behaupten hören, es sei ja weniger die Hitze als die enorme Luftfeuchtigkeit. Ich wurde, ganz wie versprochen, von morgens bis abends und nach allen Regeln der schwimmenden Hotellerie verwöhnt. Und in dunklen Stunden habe ich Buch geführt über alle Arten von persistierenden Erythemen, Keratinosen, prämelanomischen Läsionen, Leberflecken, Ekzemen, Warzen, Zysten, Bierbäuchen, Cellulite-Fällen, Krampfadern und Besenreisern, Collagenunterspritzungen und Silikonimplantaten, misslungenen Kolorationen und Haartransplantationen, die mir unter die Augen kamen. Kurz, ich habe sehr viele fast nackte Leute gesehen, die ich lieber nicht fast nackt gesehen hätte. Ich war streckenweise so übel drauf wie seit der Pubertät nicht mehr und habe beinahe drei Mead-Kladden vollgeschrieben bei dem Versuch, herauszufinden, an wem es denn nun lag, an ihnen oder bloß an mir. Ich habe Freund- und Feindschaften fürs Leben geschlossen. Dem Hotelmanager des Schiffes etwa, ein Mr. Dermatis, gehört mein ewiger Zorn, deshalb nenne ich ihn von jetzt an nur noch Mr. Dermatitis.[640] Mein Kellner hingegen hat sich bei mir die höchste Achtung erworben. Und dem Kabinensteward in meinem Abschnitt von Deck 10/Backbord, einer gewissen Petra, war ich am Ende regelrecht verfallen. Petra mit den Grübchen und dem breiten, offenen Gesicht, Petra, angetan wie eine Krankenschwester in raschelndem Weiß, stets eingehüllt in eine Wolke jenes norwegischen Zedernduftdesinfektionsmittels, mit dem sie die Badezimmer wischte, Petra, die mindestens zehnmal am Tag jeden Quadratzentimeter meiner Kabine putzte, dabei aber nie beim eigentlichen Putzen anzutreffen war – ein zauberhaftes Wesen, das zweifellos eine eigene Dokupostkarte wert wäre.

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Also noch einmal und diesmal etwas genauer: Vom 11. bis zum 18. März 1995 unternahm ich freiwillig und gegen Bezahlung eine siebentägige Karibikkreuzfahrt (der Katalog spricht hier von einer 7-Night Caribbean oder »7NC« Cruise) an Bord der Zenith[641], eines 47.255-Tonnen-Schiffs der Celebrity Cruises Inc., einer von den über zwanzig Kreuzfahrtlinien, die von Südflorida aus operieren.[642] Das Schiff mit seiner gesamten Einrichtung zählte, gemessen an den in dieser Branche üblichen und mir jetzt bekannten Standards, zur absoluten Spitzenklasse. Die Küche war exzellent, der Service hervorragend, und sowohl bei den Landgängen als auch dem Animationsprogramm an Bord hatte man nichts dem Zufall überlassen. Das Schiff war so sauber und weiß wie nach einer Kochwäsche. Das Blaue der westlichen Karibik variierte zwischen babyfarben und einem fluoreszierenden Ultramarin, desgleichen der Himmel. Die Lufttemperatur bewegte sich im gebärmütterlichen Bereich. Die Sonne selbst schien auf maximale Annehmlichkeit voreingestellt. Auf zwei Passagiere kamen 1,2 Crewmitglieder. Wie gesagt, eine Luxuskreuzfahrt.

Abgesehen von einigen unbedeutenden Varianten für das Nischenpublikum ist der Typus der 7NC-Luxus-Kreuzfahrt das Grund- und Erfolgsmodell schlechthin. Alle Megalines bieten mehr oder weniger dasselbe Produkt an. Dieses Produkt ist weder eine Dienstleistung im herkömmlichen Sinn, noch verspricht es von vornherein Spaß pur. (Allerdings zeigt sich rasch, dass die Hauptaufgabe des Cruisedirector und seiner Leute darin besteht, genau diese Spaßphilosophie im Gast dauerhaft zu verankern.) Im Grunde geht es also eher um ein Gefühl, das in einem selbst hergestellt wird und das insofern – als Gefühl eben – nicht mit einer Produktgarantie versehen werden kann. Das gewünschte Gefühl beruht auf einer Mischung aus Entspannung und Stimulation, stressfreiem Relaxen in Kombination mit einem touristischen Rahmenprogramm, das es in sich hat, kompromisslosem Service und Bevormundung, die unter dem Begriff »verwöhnen« läuft. Die Kataloge praktisch aller Megalines sind geradezu durchsetzt von dem Wort verwöhnen. Beispiele: »Lassen Sie sich an Bord verwöhnen wie noch nie zuvor in Ihrem Leben …«, »… und verwöhnen Sie sich in unserem Wellnessbereich mit den verschiedensten Saunen und Whirlpools …«, »Wir haben uns zum Ziel gesetzt, Sie rundum zu verwöhnen«, »Gönnen Sie sich etwas. Warum lassen Sie sich nicht einmal von der milden Brise auf den Bahamas verwöhnen?«.

Die Tatsache, dass auch für andere Konsumgüter mit jener Verwöhnqualität geworben wird, kommt sicher nicht von ungefähr und ist den PR-Agenturen der Megalines auch nicht verborgen geblieben. Sie haben jedoch gute Gründe, voll auf dieses Zauberwort zu setzen, getreu dem Leitsatz »Penetranz geht vor Varianz«.

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Einige Wochen vor meiner Kreuzfahrt berichteten die Nachrichten in Chicago vom Selbstmord eines sechzehnjährigen Jugendlichen. Der Junge war vom Oberdeck eines Luxuskreuzers (entweder der Carnival- oder der Crystal-Linie) in den Tod gesprungen, der Medienversion nach aus Liebeskummer, als Reaktion auf eine unglückliche Liebelei an Bord. Ich persönlich aber glaube, dass noch etwas anderes im Spiel war, etwas, über das man in einer Nachrichtenstory nicht schreiben kann.

Denn alle diese Kreuzfahrten umgibt etwas unerträglich Trauriges. Und wie bei den meisten unerträglich traurigen Sachen ist die Ursache komplex und schwer zu fassen, auch wenn man die Wirkung sofort spürt: An Bord der Nadir überkam mich – vor allem nachts, wenn der beruhigende Spaß- und Lärmpegel seinen Tiefpunkt erreichte – regelrecht Verzweiflung. Zugegeben, das Wort Verzweiflung klingt mittlerweile ziemlich abgegriffen, doch es ist ein ernstes Wort, und ich verwende es im Ernst. Für mich bedeutet Verzweiflung zum einen Todessehnsucht, aber verbunden mit dem vernichtenden Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, hinter der sich wiederum die Angst vor dem Sterben verbirgt. Elend ist vielleicht der bessere Ausdruck. Man möchte sterben, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen, der Wahrheit nämlich, dass man nichts weiter ist als klein, schwach und egoistisch – und dass man mit absoluter Sicherheit irgendwann sterben wird. In solchen Stunden möchte man am liebsten über Bord springen.

Ich wage einmal die Voraussage, dass der Redakteur die letzten Sätze streichen wird. Aber egal, so viel zur Person muss erlaubt sein. Denn für einen wie mich, der bis zu dieser Kreuzfahrt noch nie auf See gewesen ist, war der Ozean immer gleichbedeutend mit Grauen und Tod. Als Kind lernte ich die Einzelheiten sämtlicher bekannt gewordener Haiangriffe auswendig. Aber nicht einfach nur Angriffe, sondern vornehmlich solche mit tödlichem Ausgang. Beispielsweise den Fall Albert Kogler vor Baker’s Beach, Kalifornien 1959 (Weißer Hai). Oder das Schlachtfest nach dem Untergang der USS Indianapolis, 1945 als Folge eines Torpedoangriffs in philippinischen Gewässern (beteiligt: eine Vielzahl von Arten, laut offizieller Darstellung hauptsächlich Tiger- und Blauhaie).[643] Oder der Hai mit der höchsten Opferrate, 1916 vor Matawan/Spring Lake, New Jersey (abermals ein Weißer Hai; aber sie fingen auch einen Menschenhai, in dessen Gastrointestinaltrakt menschliche Körperteile gefunden wurden [ich weiß sogar, welche und von wem]). In der Schule habe ich drei verschiedene Aufsätze über das Kapitel »Der Verstoßene« aus Moby Dick geschrieben, wo Pip, der Schiffsjunge, über Bord geht und in der unendlichen Leere des Ozeans den Verstand verliert. Und wann immer ich heute als Lehrer vor einer Schulklasse stehe, gebe ich den Schülern Stephen Cranes »Das offene Boot« zu lesen – und verstehe jedes Mal die Welt nicht mehr, wenn die Kids diese Albtraumgeschichte entweder langweilig oder viel zu reißerisch finden. Dabei möchte ich ihnen doch nur etwas von demselben ozeanischen Grauen vermitteln, das auch ich immer empfunden habe, eine Ahnung vom Meer als urzeitlichem nada, als bodenlosem Nichts, von Tiefen, aus denen feixende, zahnbewehrte Kreaturen zu dir aufsteigen, so schnell, wie eine Feder zu Boden schwebt. Jedenfalls meldete sich auf dieser Luxuskreuzfahrt[644] mein atavistischer und lange unterdrückter Hai-Horror-Tick verstärkt zurück und ließ mich wegen der einen (mutmaßlichen) Haiflosse, die ich steuerbords entdeckt hatte, ein solches Theater aufführen, dass mir meine Tischgenossen von Tisch 64 schließlich mit größtmöglichem Takt bedeuteten, ich möge endlich die Klappe halten.

Ebenfalls kein Zufall ist, dass diese 7NC-Luxuskreuzfahrten vor allem ältere Leute ansprechen. Ich meine nicht steinalt-abgelebt, sondern die Altersgruppe der über Fünfzigjährigen, denen die eigene Hinfälligkeit kein abstrakter Begriff mehr ist. Tagsüber fiel es besonders auf: Die teilentblößten Leiber, die ich auf der Nadir zu sehen bekam, befanden sich in mannigfaltigen Stadien körperlichen Zerfalls. Wie ja das Meer überhaupt eine einzige große Zersetzungsmaschine ist. (Das Wasser, wie ich feststellen musste, so rachenspülungssalzig, sein Gischthauch so korrosiv, dass ich die Gelenke meiner Brille wohl reparieren lassen muss.) Meerwasser zerstört jedes Schiff in erstaunlichem Tempo, verwandelt Stahl in Rost, lässt Farben sich pellen, Lacke bröseln, vernichtet Glanz, überzieht Bordwände mit Muscheln und Algen und einem allgegenwärtigen maritimen Schmodder, der wie der Tod selber scheint. In den Häfen ließ sich das ganze Elend gut beobachten. Der Horror: Kähne, die aussahen wie in Säure und Scheiße getaucht, über und über mit Ausschlag bedeckt, Rost und Schleim, zerfressen von dem, worin sie schwimmen.

Nicht so die Schiffe der Megalines. Sie sind allesamt weiß und sauber, denn ihr Zweck ist nicht zuletzt, den calvinistischen Triumph von Kapital und Industrie über die archaische Zerstörungskraft der See zu repräsentieren. Die Nadir beschäftigte ein ganzes Bataillon von wuseligen Drittweltgestalten, die in ihren blauen Overalls tagein, tagaus das Schiff nach etwaigen Zeichen beginnenden Gammels absuchten. Der Autor Frank Conroy (»Alle Zeit der Welt«) schreibt in einer Art Werbeessay auf den ersten Seiten des Celebrity-Cruises-Katalogs: »Ich betrachtete es als eine Art persönliche Herausforderung, irgendwo an Bord ein Zeichen mangelhafter Wartung zu entdecken, ein angelaufenes Messingteil, eine angestoßene Reling, einen Schmutzfleck auf dem Deck, ein lockeres Kabel, irgendetwas, das nicht hundertprozentig tipptopp war. Endlich, gegen Ende der Reise, fand ich, was ich suchte, ein Gangspill[645] mit einer etwa halbdollargroßen Roststelle auf der Außenbordseite. Allerdings wurde meine Freude über den winzigen Makel jäh unterbrochen, als ein Matrose mit Farbeimer und -roller anrückte. Ich konnte zusehen, wie er die komplette Gangspill frisch anstrich und sich mit einem kurzen Nicken wieder entfernte.«

Denn darum geht es. Ein Urlaub bedeutet Schonung vor den Unannehmlichkeiten des Lebens, und da das Wissen um Tod und Untergang mit ziemlicher Sicherheit unangenehm ist, mag es verwundern, warum der alternative amerikanische Traumurlaub ausgerechnet darin besteht, in eine archaische Todesmaschine gepfercht zu werden. Doch auf einer 7NC-Luxuskreuzfahrt arbeitet man geschickt am Traum vom Sieg über ebendiesen Tod und Untergang. Eine Methode des Siegs über den Tod besteht in eiserner Ertüchtigung; die überbordenden Wartungsanstrengungen der Nadir-Mannschaft finden ihre plumpe Entsprechung im Aufbauprogramm für die Passagiere: Diät, Fitnessübungen, Megavitamin-Nahrungsergänzungsschnickschnack, kosmetische Chirurgie, Frank-Quest-Zeitmanagement-Seminare usw.

Natürlich gibt es, Stichwort Tod, noch eine zweite Möglichkeit. Nicht durch Ertüchtigung, sondern durch Erregung. Nicht durch harte Arbeit, sondern durch gnadenloses Vergnügen. Schier unübersehbar ist der 7NC-Veranstaltungskalender mit seinen Spiel- und Spaßaktivitäten. Bordfeste, Disco und Bühnenshows verbreiten eine permanente Partylaune, kitzeln das Adrenalin, machen müde Knochen munter. Hier spielt die Musik, pulsiert das Leben. Welche unglaublichen Weiterungsmöglichkeiten der Existenz![646] Allerdings wird die Todesfurcht nicht so sehr überwunden als ausgeblendet. »Nach dem Dinner treffen Sie sich mit Ihren Freunden[647] in der Lounge, ehe es heißt ›Vorhang auf für unser Showprogramm!‹. Doch damit nicht genug. Spätestens nach dem begeisterten Applaus wird jemand aus Ihrem Freundeskreis[648] die Frage stellen: ›Und was machen wir jetzt?‹ Wie wäre es mit einem Abstecher ins Kasino oder in die Disco? Oder lieber zu einem ›Absacker‹ in unsere stilvolle Pianobar? Oder was halten Sie von einem Spaziergang auf Deck, unter dem sternglänzenden Nachthimmel? Der Möglichkeiten sind viele, und es wäre nicht verwunderlich, wenn Sie am Ende sagten: ›Warum nicht alles zusammen? Let’s do it all!‹«

Okay, das klingt nicht gerade nach Dante, und dennoch ist der 7NC-Katalog ein geniales und wirkmächtiges Mittel der Verführung. Katalog ist übrigens untertrieben, das Ding ist ein veritables Hochglanzmagazin mit aufwendigem Layout und künstlerisch gestalteten Fotostrecken von niveauvollen, braun gebrannten Paaren[649] unter dem Einfluss eines Grinskrampfs der Verzückung. Alle großen Kreuzfahrtlinien geben solche Kataloge heraus, und sie sind im Grunde austauschbar. Im Mittelteil findet man eine Aufstellung der verschiedenen Routen und Reiseangebote. Auf einer 7NC-Standardversion geht es entweder in die westliche Karibik (mit Jamaika, den Kaimaninseln, Cozumel), in deren östlichen Teil (Puerto Rico, Jungferninseln) oder in Gewässer namens »Deep Caribbean« (mit Martinique, Barbados, Mayreau). Außerdem gibt es auch zehn- oder elftägige sogenannte »Ultimate Caribbean Packages«, sie führen an so ziemlich jeden exotischen Küstenstreifen zwischen Miami und dem Panamakanal. Eine detaillierte Preisliste[650], Pass- und Zollbestimmungen und allgemeine Reisehinweise beschließen den Katalog.

Der Anfangsteil hingegen ist derjenige, der einen wirklich packt: diese Fotos, diese kursiv gesetzten (ausschließlich begeisterten) Zitate aus Reiseführern und Fachpresse, diese Traumkulissen und lyrischen Schilderungen der Celebrity-Cruises-Erlebniswelt! Man kann sagen, was man will, aber diese Hefte machen Lust auf mehr. Allein die goldunterlegten Hypertext-Kästen, in denen Sachen stehen wie EINFACH DIE SEELE BAUMELN LASSEN oder ENTSPANNUNG WIRD IHNEN ZUR ZWEITEN NATUR … oder DEN ALLTAGSSTRESS VERGESSEN. Solche Versprechungen weisen auf einen dritten Weg metaphysischer Todesverdrängung, den die Nadir ihren Passagieren zu bieten hat, einen Weg, der ohne Ertüchtigung oder Erregung auskommt und der die eigentliche Verheißung einer 7NC darstellt.

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»Allein an der Reling zu stehen und den Blick aufs Meer hinausschweifen zu lassen, hat eine ungemein beruhigende Wirkung. Während Sie wolkengleich über den Wellen schweben, fällt jeglicher Ballast von Ihnen ab, und es scheint, als lächle die ganze Welt Ihnen zu. Nicht nur die Mitreisenden, nein, auch die Mannschaft. Als der Steward Ihnen freudig den Drink reicht, erwähnen Sie die vielen fröhlichen Gesichter unter der Crew. Der Steward erklärt Ihnen, dass jeder Celebrity-Mitarbeiter persönlich dafür Sorge trägt, dass es Ihnen – als ihrer aller Ehrengast – auf dieser Reise an nichts mangelt.[651] Dies sei auch der Grund, fügt er hinzu, dass er sich nicht vorstellen könne, jemals woanders zu arbeiten als auf diesem Schiff. Ihnen genügt ein Blick hinaus aufs Meer, um ihm von ganzem Herzen zuzustimmen.«

Der 7NC-Katalog von Celebrity Cruises schwelgt in der dritten Person Plural. Und das nicht ohne Grund. Die 7NC-Erlebniswelt wird nämlich nicht nur einfach beschrieben, sondern geradezu heraufbeschworen. Die heimliche Verführung liegt nicht so sehr darin, dass der Text die Fantasie anregt, sondern dass er Fantasien konstruiert. Natürlich handelt es sich letztlich nur um Werbung, aber diese Werbung besitzt einen eigenartig autoritären Zug. Normale Werbung zeigt attraktive Menschen, die in einer produktbezogenen Situation fast schon unerlaubt viel Spaß haben, und der Konsument darf sich durch den Kauf des Produkts in diese heile Welt hineinfantasieren. Normale Werbung schmeichelt der Entscheidungsfreiheit des Konsumenten insofern, als sie den Kauf des Produkts zur Bedingung für seinen Eintritt in eine Fantasiewelt macht. Im Grunde werden nur Fantasien verkauft, aber ein konkreter Bezug zu dieser Fantasiewelt fehlt ebenso wie ein direktes Versprechen. Normale Werbung, soweit sie sich an Erwachsene richtet, ist im Kern also höchst zurückhaltend.

Man vergleiche dies mit dem Druck, den die 7NC-Kataloge auf den Konsumenten ausüben, die fast gebieterische Ansprache in der dritten Person Plural und eine Detailversessenheit, die sogar die Reaktion des Konsumenten vorausnimmt (»Sie werden sagen: ›Dem kann ich nur von ganzem Herzen zustimmen.‹« Oder: »Sie werden sagen: ›Warum nicht alles zusammen? Let’s do it all!‹«). In diesen Katalogen erspart man dem Konsumenten die Fantasiearbeit, denn die hat der Katalog bereits geleistet. Solche Werbung schmeichelt zwar nicht der Entscheidungsfreiheit des erwachsenen Konsumenten, ja, ignoriert sie noch nicht einmal, sondern ersetzt sie.

Diese autoritäre, beinahe fürsorgliche Werbung enthält ein Versprechen eigener Art, ein teuflisch buhlerisches Versprechen, das in gewisser Weise schon wieder ehrlich ist, da auf der beworbenen Kreuzfahrt tatsächlich mit allen Mitteln an seiner Erfüllung gearbeitet wird. So wird einem beispielsweise nicht versprochen, dass man auf einer Kreuzfahrt viel Spaß haben kann, sondern dass man ihn haben wird, den Spaß. Dass die Celebrity-Leute sich schon darum kümmern werden. Dass sie sich darum kümmern werden mit einer Intensität, welche sogar die ätzendste Nörgelneigung überwindet, auf dass kein Passagier sich durch die eigene Denke, seine Entscheidungsfreiheit oder Furcht den Traumurlaub versaut. Eine Rechnung, aus der kontraproduktive Faktoren wie Unsicherheit, Reue, Unzufriedenheit und Verzweiflung konsequent herausgestrichen werden. Die Werbung verspricht dem Konsumenten – wenigstens dieses eine Mal – einen Urlaub, der keine Wünsche offen lässt, weil ihm gar keine andere Wahl gelassen wird, als sich blendend zu amüsieren.[652]

Ich bin mittlerweile 33 Jahre alt, und es kommt mir vor, als wäre in meinem Leben bereits viel Zeit vergangen, und als vergehe sie sogar mit jedem weiteren Tag etwas schneller. Tagaus, tagein bin ich gehalten, alle möglichen Entscheidungen zu treffen über das, was wichtig und richtig ist und was mir womöglich sogar etwas (Spaß) bringt. Genauer gesagt, zuerst muss ich entscheiden – und mich dann damit abfinden, dass ich aufgrund meiner Entscheidung andere Optionen nicht ausüben konnte. Und während also die Zeit für mich immer schneller vergeht, wird mir allmählich klar, dass sich meine Wahlmöglichkeiten immer mehr reduzieren, während sich die ausgeschlagenen Optionen exponentiell vermehren, sodass der Moment absehbar ist, an dem ich auf dem prächtig verästelten Baum des Lebens an einen Zweig gelange, an dem es keine Alternative mehr gibt und ich von der Zeit auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergedrängt werde – in Richtung Stillstand, Atrophie und Verfall. Ich schleppe mich dahin, bis ich, wie die Bibel schon sagt, zum dritten Mal niedergehe und alles Kämpfen nichts mehr nutzt, ersoffen in der Zeit. Es ist furchtbar. Immerhin, sage ich mir als der erwachsene Mensch, der ich gerne sein will, es sind meine eigenen Entscheidungen, in denen ich festsitze wie in einem Gefängnis. Denn so sind die Spielregeln: Ich muss mich entscheiden – und später damit leben, dass ich meine Entscheidungen bereue.

Nicht so auf der luxuriösen und makellosen Nadir. Auf einer 7NC-Luxuskreuzfahrt zahle ich für das Privileg, jede Verantwortung an eigens dafür ausgebildete Profis abgeben zu dürfen, Verantwortung nicht nur für das, was ich an Bord erlebe, sondern auch für die Interpretation des Erlebten, das heißt für mein Vergnügen. 7 Nächte und 6,5 Tage wird mein ganz individuelles Vergnügen professionell gemanagt, genau wie im Katalog versprochen – oder besser: vorausgesagt. Der Imperativ der dritten Person nimmt die Erfüllung meiner Wünsche bereits vorweg, gehört gewissermaßen zum Service. Somit dürfen Sie an Bord der Nadir etwas tun, was sich im fulminanten Finale des Anfangsteils (ib. S. 23 und mit goldener Schrift) folgendermaßen liest: »… dürfen Sie etwas tun, was Sie bestimmt schon lange nicht mehr getan haben: nämlich rein gar nichts

Seit wann haben Sie das nicht mehr getan? Rein gar nichts getan? In meinem Fall weiß ich das zufällig genau. Ich weiß genau, wann ich zum letzten Mal in den Genuss einer solchen Rundumversorgung gekommen bin. Als noch jedes Bedürfnis so umgehend und umfassend selbstredend erfüllt wurde, Bedarf noch nicht angemeldet, Ansprüche so wenig geltend gemacht werden mussten, dass die Annahme gestattet war, sie existierten gar nicht. Es war zu einer Zeit, da schwamm ich ebenfalls irgendwo herum, und das Wasser war salzig und warm, aber eben nicht zu warm, sondern genau richtig. Und wenn ich von dieser Zeit überhaupt noch etwas weiß, dann dies: Ich kannte keine Furcht und war wunschlos glücklich und hätte vermutlich allen eine Postkarte geschickt des Inhalts »Schade, dass ihr nicht auch hier sein könnt …«.

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Das 7NC-Verwöhnprogramm läuft zwar etwas ruckelnd an, aber es beginnt bereits auf dem Flughafen, wo man nicht zur Gepäckausgabe muss, weil Mitarbeiter der Megaline die Koffer für einen abholen und sie direkt aufs Schiff weiterleiten.

Außer Celebrity Cruises operieren eine ganze Reihe anderer Kreuzfahrtlinien von Fort Lauderdale[653] aus, was sich schon auf dem Hinflug von Chicago O’Hare bemerkbar macht. Überall Leute in Ferienstimmung, angetan mit dem typischen, uramerikanischen Urlaubsoutfit. Auch die Leute neben mir im Flugzeug haben die Nadir gebucht. Es handelt sich um ein Rentnerehepaar aus Chicago, das sich nun schon zum vierten Mal in vier Jahren auf große Fahrt begibt. Sie sind es, die mir von dem jugendlichen Todesspringer berichten und auch von einer inzwischen legendären Salmonellen- bzw. E.-coli-Epidemie oder so an Bord eines Luxuskreuzers Ende der Siebzigerjahre, die bekanntlich zu verstärkten Hygienekontrollen des Gesundheitsamts geführt habe; erwähnenswert in diesem Zusammenhang sei auch der Ausbruch der Legionärskrankheit (angeblich durch einen Whirlpool) auf einem 7NC-Megaship. Gerade einmal zwei Jahre sei das jetzt her, so die Frau, die als Sprecherin des Ehepaars fungiert, und passiert sei es vermutlich sogar auf einem der drei Celebrity-Schiffe, aber sicher sei sie sich nicht. In einem fort erzählt sie diese Horrorgeschichten, tut aber vornehm-pikiert, wenn ein entsetzter Zuhörer Genaueres wissen will. Der Mann trägt eine Anglermütze mit langem Schirm und ein T-Shirt mit der Aufschrift BIG DADDY.

7NC-Luxuskreuzfahrten beginnen und enden jeweils samstags. Heute ist Samstag, der 11. März. Die Zeit: 10:20 Uhr. Wir verlassen den Flieger. Man muss sich die Szene auf dem Flughafen von Fort Lauderdale vorstellen wie nach dem Fall der Berliner Mauer, mit dem einzigen Unterschied, dass die Massen der Ostdeutschen leicht übergewichtig sind, aber sonst eben ganz lustig und fidel in ihren pastellfarbenen Hawaiihemden. Hinten an der Wand der Ankunftshalle stehen etliche resolute Damen in einem angedeuteten Marinelook und halten ihre Schilder hoch: HLND, CELEB, CUND CRN. Was Sie jetzt machen müssen (die Frau aus dem Flugzeug, einen halben Schritt hinter BIG DADDY, der uns einen Weg durch den Auflauf bahnt, brieft mich), was Sie jetzt machen müssen, ist: Sie müssen sich Ihre persönliche resolute Dame von Ihrer Megaline suchen und gewissermaßen andocken und immer schön bei ihr bleiben (Rockzipfel), während sie mit ihrem Schild die Runde macht, um nach und nach immer mehr Passagiere einzusammeln und diesen quasi organisch gewachsenen Zellklumpen aus Nadiriten anschließend zu den Bussen zu geleiten, welche uns zur Pier fahren, wo wir in unserer bodenlosen Naivität einer sofortigen und problemlosen Einschiffung entgegensehen.

Anscheinend fristet Ft. Lauderdale Airport sechs Tage die Woche das Dasein eines durchschnittlich verschlafenen, mittelgroßen Flughafens, um sich pünktlich jeden Samstag in eine Kulisse aus den letzten Tagen von Saigon zu verwandeln. Die eine Hälfte des Mobs besteht aus gepäckbeladenen 7NC-Heimkehrern, kenntlich an der Urlaubsbräune und den bizarren, eigenartig haarigen Souvenirs verschiedenster Größe und Bestimmung. Sie alle haben diesen weggetretenen Blick, den die Frau aus Chicago als Indiz für eine von ihr so genannte Innere-7NC-Ausgeglichenheit identifiziert. Wir 7NC-Gerade-Ankommer dagegen wirken alle noch ziemlich blass und gestresst und irgendwie nicht einsatzbereit.

Draußen vor dem Flughafen wird uns (»uns von der Nadir«) gesagt, wir könnten unseren Zellklumpen jetzt auflösen und uns in einer Reihe am Bordstein aufstellen, wo uns die Nadir-Charterbusse abholen würden. Unsicher schauen wir zu der Herde von Holland America hinüber, die sich in ähnlicher Weise auf einer Art grasbewachsenem Mittelstreifen, parallel zu unserer Rampe, aufgereiht hat. (Preisfrage: Kann, soll, darf man jetzt winken?) Aber beide Gruppen, Celebrity wie Holland America, schauen ein bisschen vergnatzt auf den Princess-Haufen, dessen Busse soeben vorfahren. Sämtliche Kofferträger, Taxikutscher, Busfahrer und weißgegürteten Verkehrspolizisten von Ft. Lauderdale Airport stammen aus Kuba. Das Rentnerehepaar aus Chicago, auf ihrer insgesamt vierten 7NC längst gerissene Veteranen, hat sich bis zum Kopf der Schlange vorgedrängelt. Eine zweite Celebrity-Ordnerdame versichert uns über Megafon mehrfach, für das Gepäck sei gesorgt, es würde später nachkommen, und offenbar bin ich der Einzige, der sich dabei an die Verladeszene aus Schindlers Liste erinnert fühlt.

Okay, in der Schlange bin ich: genau zwischen einem korpulenten schwarzen Kettenraucher mit NBS-Sports-Cap und einer Reisegruppe, deren Mitglieder sich durch Businesskluft und Abzeichen als Führungsriege einer gewissen Engler Corporation ausweisen.[654] Ganz weit vorn in der Schlange hat das Rentnerehepaar aus Chicago einen Sonnenschirm aufgespannt. Von Südwesten her ziehen zwar Schäfchenwolken auf, aber unmittelbar über uns hängen nur dürftige Zirrusschleier, und bei der Warterei in der Sonne wird es sogar ohne Gepäck oder Angst vor Kofferklau anständig warm, vor allem, wenn man mangels Voraussicht ein leichenkärrnerschwarzes Jackett trägt und eine völlig inadäquate Kopfbedeckung. Aber das Schwitzen tut gut. In Chicago war es am Morgen noch 7 Grad minus gewesen und die Sonne so schwach, dass man ihr direkt ins rote Auge schauen konnte. Es tut gut, wieder richtige Sonne zu spüren, grünes Laub zu sehen, das sich im Wind bewegt. Wir warten insgesamt ziemlich lange, und aus der Nadir-Schlange werden erneut Menschenklumpen, weil der übliche Schlangen-Smalltalk nicht lange vorhält und man bald ernsthaft ins Gespräch kommt. Entweder es gab einfach nicht genug Busse für so viele Leute, die mit der Frühmaschine gekommen waren, oder aber – meine Theorie – dieselben Celebrity-Cruises-Strategen, die schon diesen enorm verführerischen Katalog ausgeheckt hatten, dachten, es wäre vielleicht eine prima Idee, den Transfer so langwierig und unangenehm wie möglich zu gestalten, damit der Kontrast zur 7NC-Erlebniswelt umso eindrucksvoller wird.

Doch endlich ist es so weit. In einer Kolonne von acht gecharterten Greyhoundbussen fahren wir zu den Piers. Sowohl die Geschwindigkeit unseres Konvois als auch der respektvolle Abstand der anderen Verkehrsteilnehmer lässt Gedanken an ein Leichenbegängnis aufkommen. Das Stadtbild von Ft. Lauderdale zeigt Ähnlichkeiten mit einem extrem großen Golfplatz, doch die Piers der Kreuzfahrtschiffe liegen in einem Vorort namens Port Everglades, einem Industriegebiet, dessen letzte Wohnhäuser systematisch dem Verfall preisgegeben werden, um Platz zu schaffen für Lagerhäuser und Umspannwerke und Containerhalden. Dazwischen immer wieder weite Brachen, auf denen sich ledern-bösartige Floridagewächse ausbreiten. Wir kommen an einem Ölfeld vorbei, wo hammerförmige Pumpenanlagen die Steigrohre fellationieren, und ganz hinten am Horizont entdecke ich einen Schnipsel glänzendes Grau – das muss das Meer sein. In meinem Bus sind mehrere verschiedene Sprachen in Gebrauch. Bei jedem Schlagloch oder beim Überfahren von Bahngleisen ist das massenhafte Klappern von umgehängten Kameras zu hören. Ich empfinde einen perversen Stolz bei dem Gedanken, dass ich selber keine Kamera dabeihabe.

Der normale Liegeplatz der Nadir ist Pier 21. Pier, denkt man, das sind Kaimauern, Gangways und glucksendes Wasser. Doch in diesem Fall hat Pier etwa so viel mit Hafen zu tun wie ein Flughafen, das heißt, es ist in erster Linie ein Areal, keine Sache. Weit und breit kein Wasser in Sicht, keine Docks, kein Fischgeruch, kein Salzhauch in der Luft, nur jede Menge weißer Ozeanriesen, die bei unserer Einfahrt in die Pierzone den Blick auf den Himmel versperren.

Während ich dies schreibe, sitze ich auf einem der orangefarbenen Plastikstühle, die in der Wartehalle von Pier 21 in endlosen Reihen in den Boden geschraubt sind. Wir sind aus dem Bus ausgestiegen und wurden per Megafon durch diese großen Glastüren gescheucht, wo uns zwei weitere, gänzlich humorlose Marinedamen jeweils ein Plastikkärtchen mit einer Nummer in die Hand gedrückt haben. Meine Karte trägt die Nummer 7. Ein paar Leute, die in der Nähe sitzen, fragen mich, »was ich bin«, und ich gehe mal davon aus, ich sollte jetzt sagen »eine 7«. Die Karten sind alles andere als neu, auf meiner zum Beispiel hat in einer Ecke jemand seinen schokoladigen Fingerabdruck hinterlassen.

Von innen gleicht Pier 21 einem gigantischen Zeppelinhangar ohne Zeppelin, ein Saal mit hohen Decken und enormer Akustik. Auf drei Seiten von schmutzigen Glaswänden umschlossen, bietet Pier 21 Platz für 2.500 Plastiksitze in 25er-Reihen. Der Wartesaal verfügt über eine trostlose Snackbar und lange Schlangen vor den Toiletten. Wie gesagt, der Geräuschpegel schlägt alles. Regenschauer pladdern gegen die Glaswände, obwohl draußen die Sonne scheint. Manche Leute auf den Sitzen sehen aus, als harrten sie seit Tagen hier aus, sie zeigen den glasigen, ergebenen Blick gestrandeter Luftpassagiere, die wegen eines Schneesturms schon ewig auf ihren Weiterflug warten.

Es ist inzwischen 11:32 Uhr, und die Abfertigung beginnt grundsätzlich keine Sekunde vor 14:00 Uhr. So jedenfalls wird uns von einer Lautsprecherstimme ebenso freundlich wie kategorisch mitgeteilt.[655] Die Stimme klingt so, wie man sich ein englisches Supermodel vorstellt. Alle klammern sich an ihre Plastikkärtchen, als wären die Kärtchen Pässe, wir noch im Kalten Krieg und Pier 21 Checkpoint Charlie. Das massenhafte, ängstliche Warten hat etwas von Ellis Island oder Auschwitz, aber mir ist nicht wohl bei diesem Vergleich und ich möchte ihn auch nicht vertiefen. Den vielen Hawaiihemden zum Trotz, viele der Wartenden wirken jüdisch auf mich, und ich schäme mich bei dem Gedanken, jüdische Herkunft am Aussehen erkennen zu können.[656] Nur etwa zwei Drittel der Leute haben tatsächlich auf den orangefarbenen Sitzen Platz genommen. Zwar ist die Atmosphäre im Abfertigungshangar von Pier 21 nicht so krass wie, sagen wir, an der Grand Central Station um 17:15 Uhr an einem Freitagnachmittag, aber eben meilenweit entfernt von dem total unstressigen Verwöhnambiente, auf das der Celebrity-Katalog ständig abhebt. Ich bin übrigens längst nicht der Einzige, der in diesem Augenblick traurig durch dessen Hochglanzseiten blättert. Andere lesen den Fort Lauderdale Sentinel und starren mit leerem U-Bahn-Blick ihr Gegenüber an. Ein Junge in einem T-Shirt mit der Aufschrift SANDY DUNCAN’S EYE schnitzt etwas in seinen Plastiksitz. Nicht wenige alte Menschen reisen mit noch erheblich älteren, wahrhaft steinalten Herrschaften zusammen – offenbar die Eltern. In verschiedenen Sitzreihen nehmen verschiedene Leute ihre Camcorder so routiniert auseinander wie Soldaten ihre Waffe. Aber es gibt auch die typischen WASP-Passagiere, darunter viele jüngere Paare mit Flitterwochenausstrahlung, wenn ich die Art, wie sie einander den Kopf auf die Schulter legen, richtig interpretiere. Von einem bestimmten Alter an sollten Männer allerdings keine Shorts mehr tragen. Die Beine alter Männer sind auf eine Weise kahl, die eklig ist; die Haut sieht regelrecht gerupft aus und schreit nach Behaarung, vor allem an den Waden. Die Waden dürften der einzige Körperteil sein, an dem man sich bei älteren Männern mehr Haare wünscht. Ist dieser fibulare Haarverlust die Folge jahrelangen Abriebs durch Hosen und Socken? Endlich klärt sich auch, was es mit den Plastikkärtchen auf sich hat. Man darf nämlich erst dann aufs Schiff, wenn die eigene Nummer aufgerufen wird. Die Einschiffung erfolgt jeweils in »Stückmengen«.[657] Die Nummer auf dem Kärtchen steht also nicht für das Individuum, sondern für die Kohorte, zu der man gehört. Einige alte 7NC-Hasen in der Nähe verraten mir, dass die 7 keine besonders tolle Stückmengennummer ist, und empfehlen, mich auf eine geraume Wartezeit einzurichten. Hinter den großen grauen Türen, jenseits des lärmenden Andrangs vor den Toiletten, führt ein nabelschnurartiger Schlauch auf die Nadir, die sich hinter den Fenstern der Südfront als riesige weiße Wand präsentiert. Ungefähr in der Mitte des Wartesaals haben samthäutige, in klinisches Weiß gekleidete Beraterinnen der Firma Steiner of London einen langen Tisch aufgebaut, wo der wartenden Damenwelt kostenlose Kosmetik- und Pflegetipps zuteilwerden – so viele potenzielle Kundinnen auf einem Haufen können gar nicht früh genug angegraben werden.[658] Die Frau aus Chicago und BIG DADDY sitzen in der Südwestecke der Halle und spielen UNO mit einem Ehepaar, das sie auf einer Princess-Alaskakreuzfahrt im Jahr 1993 kennengelernt haben.

Ich selbst habe mich zum Schreiben an die Westseite des Hangars verzogen, hocke dort, die Kladde auf den Knien, an der weiß gestrichenen Plattenbauwand, die an ein Billighotel erinnert und sich trotz der Hitze eigenartig klamm anfühlt. Ich habe mich inzwischen sogar meines Hemds entledigt, trage nur noch T-Shirt und Krawatte. Letztere sieht aus wie aus dem Wasser gezogen und ausgewrungen. Schwitzen ist zum Normalzustand geworden. Celebrity Cruises will uns damit offenbar sagen, dass wir nunmehr die Welt der unklimatisierten Wartesäle mit menschenverachtender Lüftung verlassen. Es ist 12:55 Uhr. Obwohl der Katalog versichert, man könne von 14:00 Uhr bis zum Auslaufen der Nadir um 16:30 Uhr an Bord gehen, sind alle 1.374 Passagiere bereits da, vielfach in Begleitung von Angehörigen und ganzen Verabschiedungskomitees.[659]

Dass der Anlass meiner Reise ein journalistischer ist, hat einen großen Vorteil: In den eher unschönen Momenten – wie jetzt in diesem Wartehangar – kann man sich auf die interessanten/verwertbaren Aspekte konzentrieren und muss nicht so leiden. Bei dieser Gelegenheit sehe ich zum ersten Mal den Jungen mit dem Toupet. Er fläzt sich präpubertär auf seinem Sitz und hat seine Füße auf einen Rattankorb gestellt, während seine Mom (vermute ich mal) nonstop auf ihn einredet. Sein Blick – wie jeder andere in der stagnativen Menge – sucht die Ferne. Sein Toupet ist zwar keines dieser scheußlichen, schwarz glänzenden Dinger, die dem Sportmoderator Howard Cosell einst seinen unverwechselbaren Haubentauchercharme verliehen, aber überzeugen kann es mich trotzdem nicht. Farblich eher im fuchsroten Bereich angesiedelt, hatte es die Geschmeidigkeit von Montageschaum und wäre, hätte man hineingegriffen, knisternd gebrochen, statt nur durcheinandergeraten. Die Leute der Engler Corporation sind am Eingang zu einem informellen Meeting zusammengetreten – was aus der Entfernung allerdings aussieht wie Rugbygedränge. Die Farbe der Sitze, beschließe ich, lässt sich am besten mit Wartesaalorange beschreiben. Mehrere Engler-Männer reden aufgeregt mit ihren Handys, während die Gattinnen stoisch geradeaus schauen. Ringsum in Leserhand entdecke ich – ungelogen – zwölfmal James Redfields spirituellen Reißer Die Prophezeiungen von Celestine. Der Hall zwischen den Glaswänden hat eine ähnlich albtraumhafte Qualität wie der experimentelle Kram der Beatles. An der Snackbar kostet ein normaler Schokoriegel 1,50 Dollar und eine Limo sogar noch mehr. Die Schlange vor der Herrentoilette hat sich mächtig in Richtung NW ausgedehnt und reicht nun fast bis an den Tisch von Steiner of London. Mehrere Hafenangestellte laufen mit Klemmbrettern herum – wozu, bleibt unklar. In der Menge sind einige junge Leute im Studentenalter, die alle komplexe Haarkreationen und dazu bereits Badelatschen tragen. Ein kleiner Junge ganz in der Nähe hat die gleiche Baseballkappe auf wie ich, nämlich – okay, ich geb’s zu – die Full-Color-Spiderman-Cap.[660]

Allein in meinem näheren Umkreis zähle ich über ein Dutzend verschiedene Kameramarken, die Camcorder nicht mitgerechnet.

Die Garderobe der Leute reicht von lockerer Businessmode bis hin zu tropischer Touristentracht. Ich bin so verschwitzt und zerzaust wie niemand sonst hier.[661] Von gesunder Seeluft ist auf Pier 21 nichts zu spüren. Zwei Engler-Bosse, ausgeschlossen vom betrieblichen Stelldichein im Eingangsbereich, sitzen zusammen am Ende der nächsten Reihe, haben beide das rechte Bein übergeschlagen und wippen unbewusst taktgleich mit dem Fuß. Es klingt, als hätte jedes Kleinkind in Hörweite eine große Opernkarriere vor sich. Alle Kinder, die auf dem Arm getragen werden, werden ausschließlich vom weiblichen Elternteil auf dem Arm getragen. Über 50 % der Handtaschen sind aus Weidenkorb oder Rattan. Sämtliche Frauen erwecken den Eindruck, als machten sie gerade eine Cosmopolitan-Diät. Der Altersdurchschnitt liegt um die 45.

Ein Hafenangestellter läuft mit einer Riesenrolle Kreppband vorbei. Seit 15 Minuten schrillt ohrenzerklingelnder Feueralarm, wird aber, da sich weder das englische Ansage-Luder noch die Leute mit den Klemmbrettern darum kümmern, von jedermann ignoriert. In dieses Inferno stößt, in zwei Fanfaren von fünfsekündiger Länge, die Basstuba der Hölle mit solch markerschütternder Autorität, dass Hemdschöße flattern und Gesichter zucken. Es ist das Signalhorn der S. S. Westerdam von Holland America, die im Begriff ist abzulegen und allen, die nicht mitfahren, letzte Gelegenheit gibt, von Bord zu gehen.

Bis es für die Nadir so weit ist, bleibt mir nur, mir den Schweiß von der Stirn zu wischen, mich umzuschauen und Eindrücke zu sammeln, Gespräche aufzuschnappen oder selber Small Talk zu machen. Mehr als die Hälfte der Passagiere, die ich anspreche, stammen aus Südflorida. Die besten Informationen und den meisten Spaß bekommt man hingegen, wenn man unauffällig ihren Unterhaltungen folgt, denn gequasselt wird überall in dem Wartehangar. Ein Großteil der Unterhaltungen dient der näheren Erklärung – nämlich warum es für den Betreffenden so wichtig gewesen sei, diese 7NC zu buchen. Es ist das große Thema in jeder Gesprächsrunde, und es liegt natürlich nahe, so, wie man im Aufenthaltsraum einer psychiatrischen Klinik ebenfalls nicht um die Frage herumkommt: »Und weswegen sind Sie hier?« Die Antworten sind in einem Punkt verblüffend gleich: Kein einziges Mal gibt jemand zu, er gehe auf diese 7NC-Luxuskreuzfahrt, weil er eben gern auf 7NC-Luxus-Kreuzfahrten gehe. Auch begründet niemand seinen Entschluss damit, dass Reisen bildet oder dass Parasailing etwas sei, für das er sonst was tun würde. Nicht einmal die Celebrity-Zauberformel vom uterinen Verwöhntwerden fällt, obwohl es den Gast im Katalog als feste Zu- und sichere Voraussage praktisch auf jeder Seite umschmeichelt. Nein, die Wörter, die immer wieder als Erklärung herhalten müssen, lauten ausspannen und relaxen. Ausnahmslos jede und jeder beschreibt die vor ihm liegende Woche entweder als wohlverdiente und längst überfällige Belohnung für irgendwelche Belastungen der vergangenen Wochen/Monate/Jahre oder aber als letzte Chance zum Aufladen irgendwelcher psychovegetativen Batterien oder gar als beides zusammen.[662] Viele der dargebotenen Erklärungen sind lang und kompliziert, teilweise mit unappetitlichen Details. Gleich zweimal treffe ich auf Leute, die soeben einen Angehörigen begraben haben – nach entsetzlich langer Leidenszeit und trotz intensiver Pflege bei ihnen zu Haus. Ein Blumengroßhändler mit einem MARLINS-T-Shirt erklärt, die Großkampfzeit zwischen Weihnachten und Valentinstag sei für seine geschundene Psyche nur auszuhalten gewesen, indem er sich selbst eine Erlösung in Form totaler Entspannung und Erneuerung in Aussicht gestellt habe. Drei Cops aus Newark, allesamt kürzlich pensioniert, hatten sich ehedem geschworen, eine Luxuskreuzfahrt zu unternehmen, falls sie zwanzig Dienstjahre überleben. Und ein Ehepaar aus Fort Lauderdale erzählt, ihre Freunde hätten sich schon über sie lustig gemacht, weil sie noch nie auf einer Kreuzfahrt gewesen seien, denn das wäre in etwa so wie ein New Yorker, der noch nie die Freiheitsstatue besucht hat.

Nebenbei: Nach eingehender Recherche ist es inzwischen amtlich. Ich bin definitiv der einzige erwachsene Passagier ohne Fotoausrüstung.

Und noch etwas: Unbemerkt hat die Westerdam ihre Nase aus dem Westfenster gefahren, ungehindert scheint jetzt eine brutale Sonne durch die verschmierte, wasserfleckige Glasfront. Der Hangar hat sich zur Hälfte geleert, Ruhe ist eingekehrt. In einem Schwung sind die Stückmengen 5 bis 7 aufgerufen. Zusammen mit der vereinigten Engler Corporation bewege ich mich in einem langen Treck in Richtung Passkontrolle und der dahinterliegenden Gangway von Deck 3.[663] Hier findet auch die – persönliche – Begrüßung statt, und zwar nicht durch eine, sondern gleich zwei sehr arisch anmutende Hostessen der Abteilung Hospitality. Über pflaumenblauen, weichen Teppichboden geht es ins Innere der Nadir, jedenfalls vermute ich das mal, wo mich eine sauerstoff- und dezent raumduftangereicherte Klimaanlagenatmosphäre umfängt. Wer will, kann vom Schiffsfotografen[664] noch ein Bild machen lassen, das später, gegen Ende der Reise, zu einer Art Vorher-nachher-Andenkenkarte vervollständigt wird und extra kostet. Hier begegnet mir auch zum ersten Mal eines dieser Schilder VORSICHT STUFE, von denen es an Bord unzählige gibt, denn der Deckboden eines Luxusliners ist eher eine Hindernisstrecke und ändert alle paar Meter sein Niveau, sodass es überall etwa 20 Zentimeter hohe Stufen zu bewältigen gilt. Aber das Gefühl, wenn die Aircondition-Kühle den Schweiß trocknet, ist angenehm und lässt mich in den plüschig-engen Korridoren, durch die ich geleitet werde, schnell vergessen, wie laut glührot angelaufene Babys plärren können. Eine der beiden Hospitality-Hostessen trägt offenbar einen orthopädischen Schuh, jedenfalls zieht sie den rechten Fuß leicht nach, ein Detail, das mich in diesem Moment tief berührt.

Schier endlos ist der Weg, den die Hospitality-Hostessen Inga und Geli mit mir zurücklegen. Es geht hinauf und hinab, vor und zurück, durch Schotts und enge Gänge, alle mit Handläufen versehen und dabei so niedrig, dass ich die kleinen runden Lautsprecher in der beige lackierten Decke mit dem Ellbogen berühren kann. Und während von oben gefälliger Jazz auf mich herabrieselt, verändert sich auch die quälende, während der dreistündigen Wartezeit so ausgiebig erörterte Frage nach dem Grund dieser Reise insofern, als sie von der Bordrealität glatt übergangen wird. Denn hieß es bisher »Und warum sind Sie hier?«, so trifft man jetzt an jeder Ecke auf einen Lageplan mit einem lustigen roten Punkt, der sagt SIE SIND HIER. Weitere Fragen erübrigen sich. Vorbei die Zeit der langen Erklärungen, der Zweifel und des schlechten Gewissens, denn diese werden am Empfang abgegeben. Von nun an agieren die Profis.

Der Aufzug ist ganz aus Glas und gleitet geräuschlos in die Höhe, und die Hostessen lächeln hold, schauen unverbindlich lieb und duften in der gekühlten Zelle um die Wette.

Als wir an der teakverkleideten Shoppingzeile des Schiffs vorbeikommen (das Übliche: Gucci, Waterford, Wedgewood, Rolex und Raymond Weil), knistert durch die Jazzmusik ein dreisprachiges Welcome und Willkommen an Bord, versehen mit der Ankündigung, dass eine Stunde nach Ablegen eine für alle verbindliche Evakuierungsübung stattfindet.

Um 15:15 Uhr bin ich in Kabine 1009 der Nadir fest implementiert und mache mich erst mal über den Gratisobstkorb her. Dann lege ich mich auf das wirklich sehr bequeme Bett und trommle mit den Fingern auf meinem anschwellenden Bauch herum.

6

Um 16:30 Uhr legt die Nadir ab, ein hübsches Schauspiel mit flatternden Kreppgirlanden und Sirenengetute. Jedes Deck verfügt über eine eigene Promenade mit einer Reling aus irgendeinem hochwertigen Hartholz. Der Himmel hat sich bezogen, und das Meer unten schäumt und gibt farblich wenig her usw. Es riecht eigentlich weniger nach Fisch oder Meer als einfach nur nach Salz. Unser Signalhorn blökt noch um einiges lauter als das der Westerdam. Die meisten Leute, die uns zuwinken, tun dies von der Reling anderer 7NC-Megaschiffe aus, die ebenfalls in diesem Moment in See stechen – eine beinahe surreale Szene, denn die Vorstellung liegt nahe, dass es endlos so weitergehen könnte und wir uns die ganze Zeit in der Westkaribik von Schiff zu Schiff zuwinken werden. An- und Ablegen sind praktisch die einzigen Gelegenheiten, an denen der Kapitän persönlich das Schiff steuert. Kapitän G. Panagiotakis hat die Nadir unterdessen gegen die offene See gedreht, und wir, groß, weiß und sauber, nehmen Fahrt auf.

7

Während der ersten beiden Tage herrscht schlechtes Wetter mit Sturmböen, schwerer See und Gischt[665], die gegen das Bullauge meiner Kabine peitscht usw. Mehr als vierzig Stunden lang habe ich den Eindruck, ich hätte einen Nordseetörn gebucht. Das Celebrity-Personal reagiert mitfühlend-bedauernd, doch in keiner Weise so, als sei hier eine Entschuldigung fällig.[666] Was okay ist, denn man kann Celebrity Cruises fairerweise nicht für das Wetter haftbar machen.[667]

An Sturmtagen wie diesen rät man den Passagieren, die Aussicht aufs Meer von der Leeseite aus zu genießen. Dem einen Gleichgesinnten, der sich wie ich auf die Luvseite wagt, bläst es prompt die Brille weg. Auf meine Empfehlung, bei starkem Wind nur Brillen mit Sportbügeln zu tragen, reagiert er eher ungnädig. Die Erwartung, Matrosen im traditionellen gelben Ölzeug zu sehen, erfüllt sich übrigens nicht. Mein Lieblingsausguck ist auf Deck 10, also schon ganz schön weit oben, sodass die gegen die Bordwand krachenden Brecher im allgemeinen Meeresrauschen untergehen. Optisch erinnert das Ganze an die Wasserspülung im Klo. Keine Rückenflosse weit und breit.

Bei Sturm haben Hypochonder generell gut zu tun, denn etwa alle fünf Sekunden augurieren sie aus ihren Eingeweiden zumindest erste Anzeichen einer beginnenden Seekrankheit oder bestimmen, je nachdem, deren aktuellen Schweregrad. In puncto Nausea verhält es sich jedoch wie vor der ersten Schlacht: Niemand vermag vorherzusagen, wie man genau reagieren wird, es ist eine Probe auf tiefenschichtliche Abläufe. Ich persönlich bleibe von Seekrankheit verschont, was ein halbes Wunder ist, wenn man bedenkt, dass ich so ziemlich unter jeder anderen Form Reisekrankheit leide, die in den einschlägigen Medikamentenführern überhaupt erwähnt wird, ohne dass ich irgendetwas dagegen einnehmen könnte.[668] Ein Rätsel war mir am ersten Tag des Sturms, warum jeder zweite Passagier sich beim Rasieren an derselben Stelle unterhalb des linken Ohrs geschnitten hatte (die Frauen übrigens auch). Bis sich herausstellte: Die kleinen runden Klebedinger waren Wirkstoffpflaster, ohne die kein richtiger Kreuzfahrer je an Bord eines 7NC-Luxusliners gehen würde.

Pflaster hin oder her, einem Großteil der Gäste war an diesen beiden Tagen sterbenselend. Was mich überraschte, war lediglich, dass der seekranke Mensch tatsächlich grün anläuft, obwohl es eher ein gespenstisches Grün ist, ein blässliches, hässliches Krötenschluckergrün, welches dem seekranken Menschen insbesondere in Kombination mit großer Abendgarderobe leicht etwas Leichenhaftes verleiht.

Seekrankheit war folglich auch das alles beherrschende Thema an Tisch 64 in unserem Fünf-Sterne-Caravelle-Restaurant[669] – wer sie hat und wer nicht, und wer sie zwar gehabt hat, aber jetzt darüber hinweg ist oder zumindest beschwerdefrei, doch ihre Wiederkehr befürchtet. Gemeinsames Leid oder die Angst davor ist ein hervorragender Eisbrecher. Die Menschen rücken zusammen, und das ist wichtig, denn während der gesamten 7NC isst man ständig am selben Tisch mit denselben Leuten zusammen.[670] Jedenfalls waren Gespräche über Übelkeit und Erbrechen in diesem Gourmettempel überhaupt kein Tabu.

Zwar wird man bei schwerem Seegang in einem 7NC-Megaship nicht wild hin und her geschleudert, und auch Suppenteller rutschen nicht unkontrolliert über den Tisch. Und doch merkt man auf Schritt und Tritt, dass einem der Boden unter den Füßen nicht denselben Halt gewährt wie festes Land. Ein unwirkliches Gefühl ist das, ein Boden wie in 3-D, der erhöhte Aufmerksamkeit erfordert. Ähnlich wie das Maschinengeräusch praktisch nicht zu hören und doch ständig gegenwärtig ist. Vor allem im Stehen ist es körperlich spürbar – als dumpfer, seltsam beruhigender Herzschlag.

Herumlaufen auf so einem Schiff ist bei Sturm ebenfalls ein surreales Erlebnis. Dauernd gerät irgendetwas aus dem Lot. Kommen die Wellen von vorn, wippt das Schiff über seine Querachse. Diesen Vorgang nennt man Stampfen. Subjektiv hat man den Eindruck, als ginge es erst leicht bergab, dann ein Weilchen einfach geradeaus, schließlich wieder leicht bergauf. Doch irgendein entwicklungsgeschichtlich uralter Abschnitt unseres ZNS, Vermächtnis aus Reptilienzeiten, muss dafür verantwortlich sein, dass wir diese Bewegung kaum realisieren, sondern gehen wie im Traum.

Beim Rollen dagegen treffen die Wellen seitlich auf das Schiff und führen zu einer Schaukelbewegung auf der Längsachse.[671] Wenn die Nadir rollt, wird unversehens ein Bein stärker belastet als das andere, bis sich, nach einer Phase der Ausgeglichenheit, die Bewegungsrichtung ändert und die Muskeln des bisher unbeanspruchten Beins stärker belastet werden. Das Rollen vollzieht sich mit der Geschwindigkeit eines sehr schweren Pendels, die man fast nicht wahrnimmt, wenn man nicht alle inneren Sensoren darauf einstellt.

Das Rollen an sich ist also im Allgemeinen halb so schlimm, doch wird die Nadir ab und zu von einem Brecher der Höllenfahrt-der-Poseidon-Dimension erwischt. Dann nimmt die einseitige Belastung eines Beins so weit zu, wird der ersehnte Lastwechsel gleichzeitig so unwahrscheinlich, dass man nach allem greift, was irgendwie erreichbar ist, nur um nicht umzufallen.[672] Das alles geschieht sehr schnell und nie zweimal hintereinander. Der erste Abend bietet wellenmäßig einige heftige Angriffe von steuerbord, sodass später im Kasino kaum festzustellen ist, wer übermäßig dem 71er Richebourg zugesprochen hat und wer lediglich seegangsbedingt durch den Saal torkelt. Bedenkt man dazu, dass die meisten Frauen Stöckelschuhe tragen, wird die Einzigartigkeit der Szene vielleicht deutlicher: Mehr Wanken/Schwanken und hilfloses In-der-Luft-Rudern war nie. Da die Nadir hauptsächlich von Pärchen frequentiert wird, klammert man sich aneinander wie in jungen Jahren an die erste Collegeliebe. Man sieht den Leuten an, dass ihnen das gefällt. Die Frauen hängen sich den Männern an den Hals, und die Männer gewinnen im Gegenzug an Statur. Sie dürfen einen auf Beschützer machen und kommen sich toll vor. Immer wieder bietet eine 7NC-Luxuskreuzfahrt diese unerwartet romantischen Momente, was mit ein Grund sein dürfte, warum sie gerade von älteren Menschen so geschätzt werden.

Darüber hinaus ist schweres Wetter auf See eine ideale Einschlafhilfe. An den ersten beiden Morgen sieht man kaum jemanden beim ersten Frühstück. Alles schläft. Leute mit therapieresistenten Schlafstörungen berichten von neun-, sogar zehnstündigen Tiefschlafphasen, und ihre Augen leuchten kindlich ob so viel Glück. Wer viel schläft, sieht einfach jünger aus. Auch tagsüber wird hemmungslos geratzt. Nach einer Woche mit den unterschiedlichsten Wetterlagen war mir klar, was es mit Sturm und erholsamem Schlummer auf sich hat: Die Wellen wiegen einen in den Schlaf. Geborgen hinter gischtgepeitschten Kabinenfenstern fühlt man den fernen Rhythmus der Schiffsmaschinen wie den Herzschlag einer Mutter.

8

Sagte ich eigentlich schon, dass der bekannte Schriftsteller und Iowa-Writers-Workshop-Vorstand Frank Conroy im Katalog von Celebrity eine Art Erfahrungsbericht geschrieben hat? Doch, hat er. Conroy reiste mit Familie, und die erste Szene versetzt uns wieder an die Gangway von Pier 21.[673]

Mit einem einzigen kleinen Schritt betraten wir eine neue Welt, einen Gegenentwurf zur Wirklichkeit an Land. Ein Lächeln, ein Handschlag, und schon werden wir von der netten jungen Frau von Guest Relations zu unserer Kabine begleitet.

Später an der Reling, die Nadir läuft soeben aus:

… merkten wir auf einmal, dass sich das Schiff bewegte. Nichts hatte uns darauf vorbereitet, kein zitterndes Deck, kein Stampfen der Maschinen.

Es war, als zöge sich wie von Zauberhand das Land zurück, einem endlos langen Rückzoom im Film gleich.

Und in diesem Stil geht es weiter in Conroys »Meine Celebrity-Kreuzfahrt oder: ›Ich und du und ein Schiff dazu‹«. Die tiefere Bedeutung des Essays ging mir jedoch erst bei erneuter Lektüre auf, im Liegestuhl auf Deck 12, an unserem ersten Sonnentag. Nein, wirklich, das Ganze ist nicht ohne Eleganz und Leichtigkeit geschrieben, formschön sozusagen und mit dem vollen Verwöhnaroma. Und doch, behaupte ich mal, ist es zugleich ein zutiefst sinistres, verstörendes, geradezu übles Werk. Das Üble darin besteht nicht so sehr in der ostinaten Beschwörung einer anderen, fantastischen Wirklichkeit und der palliativen Wirkung totaler Betüddelung –

Nach zwei Monaten intensiver und nicht ganz stressfreier Arbeit befand ich mich plötzlich auf diesem Schiff, und alles schien nunmehr wie eine ferne Erinnerung.

 

Mit Erstaunen stellte ich fest, dass ich seit einer Woche keinen Teller mehr abgewaschen hatte, dass ich weder gekocht noch im Supermarkt eingekauft noch sonst etwas getan hatte, was auch nur ein Minimum an Mühe verlangte. Die schwerste Entscheidung, die ich zu fällen hatte, war, ob ich mir im Bordkino Mrs. Doubtfire anschauen oder lieber Bingo spielen sollte.

–, das Übel besteht auch nicht in der inflationären Verwendung schönfärberischer Adjektive oder in der Zurschaustellung naiver Begeisterung:

Denn alles, was wir uns jemals erträumt oder erhofft hatten, wurde, um es vorsichtig auszudrücken, weit übertroffen.

 

Und was den Service angeht, so ist man bei Celebrity Cruises willens und in der Lage, selbst das Unmögliche zu leisten.

 

Strahlender Sonnenschein, warme, samtweiche Luft und das glitzernde Grünblau der Karibik unter der Lapislazulikuppel des Himmels …

 

Die Ausbildung dieser Leute muss rigoros gewesen sein, denn ich muss gestehen, der Service ließ wirklich keine Wünsche offen. Angefangen beim Kabinensteward bis hin zum Sommelier, vom Kellner bis zum Guest-Relations-Manager, vom einfachen Matrosen, der seine Arbeit unterbricht, um dir einen Liegestuhl zu holen, bis zum Maat, der dir den Weg zur Bibliothek zeigt: Ein professionellerer und kultivierterer Umgang mit den Passagieren ist einfach nicht denkbar, und ich möchte bezweifeln, dass es auf dieser Welt allzu viele Linien gibt, die diesen Standard auch nur annähernd erreichen.

Nein, das Übel dieses Essays beruht auf der Art, wie er, im Einklang mit der allgemeinen »Sale-to-sail«-Werbestrategie von Celebrity, nicht nur die Wahrnehmung des Gastes steuert, sondern auch Interpretation sowie Artikulation dieser Wahrnehmung. Anders ausgedrückt, die PR-Leute von Celebrity schnappen sich einen der angesehensten Schriftsteller des Landes, und der schreibt vor, worin für das Fußvolk der Kreuzfahrt jene sogenannte 7NC-Experience bestehen soll. Und er tut das so sprachmächtig und zwingend, dass dem Laien die Worte wegbleiben. Zweifel sind angebracht, ob es auf dieser Welt allzu viele Laien gibt, die diesen Standard an Beobachtungsgabe und Artikulationsfähigkeit auch nur annähernd erreichen.[674]

Das Hauptübel des Projekts »Meine Celebrity-Kreuzfahrt« ist seine Scheinheiligkeit. Wie dreist hier Product-Placement betrieben wird, zersetzt jede literarische Seriosität und übertrifft in dieser Hinsicht alles, was man in den vergangenen Jahren erleben musste. Conroys »Essay« erscheint in einer Art Sonderteil in der Mitte des Hefts, auf dünnerem Papier und mit einem anderen Layout, und erweckt dadurch den Eindruck eines Auszugs aus einem eigenständigen literarischen Werk. Doch das ist keineswegs der Fall. Tatsächlich handelt es sich um eine reine Auftragsarbeit, bezahlt von Celebrity, nur wird das nirgendwo erwähnt.[675] Wann immer irgendwelche Promis im Fernsehen ihren Namen und ihr Gesicht für Infomercials hergeben, erscheint wenigstens das Wort »Dauerwerbesendung« am Bildrand. Nicht so hier. Der Celebrity-Katalog präsentiert uns das typische Autorenfoto (mit einem versonnenen Frank Conroy im Rollkragenpullover), eine Kurzbiografie sowie eine Liste der Conroy-Klassiker, darunter das 1967 erschienene Stop-Time, das meiner unmaßgeblichen Meinung nach zu den besten literarischen Memoiren des zwanzigsten Jahrhunderts zählt – und zu den Büchern, die seinerzeit mit schuld daran waren, dass ich selber Schriftsteller werden wollte.

Kurz, Celebrity Cruises verkauft uns Conroys Reisebericht als Essay und nicht als Werbung. Dies jedoch ist von Übel. Warum? Weil ein Essay, unabhängig von der darin zum Ausdruck gebrachten Wertung des Celebrity-Produkts, eben zuallererst dem Leser verpflichtet ist und nicht dem Auftraggeber. Und ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, der Leser verlässt sich auf diese Selbstverpflichtung des Autors und begegnet dem Essay mit einem hohen Grad an Vertrauen. Werbung funktioniert dagegen völlig anders. Werbung hat sich, was ihren Wahrheitsgehalt angeht, nur an bestimmte formaljuristische und mit etwas rhetorischem Geschick leicht zu umgehende Regeln zu halten – und kennt darüber hinaus nur ein einziges Ziel: Umsatzsteigerung. Ganz gleich, was die Werbung zur Ergötzung des Lesers alles inszeniert, es geschieht nie zu dessen Nutzen. Und der Leser weiß das natürlich, er weiß, dass der Unterhaltungswert von Werbung einem Geschäftskalkül folgt, und wird ihr entsprechend mit Vorsicht begegnen. Wir alle nehmen Werbung gewissermaßen nur gefiltert wahr.[676]

Im Fall des Conroy-»Essays« setzt Celebrity Cruises[677] alles daran, diesen Filter durch den Kunstanspruch des Textes zu deaktivieren. Doch Werbung, die vorgibt, Kunst zu sein, gleicht im günstigsten Fall dem gewinnenden Lächeln dessen, der etwas von einem will. Das ist nicht nur unaufrichtig, die dubiose Ausstrahlung solcher Erzeugnisse kann sich in uns anreichern wie ein Umweltgift. Die aus Berechnung unternommene Simulation zweckfreier Freundlichkeit bringt langfristig alle unsere Maßstäbe durcheinander und führt dazu, dass irgendwann auch das echte Lächeln, die genuine Kunst, die wahre Freundlichkeit unter Kommerzverdacht stehen. Andauernder Vertrauensbruch macht ratlos und einsam, hilflos und wütend und ängstlich. Er ist die Ursache von Verzweiflung.[678]

Für 7NC-Konsumenten wie mich enthält Conroys Werbeessay jedenfalls eine tiefe, wenngleich völlig unbeabsichtigte Wahrheit. Im Lauf der Woche sah ich darin immer mehr eine Satire auf die Realität des normalen Kreuzfahrttourismus. Der Essay ist gediegen und beeindruckt durch seine Kraft, mehr ist für Geld nicht zu haben. Er präsentiert sich als mein guter Freund, steuert dabei meine gesamte Wahrnehmung, sortiert jeden Eindruck vor. Er nimmt mich an die Hand. Aber gut meint er es dennoch nicht, denn er will etwas von mir. Genauso wie die Kreuzfahrt selbst. Die hübsche Umgebung, das blitzblanke Schiff, die schnieke Besatzung ebenso wie die unermüdlichen Serviceknechte oder der beflissene Fun-Manager, sie alle wollen etwas von mir, und das ist nicht allein das Geld für die Buchung – das haben sie bereits. Was genau sie von mir wollen, ist schwer festzumachen, aber ich spüre, wie es stärker wird: Es umkreist das Schiff wie eine Rückenflosse.

9

Dennoch bleibt festzuhalten: Der Luxus, der einem in dem teuflischen Katalog in Aussicht gestellt wird, ist weder gelogen noch übertrieben, es gibt ihn wirklich. Als Journalist stehe ich jetzt vor dem Problem: Wie viele Beispiele von Luxus brauche ich, um dem Leser eine Vorstellung vom wahnwitzigen Ausmaß der Verwöhnmaschine namens Nadir zu geben?

Wie wär’s mit einem Beispiel von meinem Anreisetag, Samstag, dem 11. März? Die Nadir ist soeben ausgelaufen, das Schmuddelwetter noch nicht da. Ich will hinaus auf Deck 10/Backbord, um mir ein bisschen das Meer anzuschauen, benötige dazu aber meine Zinkoxidsalbe[679] (für meine sonnenbrandanfällige Nase). Die Zinkoxidsalbe ist aber in meiner großen Reisetasche, und die liegt zu diesem Zeitpunkt noch in dem kleinen Bereich zwischen Vorschiffaufzug und Vorschifftreppe, wo klein gewachsene Männer in blauen Celebrity-Overalls, dem Aussehen nach allesamt Libanesen, die Gepäckanhänger mit der Stückmengennummer auf der Passagierliste abgleichen und den Weitertransport von Koffern und Taschen bis in die jeweiligen Kabinen abwickeln.

Arglos steuere ich auf den Gepäckbereich zu, entdecke meine Tasche und will sie eigentlich nur aus dem Riesenstapel aus Nylon und Leder klauben, um sie kurzerhand in meine Kabine 1009 zu verfrachten und dort nach meiner guten alten Zinkoxidsalbe zu durchwühlen. Dies bemerkt einer der Gepäckträger, lässt augenblicklich die vier monströsen Bagageteile fallen, unter denen er gerade ächzt, und will mir zuvorkommen. Erst denke ich, er hält mich für einen Kofferklauer und verlangt mindestens meinen Gepäckschein zu sehen. Es stellt sich aber schnell heraus, dass er mir meine Reisetasche auf die Kabine schleppen will. Ich, der (genauso wie meine Reisetasche) immerhin eine ganze Ecke größer ist als dieser kleine, gestresste Kerl, lege vorsichtig Widerspruch ein, sage: »Hey, kein Problem, das mach ich schon. Ich will nur an meine ZnO-Salbe.« Gebe auch zu bedenken, dass mir nicht entgangen ist, dass hier alles nach einem gut durchorganisierten Verteilungssystem abläuft. Erkläre, dass ich nicht will, dass meinetwegen eine Tasche aus Stückmenge #7 eher dran ist als eine von #2. Also: »Lassen Sie mal gut sein.« Ich will nur meine alte, schwere, vergammelte Tasche. Hat er also dann keine Arbeit mehr damit, und so ist jedem geholfen.

Die darauffolgende Auseinandersetzung (ich gegen den libanesischen Gepäckträger) hat eine kafkaeske Dimension, denn ich merke gar nicht, in welche Lage ich den Mann bringe, der kaum Englisch spricht und in diesem Moment tatsächlich zwischen zwei paradoxen Forderungen der Celebrity-Servicephilosophie zerrissen wird, nämlich (a) Der Gast hat immer recht; und (b) Kein Gast muss/darf sein Gepäck selber tragen. Aber wie gesagt, im fraglichen Augenblick habe ich keine Ahnung, was der Libanese durchmacht, sondern interpretiere sowohl sein Geschrei als auch die angstverzerrte Miene lediglich als übertriebenen Eifer, schnappe mir ohne viel Federlesens die Tasche und schleife sie durch den Korridor zu Kabine 1009. Dort angekommen, bestreiche ich meinen gefährdeten Zinken mit ZnO, ehe es hinausgeht an Deck, wo sich Floridas Küstenlinie langsam – und dank F. Conroy quasi kinematografisch – ins Nichts zoomt.

Erst später wurde mir klar, was ich getan hatte. Erst später erfuhr ich, dass dem kleinen libanesischen Gepäckträger von Deck 10 der Kopf abgerissen wurde, und zwar durch den (ebenfalls libanesischen) Obergepäckträger von Deck 10, welcher seinerseits den Kopf abgerissen bekam vom österreichischen Chefsteward, der über die üblichen Kanäle Meldung erhalten hatte, dass ein Passagier von Deck 10 beim Gepäckschleppen gesichtet worden sei, und selbige Meldung vorschriftgemäß an den Diensthabenden von Guest-Relations weitergeleitet hatte. Dieser, ein griechischer Offizier mit Revo-Sonnenbrille und Walkie-Talkie, begab sich noch am selben Abend zu Kabine 1009, um sich im Namen der gesamten Chandris-Flotte für den Skandal zu entschuldigen, verbunden mit der Zusicherung, dass als Sühne für eine eigenhändig getragene Tasche bereits diverse Köpfe der libanesischen Hungerleider übers Unterdeck rollten. Obwohl das Englisch des griechischen Offiziers in mancher Hinsicht besser war als meines, benötigte ich geschlagene zehn Minuten, um ihm das tragische Dilemma zu verdeutlichen, in das ich den Gepäckträger durch meinen Eigensinn gebracht hatte, wobei ich ihm die Ursache der ganzen Scheißsituation, die Tube ZnO, mehrfach vor die Nase hielt. Zumindest rang ich ihm das Versprechen ab, dass die losen Köpfe wieder angenäht und Personalakten gesäubert würden, ehe ich ihn halbwegs guten Gewissens gehen ließ.[680] Tatsächlich hatten mich die Hintergründe des Vorfalls derart verstört, dass ich darüber fast eine ganze Mead-Kladde vollschrieb – wovon an dieser Stelle nur die baren Fakten übrig geblieben sind.

Denn wohin man auf der Nadir auch schaut, überall äußert sich jene verbissene Entschlossenheit, den Gast auf eine Weise zu verhätscheln, die weiter geht als alles, was er vernünftigerweise noch erwarten kann.[681] Einige wahllos herausgegriffene Beispiele: In meiner Kabine befinden sich massenweise Handtücher, dicke flauschige Handtücher. Aber wenn ich mich auf dem Oberdeck in die Sonne legen will[682], muss ich nicht etwa ein Handtuch aus der Kabine mitnehmen, sondern kann mir oben eines von einem Wagen nehmen – mit noch dickeren, noch flauschigeren Handtüchern. Die Handtuchwagen sind in bequemen Abständen entlang der Liegestuhlreihen postiert. Die Liegestühle selbst sind echte Wunderwerke, voll verstellbar mit ihrem Stahlrahmen, stabil genug selbst für dickleibigste Sonnenhungrige, dabei von narkoleptischer Bequemlichkeit durch das spezielle Material der Bespannung, das die Festigkeit und die guten Trocknungseigenschaften von Leinen mit der Weichheit und Absorptionsfähigkeit von Baumwolle verbindet. Die genaue Zusammensetzung des Tuchs bleibt mir bis heute ein Rätsel, aber es stellt im Vergleich zu dem Plastikzeugs, auf das man sich in öffentlichen Badeanstalten zu lagern hat und das bei jeder Bewegung des schweißnassen Körpers pupsende Geräusche von sich gibt, einen echten Fortschritt dar. Weiterer Vorteil: Das Material hat nicht diese streifige oder gitternetzartige Struktur, sondern spannt sich faltenfrei und plan über den Rahmen, weshalb hässliche Grillmuster auf der Haut der Vergangenheit angehören. Ach ja, und jede Handtuchstation verfügt selbstverständlich über ihre eigene Handtuchfachkraft, sodass man nach erfolgter beidseitiger Bräunung das Handtuch nicht einmal entsorgen muss, weil nämlich, sobald man seinen Hintern aus dem Liegestuhl schwingt, gleich der Handtuchmann erscheint. (Manche von ihnen sind echte Overperformer und tun des Guten auch mal zu viel. Wenn man beispielsweise nur einen Moment lang aufgestanden ist, um frisches ZnO aufzulegen oder an der Reling die Aussicht zu genießen, so verschwindet nicht nur das Handtuch im Wäschesack, auch der Liegestuhl befindet sich wieder in seiner regulären 45°-Ausgangsposition. Folge: Man muss den Liegestuhl neu einstellen und sich am Handtuchwagen ein frisches flauschiges Handtuch holen, die zugegebenermaßen in ausreichender Menge zur Verfügung stehen.)

Der Kellner[683] im Fünf-Sterne-Caravelle-Restaurant bringt einem nicht nur z. B. den Hummer[684] (oder auch zwei oder drei, wenn man mag, und das in metamphetaminimaler Rekordzeit), nein, mit Gabel und edelstahlglänzender Hummerzange beugt er sich über den Gast[685], legt fachgerecht das Krustentier aus der Schale frei und erledigt damit diskret den ekligen Teil, der zugleich das einzig Schwierige am Hummeressen ist.

Im Windsurf Café auf Deck 11, direkt an den Swimmingpools, gibt es mittags ein Lunchbuffet, aber ohne die übliche Schlange, die einem sonst den Cafeteriabesuch so verleidet. 73 verschiedene Gerichte stehen zur Auswahl, und der Kaffee ist unglaublich gut. Und wenn man Sachen dabeihat (z. B. Mead-Kladden) oder sich einfach zu viel aufs Tablett geladen hat, dann taucht ein Kellner auf, der einem das Tablett abnimmt und an den Tisch trägt. Denn obwohl es sich hier eindeutig um eine Cafeteria handelt, sind die Kellner in ihren weißen Stehkragenjacken nie fern. Die weiße Serviette über dem angewinkelten Arm (der dadurch wie verdorrt oder gebrochen aussieht), halten sie sich dezent im Hintergrund, vermeiden den direkten Augenkontakt und sind dennoch ständig für den Gast da. Pflaumenblau livrierte Sommeliers machen die Runde, um zu sehen, ob jemand etwas anderes trinken will, als an der Theke angeboten wird. Und über all die Kellner, Sommeliers und kochbemützten Buffetkräfte wachen Maîtres und Supervisoren, damit sichergestellt ist, dass der Gast keinen Handschlag tut, den Celebrity einem nicht abnehmen könnte.[686]

Jeder Quadratmeter auf der Nadir, der nicht aus Stahl oder Glas oder Parkett oder edlem Paneelholz besteht, ist mit blauem Teppich ausgelegt, in Florrichtung gestriegelt, auf dem selbst das kleinste Fusselchen keine Überlebenschance hat, weil die Putzkolonnen mit ihren blauen Overalls und den Siemens-Turbosaugern stets schneller sind. Die Aufzüge bestehen aus Panzerglas, Messing und Stahl und irgendeinem Woodgrain-geprägten Material, das für echtes Holz etwas zu sehr glänzt, sich aber, wenn man dagegenklopft, verdammt wie Holz anhört.[687] Aufzüge und Treppen zwischen den Decks[688] sind das Objekt analretentiver Bemühungen einer hoch spezialisierten Aufzug-und-Treppen-Reinigungs-Brigade.[689], [690]

Aber wir wollen den Room-Service nicht vergessen, der auf einer 7NC-Luxus-Kreuzfahrt natürlich Cabin-Service heißt. Den Kabinenservice gibt’s zusätzlich zu den elf anderen Möglichkeiten, sich über den Tag verteilt den Magen vollzuschlagen, und es gibt diesen Service rund um die Uhr, und er ist kostenlos. Man braucht nur X72 auf dem Telefon am Bett zu wählen, und zehn bis fünfzehn Minuten später kommt jemand, der garantiert kein Trinkgeld will, mit einem Tablett voller feiner Sachen wie:

Thinly Sliced Ham and Swiss Cheese

on White Bread with Dijon Mustard

oder:

The Combo: Cajun Chicken with Pasta Salad

and Spicy Salsa

und so weiter und so weiter. Die Speisekarte in der Service-Broschüre füllt eine ganze Seite, und ich schwöre, selbst diese – vergleichsweise – schlichten Mahlzeiten kann man gar nicht genug hervorheben. Als tendenzieller Agoraphobiker, der gerne mal einen ganzen Tag in der Kabine verbringt, habe ich mich binnen kürzester Zeit (und nicht ohne Schuldgefühle) vom Cabin-Service abhängig gemacht. Seit ich am Montagabend in der Service-Broschüre darauf gestoßen bin, gönne ich mir allabendlich diese Extraportion Luxus – am liebsten sogar zweimal, um ehrlich zu sein. Trotzdem ist es mir jedes Mal peinlich, die X72 zu wählen, um mir, nach den elf Tafelgelegenheiten am Tag[691], noch zusätzliche Kost herankarren zu lassen. Und weil es mir so peinlich ist, verteile ich alle meine Arbeitsmaterialien wie Hefte, Kladden, Stifte und den Fielding’s Guide to Worldwide Cruising usw. möglichst effektiv auf dem Bett, um dem Zimmerkellner dadurch zu signalisieren, die Kabine sei in Wahrheit ein Arbeitsplatz und Ort fieberhaften Feilens an den höchsten Gipfeln der Literatur, weswegen ich eben jede Mahlzeit vergessen und also guten Grund habe, mir etwas kommen zu lassen.[692]

 

Demnach kann also auch Verwöhntwerden Stress bedeuten. Im Extremfall sogar so sehr, dass man anfängt zu spinnen. Denn Verliebtheit in die rehäugige Petra hin oder her, Tatsache ist, dass ich meinen liebreizenden Kabinensteward kaum zu Gesicht bekomme. Dass sie hingegen mich sieht, dafür gibt es starke Anhaltspunkte. Denn immer, wenn ich Kabine 1009 für mehr als eine halbe Stunde verlasse, ist nachher klar Schiff gemacht, sind die Handtücher ausgewechselt, die Flächen gewischt, glänzt das Bad wie neu. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: In gewisser Hinsicht finde ich das toll. Ich bin nämlich in meinem unmittelbaren Lebensumfeld ein echter Schlunz, und verbringe darüber hinaus, abgesehen von kleinen Ausflügen an Deck[693], viel Zeit in 1009. Dort sitze ich auf dem Bett, schreibe und futtere nebenher den Obstkorb leer, und dementsprechend sieht dann das Bett aus. Aber jedes Mal, nachdem ich kurz weg gewesen bin, ist das Bett frisch gemacht, die Decke straff untergeschlagen, und auf dem Kissen liegt eines von diesen hauchdünnen Pfefferminztäfelchen in Zartbitterschokolade.[694]

 

Also noch einmal: Das mysteriöse, unsichtbare Aufräumkommando an Bord ist definitiv eine tolle Sache – der Traum jedes schlunzigen Menschen, dass jemand kommt, das Zimmer entschlunzt und sich danach in Luft auflöst. Es ist wie früher bei Muttern, nur dass man kein schlechtes Gewissen zu haben braucht. Die unguten Gefühle kommen vielmehr durch die Hintertür, wenn einen nämlich jene unbehagliche Mixtur aus Schuld und Nervosität ergreift, die ich – zumindest in meinem Fall – als Verwöhnparanoia ausgemacht habe.

 

Denn bereits nach wenigen Tagen des unsichtbaren Reinemachens frage ich mich, woher Petra, meine Sauberfee, eigentlich weiß, wann ich mich in meiner Kabine aufhalte und wann nicht. Jetzt fällt mir auch auf, wie selten ich sie sehe. Eine Zeit lang stelle ich ihr regelrecht nach, reiße etwa die Tür auf und laufe in den Flur von Deck 10, um Petra dabei zu überraschen, wie sie, womöglich unauffällig aus dem Hintergrund, An- und Abwesenheit der Passagiere überwacht. Decken und Wände des Korridors suche ich nach verborgenen Videokameras ab, mit deren Hilfe sich Bewegungsprofile erstellen ließen – alles ohne Erfolg. Noch rätselhafter und beunruhigender wurde die Sache, als ich bemerkte, dass meine Kabine nur dann gereinigt wurde, wenn ich länger als eine halbe Stunde fort war. Jetzt mal im Ernst: Woher weiß Petra oder irgendein Dienstleiter, wie lange ich nicht da sein werde? Bei meinem nächsten Versuch räume ich Kabine 1009 jeweils nur für 10 bis 15 Minuten, um Petra gewissermaßen auf frischer Tat zu ertappen, aber Fehlanzeige. Dann hinterlasse ich alles in einem fürchterlichen Chaos, verstecke mich auf einem der unteren Decks und bleibe exakt 29 Minuten weg. Wiederum: keine Petra, bloß Chaos. Hingegen: Bei absolut gleicher Versuchsanordnung, aber 31-minütiger Abwesenheit finde ich meine Kabine blitzblank vor, sogar mit Pfefferminztäfelchen auf dem frisch bezogenen Kopfkissen. Von Petra allerdings keine Spur. Dabei achte ich bei meinen Gängen auf jedes noch so kleine Detail (Videokameras, Bewegungsmelder), das erklären könnte, woher die andere Seite so viel über mich weiß.[695] Alles, was ich habe, ist eine Theorie – wonach jedem Passagier eine Art Bewacher zugeteilt ist, der ihn keinen Schritt aus den Augen lässt und unter Einsatz geheimdienstlicher Methoden das Steward-Hauptquartier ständig über alle Bewegungen, Aktivitäten und nicht zuletzt über die voraussichtliche Rückkehrzeit informiert. Einen ganzen Tag lang ziehe ich alle Register der Spionageabwehr, drehe mich immer wieder unversehens um, um festzustellen, ob mir jemand folgt, verschwinde hinter Ecken, flitze in den Geschenkeladen und in der nächsten Sekunde durch eine andere Tür wieder hinaus usw. – aber nicht das geringste Anzeichen für einen Verfolger. Mein Anfangsverdacht erhärtet sich also nicht, doch eine bessere Theorie fällt mir auch nicht ein. Wie sie es machen, bleibt rätselhaft. Irgendwann gebe ich es auf, sonst drehe ich noch durch. Ohnehin zieht mein seltsames Benehmen erste verständnislose Blicke auf sich, einige Gäste auf Deck 10/Backbord tippen sich bereits vielsagend an die Stirn.

 

Aber auch so ist der VIP-Verwöhnservice an Bord der Nadir eine ganz und gar irremachende, Hirn erweichende Sache, der manische Kabinenreinigungsdienst liefert dafür nur das krasseste Beispiel. Vielleicht weil man ahnt, dass es eben doch nicht so ist wie ehedem bei Muttern. Denn eines steht fest – trotz meines schlechten Gewissens damals, trotz ihres ewigen Gemeckers über die Unordnung im Zimmer: Eine Mutter räumt dir die Sachen hinterher, weil sie dich liebt. Du bist der Mittelpunkt, das Objekt ihrer Bemühungen. Anders auf der Nadir. Sobald sich einmal der Reiz des Neuen und das Erstaunen über so viel Bequemlichkeit gelegt hat, macht sich Enttäuschung breit, Enttäuschung darüber, dass der ganze Aufwand keineswegs persönlich gemeint ist, sondern nur Teil eines Dienstplans. (Besonders traumatisch für mich die Erkenntnis, dass Petra meine Kabine nicht meinetwegen putzt oder weil ich so nett bin oder No Problem und ein Funny Thing, sondern weil sie Anweisung dazu hat, und dass sie Kabine 1009 auch für jeden x-beliebigen Blödmann putzen würde. Und wer weiß, vielleicht hält sie mich ja hinter ihrem Servicelächeln für einen ausgemachten Blödmann. Schlimmer: Was, wenn sie damit recht hat? Wenn ich tatsächlich der letzte Blödmann bin? Ich meine, wenn alles Verwöhntwerden nicht in echter Sympathie gründet und mir deshalb auch kaum das Gefühl vermitteln kann, kein Blödmann zu sein, welchen Wert besitzt dieses Affentheater dann überhaupt?)

 

Das ist so ähnlich, als wäre man Gast in einem Haus, wo bereits das Bett gemacht ist, sobald man morgens aus der Dusche kommt, wo schmutzige Wäsche zusammengelegt und ungefragt gewaschen wird, nach jeder Zigarette ein frischer Aschenbecher vor einem steht usw. Eine Zeit lang fühlt man sich durch diese Art Gastfreundschaft geehrt, bestätigt und umsorgt. Aber irgendwann beschleicht einen der böse Verdacht, dass die Gastgeberin gar nicht aus Wertschätzung für ihren Gast handelt, sondern lediglich einem neurotischen Putzfimmel gehorcht. Und da Sinn und Zweck ihrer Bemühungen nicht Gastfreundschaft ist, sondern Ordnung und Sauberkeit an sich, liegt nahe, dass sie die baldige Verabschiedung ihres Gastes herbeisehnt. Mit anderen Worten, ihr ganzes Gedöns zeigt nur, dass ihr Gast stört. Auf der Nadir herrscht zwar nicht unbedingt die Teppichschaum-und-Schonbezug-Philosophie des analen Gastgebertyps, doch die psychische Aura der permanenten Raumpflege ist dieselbe: Der Gast soll keine Spuren hinterlassen, sondern möglichst bald verschwinden.

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Keine Ahnung, wie es Klaustrophobikern ergeht, aber agoraphoben Passagieren bietet ein 7NC-Luxusliner eine ganze Palette höchst attraktiver Ecken, in die er sich verdrücken kann. Zunächst steht es der Agoraphobikerin frei, das Schiff nicht zu verlassen.[696] Des Weiteren kann sie ihren Wirkungskreis auf bestimmte Decks oder auch nur das Deck beschränken, auf dem ihre Kabine liegt. Ferner zwingt sie niemand, aufs Promenadendeck hinauszutreten und den Blick in die angstbesetzte Ferne schweifen zu lassen. Ein Schiff besteht hauptsächlich aus geschlossenen Räumen, und die sind ja auch schön. Oder sie bleibt gleich ganz in ihrer Kabine.

Ich, der ich nicht zu den harten Fällen gehöre, die nicht einmal einen Supermarkt aufsuchen können, sondern eher zu den grenzwertigen Agoraphobikern, habe mich dennoch schwer in meine Kabine 1009/Backbord/außen verliebt.[697] Sie besteht ganz aus einem matt glänzenden, beigefarbenen Polymerkunststoff, und die Wände sind besonders dick und solide. Ich kann bis zu fünf Minuten mit den Fingern gegen die Wand über meinem Bett trommeln, ehe jemand aus der Nachbarkabine genervt (aber wie aus weiter Entfernung) zurückhämmert. Die Kabine misst 13 Turnschuhe in der Länge (Keds, Größe 45) und 12 in der Breite und verfügt sogar über einen kleinen Eingangsbereich. Die Kabinentür lässt sich mit drei verschiedenen Schließsystemen sichern. Fest ans Türblatt genietet und dreisprachig ein Rettungsplan mit Instruktionen für das richtige Verhalten im Fall einer Havarie. Sehr schön: Am Türknauf hängt ein ganzer Schwung mit DO-NOT-DISTURB-Kärtchen.[698] Der Eingangsbereich ist anderthalbmal so breit wie ich selbst. Zur Rechten befindet sich das Bad, links eine Art Superschrank 2000 mit einer verwirrenden Vielzahl von Einlegeböden, Fächern, Schubladen, ja, sogar mit einem persönlichen flammenfesten Minisafe. Der Superschrank 2000 ist so vertrackt durchdacht in seiner Raumnutzung, dass ihn nur eine rundum organisierte Persönlichkeit entworfen haben kann.

Entlang der ganzen Stirnwand, d. h. unterhalb des Fensters, das hier Bullauge genannt wird, verläuft eine breite Ablage aus emailliertem Stahlblech.[699] Ähnlich wie auf den TV-Traumschiffen sind diese Bullaugen tatsächlich rund, aber erheblich größer, als man von Weitem denkt. Im Ganzen wirkt es eher wie die Fensterrose einer Kathedrale und hat auch in etwa diese Funktion. Die Scheibe ist dick wie das Panzerglas, hinter dem Kassierer von Drive-in-Banken sitzen. In einer Ecke sehe ich Folgendes:

Man kann mit der Faust dagegenschlagen, ohne dass irgendetwas zittert, bebt oder nachgibt. Wirklich ein ausgesprochen gutes Glas. Jeden Morgen um exakt 8:34 Uhr klettert ein Filipino im Blaumann in eines der Rettungsboote, die in einer langen Reihe zwischen Deck 9 und 10 an ihren Davits hängen, und spritzt mit einem Wasserschlauch mein Bullauge ab, um es von Salz zu befreien, was lustig anzusehen ist.

Die Größe von Kabine 1009 erreicht knapp den sogenannten »gehobenen« Standard der Kreuzfahrtlinie und liegt damit irgendwo zwischen knuffig und saueng. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was man auf der mehr oder weniger quadratischen Grundfläche alles untergebracht hat: ein schönes, großes Bett, zwei Nachttischchen mit jeweils einer Lampe und einen Fernseher mit 18-Zoll-Bilddiagonale und fünf At-Sea-Cable®-Kanälen. Auf zweien davon läuft in endloser Wiederholung nur der Simpson-Prozess.[700] Außerdem bietet es einen emailbeschichteten Schreibtisch, der auch als Schminktisch dient, sowie einen runden Glastisch mit Obstkorb, in dem sich abwechselnd frische Früchte und Orangenschalen und Apfelreste befinden. Ich weiß nicht, ob es den allgemeinen Service-Gepflogenheiten auf der Nadir entspricht oder nur ein Zückerchen für den Journalisten darstellt, aber jedes Mal, wenn ich von einer meiner (mindestens) halbstündigen Exkursionen zurückkehre, steht ein neuer Obstkorb auf dem Glastisch, hygienisch hübsch und straff verpackt in bläuliche Frischhaltefolie. Das Obst in meiner Kabine geht nie aus, und frisch ist es obendrein. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel Obst gegessen.

Höchstes Lob verdient das Bad von Kabine 1009. Weiß Gott, ich habe schon viele Badezimmer erlebt, aber dieses hier ist echt ein gottverdammtes Schmuckstück. Es ist fünfeinhalb Turnschuhlängen tief bis zur Kante der Duschwanne und dem Schild »Vorsicht Stufe« und ganz in weißem Email und gebürstetem Stahl gehalten. Die indirekte Deckenbeleuchtung beeindruckt durch ihre xenonartige Intensität, die aufgrund einer speziellen Diffusortechnik jedoch nie kalt oder hart wirkt.[701] Neben dem Lichtschalter und direkt mit der Wand verschweißt befindet sich ein Alisco-Sirocco-Föhn, der sich automatisch einschaltet, sobald er aus der Halterung genommen wird, und dessen höchste Stufe einem beinahe den Kopf wegbläst. Wiederum daneben Steckdosen mit 115 V und 230 V Netzspannung, dazu eine weitere geerdete Dose speziell für Elektrorasierer.

Das Waschbecken ist groß und tief, aber auf eine leichte, sanft geschwungene Art. Die Wand über dem Waschbecken ist voll qualitätsverspiegelt von C. C. Jensen Denmark. Die Seifenschale aus Edelstahl hat Ablaufschlitze, sodass sich unangenehmer Seifenschlamm gar nicht erst bilden kann. Vor allem diese geniale Anti-Schlamm-Vorrichtung bewegt mich sehr.

Wohlgemerkt, bei Nr. 1009 handelt es sich um eine Einzelkabine des mittleren Preissegments. Was dagegen eine Luxus-Penthouse-Kabine zu bieten hat, sprengt die Vorstellungskraft eines Normalsterblichen bei Weitem.[702]

Deshalb hereinspaziert in das Bad von Kabine 1009! Übrigens, der leichte Druck auf den Lichtschalter aktiviert zugleich den Abluftventilator in der Decke, dessen Kraft und Wirbeldynamik kurzen Prozess macht mit Dampfschwaden und weniger angenehmen Körpergerüchen.[703] Direkt unterhalb der Lüftungsblende entwickelt das Ding eine Leistung, dass einem buchstäblich die Haare zu Berge stehen, was im Zusammenspiel mit dem Sirocco-Föhn stundenlangen Pustespaß garantiert.

Die Dusche ist ein Overperformer besonderer Art. Die Heißstufe zieht einem zwar beinahe die Haut ab, doch bedarf es nur einer kurzen Drehung des Wärmereglers, und aus dem Duschkopf strömt Wasser mit einer voreingestellten Wohlfühltemperatur von exakt 37°. Aber was heißt strömt – es schießt mit einer Gewalt aus der Brause, dass man an die Rückwand der Kabine genagelt wird. Einen solchen Druck wünschte ich mir mal in meiner eigenen Wohnung. Und erst die unübertreffliche Massagefunktion! Da verdreht man nur noch die Augen, und der Sphinkter stellt sich auf weit.[704] Das Ganze funktioniert übrigens auch als Handdusche, sodass man den peitschenden Wasserstrahl unmittelbar auf stark verschmutzte Körperstellen wie zum Beispiel das rechte Knie oder so lenken kann.[705]

Natürlich wurde auch an Toilettenartikel gedacht. Die verchromten Ablagekörbe, in bequemer Höhe neben dem Spiegel angebracht, sind randvoll mit Pröbchen und allerlei Nützlichem. Es gibt Caswell-Massey Conditioning Shampoo und Caswell-Massey Almond and Aloe Hand and Body Emulsion With Silk, dazu einen soliden Plastikschuhlöffel und ein lederartiges Pflegetuch zum Brilleputzen oder für die leichte Schuhpflege. Beide Artikel natürlich in den Celebrity-Farben Marineblau auf Blendweiß.[706] Und selbstverständlich liegen dort stets zwei Duschkappen statt nur einer. Und die gute alte, völlig unprätentiöse antibakterielle Safeguard-Deoseife. Die Waschlappen sind vollkommen knüsselfrei und die Handtücher so weich, dass man sich nie wieder von ihnen trennen möchte.

Im Superschrank 2000 befinden sich zusätzliche Decken, Allergikerkissen und CELEBRITY-CRUISES-Plastiktüten in allen erdenklichen Größen – für die Schmutzwäsche oder Sachen, die in die Reinigung müssen usw.[707]

Aber dies alles ist nichts im Vergleich zur ebenso faszinierenden wie potenziell bösartigen Toilette, eine gelungene Verbindung von Eleganz in der Form und rabiater Funktion, flankiert von so hautsympathischen Klorollen so hautsympathisch, dass sie sogar ohne die sonst übliche Perforation auskommen. Über dem Klo der Hinweis:

DIESE TOILETTE IST TEIL EINER UNTERDRUCK-ABWASSERANLAGE.

BITTE KEINE GEGENSTÄNDE EINWERFEN AUSSER NORMALEM TOILETTEN-ABFALL UND TOILETTENPAPIER.[708]

Sie haben übrigens richtig gehört: ein Unterdrucklokus. Aber wie schon bei der Lüftungsanlage in der Decke handelt es sich nicht um irgendwelchen Kinderkram, sondern sozusagen um die Vollversion, die große Lösung. Schon die Spülung verursacht ein kurzes, aber traumatisierendes Geräusch, ein Gurgeln in Höhe des dreigestrichenen C, wie ein gastrischer Tumult in kosmischem Maßstab, begleitet von knatternden Sauglauten, die angsteinflößend und tröstlich zugleich sind. Die eigenen Rückstände werden, so wird einem vermittelt, nicht einfach nur entfernt, sondern geradezu hinwegkatapultiert, und das so vehement, dass sie buchstäblich wesenlos werden … Schon beinahe eine existenzielle Entsorgungsmethode.[709], [710]

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Wer zum ersten Mal eine Seereise unternimmt, wird feststellen, dass das Meer nicht immer ein und dasselbe Meer ist. Das Wasser verändert sich. Der Atlantik, der gegen die Ostküste der USA anwogt, ist trübe, lichtlos und wirkt immer bedrohlich. Rund um Jamaika ist die See von einem hellen, durchscheinenden Aquamarin. Vor den Kaimaninseln ist sie tiefblau, und vor Cozumel beinahe violett. Dasselbe bei den Stränden. Man merkt gleich, der Strand von Südflorida ist zerriebenes Felsgestein, er hat dieses mineralische Glitzern und ist so hart, dass einem beim Gehen die Füße wehtun. Der Strand von Ocho Rios sieht aus wie schmutziger Zucker, während er auf Grand Cayman eher puderig ist, reines Silikat in Wolkentraumweiß. Die einzige echte Konstante auf der Fahrt der Nadir durch die Karibik ist eine Szenerie, die wie retuschiert wirkt, so hübsch ist sie.[711] Das andere, was sich darüber hinaus noch mit einiger Sicherheit sagen lässt, ist: Sie sieht teuer aus.

12

Ein Morgen im Hafen ist für agoraphobisch Veranlagte immer eine ganz besondere Zeit, denn alle anderen sind auf Landgang, unternehmen geführte Exkursionen oder einen Einkaufsbummel entlang der Touristen-Renne, und die oberen Decks der Nadir sind so gespenstisch schön verwaist wie früher das Haus meiner Eltern, wenn man krank das Bett hüten musste und alle anderen entweder auf der Arbeit oder in der Schule waren. Wir schreiben Mittwoch, den 15. März (die Iden des …), es ist exakt 9:30 Uhr, wir liegen im Hafen von Cozumel, Mexiko. Ich befinde mich auf Deck 12. Alle paar Minuten joggen mehrere Typen in T-Shirts einer Softwarefirma wohlriechend vorbei[712], aber sonst bin ich allein mit meinem ZnO, meinem Sonnenhut und etwa eintausend leeren und einheitlich ausgerichteten Qualitätsliegestühlen. Der Handtuchmensch von Deck 12/achtern hat fast niemanden, an dem sich seine Service-Philosophie erproben ließe, und um 10:00 Uhr bin ich bei meinem fünften Handtuch.

Hier, auf dem höchsten Steuerborddeck, ist der agoraphobisch Veranlagte endlich allein und kann versonnen aufs Meer schauen. Die See vor Cozumel ist von einem blassen Indigo, durch das man den weißen Meeresgrund sehen kann. In einiger Entfernung beginnen violette, wolkenartige Korallenformationen. Ich begreife, warum die Leute von »glasklarem« Wasser sprechen. Gegen 10:00 Uhr treffen die Sonnenstrahlen in einem solchen Winkel auf der Wasseroberfläche auf, dass der ganze Hafen, so weit das Auge reicht, zu leuchten anfängt. Das Wasser bewegt sich in Millionen Splittern, und jeder einzelne glitzert von Zeit zu Zeit auf. Hinter den Korallen wird das Wasser in kartografisch präzisen Stufen immer dunkler, ein Phänomen, das offenbar mit der Perspektive zusammenhängt. Dies alles ist extrem hübsch anzusehen und sehr friedlich. Außer mir und dem H. M. und den Trimmtrab-Trabanten befindet sich nur eine ältere Lady an Deck (sie liest ein Buch mit dem Titel Codependent No More – Das Ende der Abhängigkeit) sowie, in Bugnähe, ein Mann, der das Meer auf Video aufnimmt. Ein trauriges Gerippe mit grauem Bürstenschnitt, Birkenstocks und spindeldürren, haarlosen Waden, das bei mir ab Tag 2 nur noch Captain Video hieß und sicherlich einer der denkwürdigen Exzentriker an Bord war.[713] Fast jeder an Bord ist mehr oder weniger kamerabesessen, doch Captain Video filmt praktisch alles: Mahlzeiten, leere Korridore, scheintote Bridgepartien. Während der Poolparty springt er sogar auf die Bühne, um die Menge aus der Perspektive der Musiker aufzunehmen. Schon jetzt ist abzusehen, dass die gesammelten Kassetten von Captain Videos Megakreuzfahrt einmal ein Filmdokument ergeben, das exakt so lang ist wie die Kreuzfahrt selbst – und so langweilig wie Warhol. Außer mir ist Captain Video der Einzige, der ohne Anhang angereist ist. Dies und einige weitere Gemeinsamkeiten zwischen mir und Captain V (z. B. der agoraphobische Widerwille gegen Landgänge) sorgen dafür, dass ich mich in seiner Gegenwart ziemlich unwohl fühle und ihm aus diesem Grund möglichst aus dem Weg gehe.

Der agoraphobisch Veranlagte kann aber auch auf der Steuerbordseite stehen und zugucken, wie die Nadir-Kohorten an Land gespien werden. Schier endlos der Strom, der sich über die schmale Gangway von Deck 3 ergießt. Und sobald eine Sandale die Pier betritt, verändert sich die gesamte Soziologie dahingehend, dass aus den Fünf-Sterne-Passagieren stinknormale Touristen werden. Eine dreizehnhundertköpfige Schlange von amerikanischen Wohlstandsbürgern drängelt sich in diesem Moment auf dem gut vierhundert Meter langen Betonkai von Cozumel in Richtung TOURISM CENTER[714], die Taschen voller Geld, entschlossen, etwas zu erleben und diese Erlebnisse aufzuzeichnen. Das Tourism Center ist eine Art Wellblechbunker, von wo aus man »Organized Shore Excursions«[715] buchen kann und wo auch Taxis bzw. Mopedtaxis nach San Miguel warten. Die Armut und die primitiven Zustände auf Cozumel waren abends zuvor Gesprächsthema an Tisch 64. Angeblich ist dort alles so arm und so primitiv, dass der US-Dollar empfangen wird wie ein Ufo: »Ehrlich, die Leute fallen auf die Knie, wenn er landet.«

Einheimische entlang des Kais offerieren den Nadiriten die Gelegenheit, sich mit einem Grünen Leguan fotografieren zu lassen. Gestern auf Grand Cayman war es statt des Leguans ein Alter mit Holzbein und Haken – derweil draußen in der Bucht ein nachgebildetes Piratenschiff auf Seeräuberfolklore machte und stundenlang Breitseiten böllerte, was allen ziemlich auf die Nerven ging.

Träge zerfließend wie ein Lavastrom suchen sich die Nadir-Massen ihren Weg, zu zweit, zu viert, in kleinen Gruppen, ganzen Horden, ein komplexes, unaufhaltsames Vorrücken pastellfarbener Hemden und Blusen, behängt mit Aufnahmegeräten. 85 % der Frauen tragen weiße Augenschirme und Handtaschen aus Korbmaterial. Und alle tragen sie Sonnenbrillen mit dem Accessoire des Jahres, einer weichen Brillenkette in Leuchtfarbe, welche das unentwegte Aufsetzen und Abnehmen der Brille ermöglicht.[716]

Rechts von mir (Südost) nähert sich ein weiteres Megaschiff der Anlegestelle, die, bedenkt man den stumpfen Anfahrtswinkel, ziemlich in unserer Nähe sein muss. Das Schiff bewegt sich wie eine Naturgewalt und lässt die Vorstellung nicht zu, dass es tatsächlich von einer menschlichen Hand gesteuert wird. Ein solches Riesenteil an seinen Liegeplatz zu manövrieren, ist etwa so, als wollte man mit verbundenen Augen und vier LSD-Trips auf der Zunge eine Zugmaschine in eine Parklücke zwängen, die einem nicht einmal einen einzigen Zentimeter Rangierraum bietet. Wie es wirklich abläuft, lässt sich leider auch nicht herausfinden, denn nach dem oberpeinlichen Bratenfettexperiment usw. lassen mich die von der Nadir nicht einmal in die Nähe der Brücke. Unser Anlegemanöver bei Sonnenaufgang versetzte sowohl die Mannschaft an Bord als auch die Hafenarbeiter in hektische Betriebsamkeit. Und während aus dem Nabel des Schiffs der Anker an seiner Kette[717] in die Tiefe rattert, wird das Schiff an zwölf Stellen gleichzeitig an Pollern vertäut, die tatsächlich so aussehen wie Mammutversionen der allseits bekannten verkehrsabweisenden Elemente. Aus irgendeinem Grund heißen diese touristenkopfdicken Trossen bei der Crew immer noch »Leinen«.

Was sich mit Worten kaum beschreiben lässt, sind die surrealen Dimensionen des Ganzen – das Schiff, die Leinen, die Poller, der Kai, die kolossale Lapislazulikuppel des Himmels. Die Karibik ist, wie immer, geruchlos. Nur die millimetergenau verlegten Holzplanken von Deck 12 riechen so würzig wie in der Sauna.

Aber von hoch oben zuzusehen, wie die eigenen Landsleute auf teuren Sandalen in bettelarme Hafenstädte wackeln, gehört nicht zu den erhebenden Augenblicken einer 7NC. Den amerikanischen Touristen, ganz besonders in der Gruppe, umgibt die Aura eines Herdentiers, eine geradezu bovine Ausstrahlung in seiner unersättlichen Selbstgefälligkeit. Oder besser: unserer. In jedem Hafen werden wir automatisch zum Peregrinator americanus, zu amerikanischen Hoi Pollo. The Ugly Ones – das sind wir. In meinem Fall ist Boviscopophobie[718] noch ein weit stärkeres Motiv, an Bord zu bleiben, als meine agoraphobische Veranlagung. Der Anblick meiner Landsleute vor der poweren Kulisse vermittelt mir das bohrende Gefühl einer unausweichlichen Komplizenschaft. Ich bin zwar bisher kaum aus den US of A hinausgekommen und ganz bestimmt nicht als Teil einer Upperclass-Touristenmeute, aber sogar hier oben auf Deck 12 werde ich unangenehm daran erinnert, dass ich Weißer bin, ein Weißer inmitten lauter nicht weißer Menschen. Ich kann mir gut vorstellen, welchen Eindruck wir aus Sicht gelassener Jamaikaner oder Mexikaner[719] oder gar der nicht weißen Service-Knechte an Bord der Nadir hinterlassen. Die ganze Woche habe ich vor der Besatzung alles getan, um mich von der bovinen Herde, zu der ich ja nun einmal gehöre, zu distanzieren und gewissermaßen loszusagen. Ich boykottiere Kameras und Sonnenbrillen und Hawaiihemden. In der Cafeteria trage ich mein Tablett demonstrativ selbst und bedanke mich überschwänglich für jede noch so kleine Handreichung. Und weil viele meiner Mitpassagiere das Personal, das selten gut Englisch spricht, extra laut anbellt, lege ich großen Wert darauf, besonders leise mit diesen Leuten zu reden.

Um 8:00 Uhr schweben nur noch zwei kleine Wölkchen an einem Himmel, der so blau ist, dass es schmerzt. Bisher habe ich in den Häfen nur bedecktes Wetter erlebt. Dann gewinnt die steigende Sonne an Kraft, vertreibt die Wolken, und etwa eine Stunde lang erscheint der Himmel wie zerfasert. Gegen 10:35 Uhr öffnet sich über mir, einem ungeheuren Auge gleich, endloses Blau – und bleibt so bis in die Mittagsstunden, wobei ein, zwei Wolken immer mit dabei sind, so, als wollten sie einem die Größenverhältnisse verdeutlichen.

Während sich das andere hellweiße Megaschiff langsam an die Kaimauer schiebt, herrscht unter den Hafenarbeitern mit ihren Walkie-Talkies und Trossen ameisenhafte Aktivität.

Am späten Morgen rücken die isolierten Wolken allmählich aufeinander zu, ehe sie sich nachmittags zusammenschließen wie Puzzleteile. Gegen Abend ist das Puzzle fertig, und der Himmel hat die Farbe alter Silbermünzen.[720]

Natürlich entspringen gerade die Distanzierungsversuche meinerseits einem komplexen und teilweise ziemlich arroganten Selbstdarstellungsprogramm, das wiederum typisch ist für die amerikanische Oberschicht. Diesem inneren Konflikt entgehe ich auf dieser Reise keine Minute. Denn was ich auch tue, ich bin und bleibe eben Amerikaner, und das ist nicht immer angenehm. Seinen Höhepunkt erreicht dieses Dilemma regelmäßig in den Häfen, in denen die Nadir festmacht. Egal, ob unten im Gewusel des Hafens oder ganz oben an der Reling von Deck 12, ich werde das dumme Gefühl nicht los, dass ich ein amerikanischer Tourist bin und dadurch per se ein stiernackiger, lauter, vulgärer, großkotziger Fettsack, eitel, verwöhnt, gierig und zugleich gepeinigt von Scham und Verzweiflung. In diesem Sinne ist der amerikanische Tourist wirklich einzig auf der Welt: ein bovines Herdentier und ein Fleischfresser.

Hier wie in den anderen Häfen auch umschwärmen Jetskis die Nadir, diesmal etwa ein halbes Dutzend. Jetskis sind die Moskitos der Karibik, sie sind klein, lästig und allgegenwärtig. Der Lärm, den sie verursachen, ist eine Mischung aus Kettensäge und Gurgeln. Ich habe noch nie auf einem Jetski gesessen, ich weiß nur, dass sie mich nerven. Irgendwo habe ich gelesen, dass Jetskis unheimlich unfallträchtige Geräte sind, und aus dieser Information ziehe ich einen gewissen niederträchtigen Trost, während ich zusehe, wie blonde Typen mit Waschbrettbauch und Sonnenbrille (an fluoreszierenden Kettchen!) ihre Runden drehen und schäumende Hieroglyphen in die See malen.

Statt nachgemachter Piratenschiffe kreuzen Glasbodenboote vor den Korallenbänken von Cozumel. Schwerfällig zerteilen sie das Wasser, denn sie sind entsetzlich überladen mit Kreuzfahrern, die sich die Organized Shore Excursion nicht entgehen lassen wollen. Was mir aber an dem Anblick gefällt, ist, dass sie alle – und es sind über hundert Leute pro Boot – wie zum Gebet den Kopf gesenkt haben und nach unten schauen. Alle bis auf den Mann am Steuer, der, wie sämtliche Fahrer von Massentransportmitteln auf dieser Welt, den Blick gleichgültig in das ewig gleiche Nichts gerichtet hat.[721]

Ein Parasailing-Schirm hängt regungslos über dem Backbordhorizont, und an dem Schirm hängt ein Strichmännchen.

Der Handtuchmann von Deck 12/achtern, ein geisterhafter Tscheche mit tief liegenden, düster verschatteten Augen, steht steif und ausdruckslos an seinem Wagen und spielt eine Art Schnick-Schnack-Schnuck mit sich selbst. Ich weiß mittlerweile, dass der Handtuchmann von Deck 12/achtern für journalistische Annäherungsversuche vollkommen unempfänglich ist und mich jedes Mal, wenn ich ein frisches Handtuch hole, mit geradezu vernichtender Neutralität ansieht. Ich verteile frisches ZnO auf meiner Nase. Captain Video filmt gerade mal nicht, peilt jedoch durch ein mit beiden Händen gebildetes Rechteck den Hafen. Man sieht auf den ersten Blick, dass er Selbstgespräche führt. Das andere Megaschiff legt jetzt direkt neben uns an, ein Vorgang, der anscheinend ein weltuntergangsmäßiges Getute erfordert. Herzerfrischend hingegen eine andere Hafenszene und zugleich Programmpunkt im 7NC-Veranstaltungskalender: Im lagunenflachen Wasser etwas weiter draußen erlernt eine Gruppe von Nadiriten das Schnorcheln. Ich sehe gut 150 meiner Landsleute kieloben und reglos auf den Wellen treiben. Sie üben Toter Mann, so viel ist klar, aber das Ganze wirkt dennoch ziemlich echt und wie das Resultat einer Schiffskatastrophe, zumindest von meiner Warte aus. Ich habe es aufgegeben, in einem Hafen nach Rückenflossen Ausschau zu halten. Offenbar haben Haie wenig Sinn für Ästhetik und lassen sich so gut wie nie in Häfen blicken, obwohl ein paar Jamaikaner allerhand Geschichten zum Besten geben, dass Barrakudas gerne auf einen Sprung vorbeikommen und dabei mit chirurgischer Lakonie schnell mal ein Bein mitnehmen. Auch gibt es in karibischen Häfen so gut wie keinen Tang, kein Glaskraut, kaum Algenschlamm oder was sonst noch alles in einem richtigen Meer wuchert. Womöglich fischen Haie lieber im Trüben, denn hier würden sie von potenziellen Opfern ohnehin früh erkannt.

Da wir gerade von Karnivoren reden, die beiden Carnival-Kreuzer Ecstasy und Tropicale ankern auf der gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens, und ich habe den Eindruck, dass dies den anderen Schiffen nur recht ist. Die Decks der Carnival-Schiffe sind meist von jungen Leuten bevölkert, die von Weitem alle leicht zu pulsieren scheinen, ähnlich wie ein Basslautsprecher. Die Gerüchte über Carnival sind Legion, schwimmende Abschleppbars werden sie genannt, die nachts durch das vereinte Quietschequietsch der Betten regelrecht ins Schaukeln geraten. Glücklicherweise, möchte ich sagen, kennt man auf der Nadir derlei Schamlosigkeiten nicht. Ich bin nämlich inzwischen zum 7NC-Snob gereift, der, sobald der Name Carnival oder Princess fällt, ob des Klassenunterschieds das Gesicht verzieht, genauso wie Trudy und Esther es mir vorgemacht haben.

Aber egal, da liegen sie, die Ecstasy und die Tropicale, aber zumindest in sicherer Entfernung. Denn gleich nebenan macht jetzt die Dreamward fest – in den Farben Weiß und Pfirsich, was vermutlich bedeutet, dass das Schiff zur Norwegian-Cruise-Line-Flotte gehört. Die Deck-3-Gangway der Dreamward liegt auf derselben Pier auf wie unsere, ja, sie berührt sie beinahe, was irgendwie obszön aussieht. Die Dreamward-Passagiere gleichen in allen wichtigen Punkten denen der Nadir, und genauso strömen sie jetzt die Gangway hinab. In dünner Kolonne wie durch ein Tal der Schatten wackeln sie über die Pier, denn die hochragenden Bordwände zu beiden Seiten scheinen sie einzuengen, sodass sich der Treck endlos hinzieht. Und mancher dreht dabei den Kopf nach oben und staunt über die Größe dieses Etwas, das ihn gerade ausgespuckt hat. Captain Video, der sich so weit über die Backbordreling gelehnt hat, dass nur noch die Spitzen seiner Sandalen das Deck berühren, filmt, wie Dreamward-Passagiere zu uns emporschauen. Worauf nicht wenige von ihnen selber zum Camcorder greifen und zurückfilmen – ein medialer Schlagabtausch, der mir vorkommt wie aus einem Stück postmoderner Installationskunst.

Und da die Dreamward nun einmal direkt neben uns liegt, fast Bullauge an Bullauge, Deck an Deck[722], haben die agoraphoben Hafenviertelvermeider Gelegenheit, sich auf ähnliche Weise zu mustern wie zwei tiefer gelegte Mustangs an einer roten Ampel. Das heißt, hier wird verglichen. Ich spüre die Blicke der Dreamward-Glotzer. Ihre Gesichter glänzen vor Sunblocker. Die Dreamward ist auf eine Art weiß, welche die Nadir fast beige aussehen lässt, und der Bug ist schnittiger. Die Wasserlinie ist in einem leuchtenden Pfirsichton gehalten, ebenso wie die Sonnenschirme an den Pools von Deck 11.[723] Unsere Sonnenschirme sind orange, was mir bei den Nadir-Grundfarben Blau und Weiß immer schon komisch vorgekommen ist. Aber jetzt weiß ich, es ist nicht nur komisch, sondern regelrecht billig. Überhaupt verfügt die Dreamward auf Deck 11 nicht nur über mehr Pools als die Nadir, sie hat dazu noch ein Schwimmbecken auf Deck 6. Ferner verrät dessen klare, chlorblaue Farbe, dass sich in den Pools der Dreamward sauberes Süßwasser befindet und nicht diese stets leicht schmuddlige Seebrühe wie in den beiden kleinen Becken der Nadir, was im Celebrity-Katalog übrigens auch nicht so rauskommt.

Von oben bis unten sind die Dreamward-Kabinen mit kleinen Balkonen ausgestattet – für den ganz individuellen Open-Air-Seeblick. Auf Deck 12 befindet sich ein Basketballfeld mit farblich abgestimmten Netzen und einem Backboard so weiß wie eine Hostie. Ich stelle fest, dass an jedem der eine Myriade Handtuchwagen auf Deck 12 ein eigener Handtuchmann postiert ist und dass dieser Handtuchmann von unverkennbar nordischer Herkunft ist, statt wie bei uns aus Transsilvanien, und auch nicht diese neutral-gelangweilte Miene zur Schau stellt.

Fazit: Während ich hier neben Captain Video an der Reling stehe, verspüre ich auf einmal einen sengenden Neid auf die von der Dreamward. Die Räumlichkeiten im Inneren stelle ich mir nicht nur sauberer vor als unsere, sondern auch größer und prunkvoller ausgestattet. Und das Essen ist natürlich noch abwechslungsreicher und mit noch mehr Liebe zum Detail zubereitet, der Andenkenladen an Bord weniger teuer, das Kasino weniger deprimierend, das Unterhaltungsprogramm weniger bräsig und das Pfefferminzschokolädchen auf dem Kopfkissen weniger klein. Im Vergleich zu den Bankschalterbullaugen auf der Nadir markiert so ein Privatbalkon doch eine ganz neue Dimension der Kreuzfahrt. Und ich meine, wenn ich schon über eine Megaerfahrung namens 7NC schreiben soll, dann läuft ohne eigenen Balkon eigentlich gar nichts.

Minutenlang versuche ich mir vorzustellen, wie so ein Dreamward-Badezimmer wohl aussieht. Ich stelle mir vor, dass die Mannschaftsquartiere jedermann offen stehen, der sich mit den Leuten mal ganz zwanglos unterhalten will, und dass diese Leute aufrichtig nett sind und daneben Literaturwissenschaft studiert haben und mir ihre reinlich geschriebenen Seetagebücher überlassen, in denen ich hübsche Klabautergeschichten finde und coole 7NC-Anekdoten, so was in der Art. Ich stelle mir vor, der Hotelmanager der Dreamward ist ein leutseliger Norweger mit Norwegerpullover, der beruhigend nach Borkum Riff riecht und keine Sonnenbrille trägt und nicht so arrogant ist, sondern vielmehr alle Zutritt-verboten-Hydrauliktüren ganz weit aufreißt, auf dass ich sehe, was das Schiff im Innersten zusammenhält, die Brücke, die Küche, die Unterdruck-Abwasseranlage, und der mir alles zeigt und obendrein mit unkonventionellen, zitierfähigen Antworten aufwartet, ehe ich die Fragen auch nur gestellt habe. Und Erbitterung keimt in mir ob der Geizhälse von Harper’s Magazine, die für mich die Nadir gebucht haben statt die Dreamward. Und ich veranschlage schon mal den Abstand, der springend/hangelnd zu überwinden wäre, wollte ich jetzt zur Dreamward wechseln. Das Kapitel, in denen ich mein Bravourstück schildere, habe ich schon so gut wie im Kopf, und im Vergleich dazu sähe sogar ein William T. Vollmann blass aus.

Während ich diesen finsteren Gedanken nachhänge, bezieht sich der Himmel mit der üblichen Après-midi-Wolkendecke. Ich leide an einer Illusion, von der ich weiß, dass es eine Illusion ist: Ich leide an einem durch nichts begründeten Neid auf die Passagiere der Dreamward. Mehr noch, für mich gehört dieser Neid zu einem ganzen Dissatisfaktionssyndrom, das sich mit jedem Tag der Reise weiter ausbreitet – eine Art persönliche Mängelliste, eine Aufstellung von Unzulänglichkeiten, die, anfangs kaum der Rede wert, inzwischen jedoch fast ein Grund zur Verzweiflung sind. Ich weiß, dass die Ursache hierfür nicht in der allmählichen Gewöhnung an den Nadir-Luxus zu suchen ist, ja, dass meine Unzufriedenheit primär gar nichts mit der Nadir zu tun hat, sondern ausschließlich mit mir, besser: mit meiner uramerikanischen Reaktion auf die Totalverhätschelung an Bord und dem unzufriedenen Kind in mir, das immer noch mehr will. Es ist keine vier Tage her, da war es mir peinlich, den Cabin-Service in Anspruch zu nehmen, so peinlich, dass ich alle meine Arbeitsmaterialien auf dem Bett verteilte, um dadurch den Anschein von Überarbeitung und verpassten Mahlzeiten zu erwecken. Gestern Abend jedoch ertappe ich mich dabei, wie ich nach fünfzehn Minuten verärgert auf die Uhr schaue und mich frage, wo zum Teufel der Kerl mit dem verdammten Tablett bleibt. Und wo wir schon einmal dabei sind, die Sandwichs kommen mir inzwischen doch reichlich klein vor, und die Steuerbordrinde ist schon ganz aufgeweicht von den Dillgurken[724], und der Korridor draußen vor 1009 ist derart schmal, dass man nicht einmal sein Tablett rausstellen kann, wenn man fertig ist, sodass die an sich geruchlose Kabine am nächsten Morgen nach gammeligem Meerrettich riecht, was mich an Tag 5 meiner angeblichen Luxuskreuzfahrt ganz schön deprimiert.

Conroy und allen Todesverleugnungsstrategien zum Trotz sind wir jetzt in der Lage, jene große Lüge zu durchschauen, die dem Celebrity-Katalog zugrunde liegt: nämlich das Versprechen, das Kind in mir immer und immer wieder voll zufriedenzustellen. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, ob Celebrity dieses Versprechen hält oder nicht, sondern ob es überhaupt einhaltbar ist. Ich behaupte, ein solches Versprechen kann nur gelogen sein.[725] Was nicht bedeutet, dass ich selbst nicht allzu gern daran glaubte. Jawohl, ich sage: Scheiß auf Buddha und seine Vier Edlen Wahrheiten. Ich will verwöhnt werden, und ich nehme die Celebrity-Leute beim Wort: Wenigstens dieses eine Mal soll es der ultimative Traumurlaub werden, ein einziges Mal soll dem ganzen Luxus so was von nichts hinzuzufügen sein, dass sogar das ewig quengelnde Kind in mir zufrieden ist.[726]

Doch leider ist mein Inneres Kind unersättlich, denn sein einziger Daseinszweck besteht a priori in seiner Unersättlichkeit. Sobald ein bestimmtes Zufriedenheitslevel erreicht ist, wird die Latte gleich ein bisschen höher gelegt, und das Kind gibt keine Ruhe, bis auch dieser höhere Level erreicht ist – und sich prompt als schreckliche Enttäuschung entpuppt. Bereits nach wenigen schwelgerischen Tagen auf der Nadir setzt Gewöhnung ein, und das Kind, das immer nur haben, haben, haben will, meldet sich verstärkt zurück. Am Mittwoch (Iden des März) steht für mich fest, dass die Klimaanlage in meiner Kabine pfeift (und zwar laut), und ich registriere mit Erbitterung, dass ich zwar die Reggae-Lalle in meiner Kabine abschalten kann, nicht aber die (weit penetranteren) Lautsprecher auf dem Korridor von Deck 10/Backbord. Und mir ist auch keineswegs entgangen, dass der Aushilfskellner von Tisch 64 zwischen den Gängen zwar die Brotkrümel entfernt, aber niemals alle Brotkrümel. Und nachts, die lockere Schublade in meinem Superschrank 2000 … rattert wie ein Presslufthammer. Und wenn Petra, meine Seeräuber-Jenny, das Bett macht, dann sind die umgeschlagenen Enden niemals ganz gleich ausgerichtet. Und mein Schmink-/Schreibtisch hat an der rechten Kante einen haarfeinen Sprung im Email, der aussieht wie ein Paar Schamlippen – und den ich jedes Mal ein bisschen mehr hasse, wenn morgens beim Aufwachen mein Blick darauf fällt. Und das Liveprogramm von Celebrity Showtime in der Celebrity Show Lounge ist so schlecht, dass sich in mir alles zusammenkrampft. Und das Seestück an einer Wand von 1009 ist Kaufhauskunst vom Übelsten, und leider kann man es weder abhängen noch umdrehen, weil es festgenietet ist. Und das Conditioning-Shampoo von Caswell-Massey erweist sich als klebriger und ausspülresistenter als die meisten anderen Shampoos. Und die Eisskulpturen am Midnight-Buffet wirken zuweilen doch recht lieblos zurechtgedengelt. Und das Gemüse, das zum Hauptgericht gereicht wird, ist regelmäßig zerkocht. Und warum kommt aus dem Kaltwasserhahn von Kabine 1009 eigentlich niemals richtig kaltes Wasser?

Und so stehe ich auf Deck 12 und schaue zur Dreamward hinüber, wo das Wasser, falls gewünscht, garantiert so kalt aus dem Hahn strömt, dass man davon blaue Finger bekommt. Zugegeben, ähnlich wie Frank Conroy ist mir in Teilen durchaus bewusst, dass ich seit einer Woche keinen Teller mehr gespült oder an der Supermarktkasse angestanden habe, wo der Vordermann erst mal einen ganzen Haufen Gutscheine aus der Tasche kramt. Und trotzdem fühle ich mich kein bisschen erholt, im Gegenteil, jetzt, wo bereits die vorzeitige Entsorgung eines Handtuchs durch einen geisterhaften Celebrity-Bediensteten einen Eingriff in meine Grundrechte darstellt, wollen mir die Anforderungen des gewöhnlichen Alltags sogar doppelt stressig und unangenehm vorkommen. Und überhaupt, dass die Aufzuganlage im Heckbereich so fürchterlich lahm ist, ist ein Skandal. Und dass auf dem Kurzhantelständer im Olympic Health Club die 10-Kilo-Hanteln fehlen, ist ein persönlicher Affront. Und während ich langsam nach unten gehe, entwerfe ich in Gedanken eine geharnischte Fußnote über das in meinen Augen größte Ärgernis an Bord der Nadir, nämlich dass man für Cola und Limonade immer noch extra bezahlen muss, sogar beim Essen. Und nicht nur das, man muss sich seine Mr.-Pibb-Cola sogar extra bei einer der radebrechenden Cocktailkellnerinnen bestellen, geradeso, als wäre es ein gottverdammter Slippery Nipple. Und dann darf man auch direkt die Rechnung dafür unterschreiben, und die hat es in sich. Jawohl, sie stellen einem jede blöde Cola in Rechnung! Und dabei haben sie noch nicht einmal Mr. Pibb, sondern speisen einen mit einem Dr. Pepper ab, wo doch jeder Idiot weiß, dass ein Dr. Pepper nie und nimmer ein Ersatz für ein Mr. Pibb sein kann. Und bei genauerer Betrachtung muss man sagen, das Ganze ist ein gottverdammter Witz – wenn’s nicht so traurig wäre und unterm Strich einfach das Hinterletzte.[727]

13

Jeden Abend, wenn Petra, der Kabinensteward von Deck 10, das Bett aufschlägt, hinterlässt sie auf dem Kissen – neben einem allerletzten hauchdünnen Pfefferminztäfelchen in Zartbitterschokolade und der sechssprachigen Gute-Nacht-und-träumen-Sie-schön-Karte von Celebrity – eine kleine, vierseitige Bordpostille, blaue Schrift auf weißem Büttenpapier, der Nadir Daily. Der Nadir Daily enthält allerlei Historisches über die nächsten Zielhäfen, Vorschläge für Organized Shore Excursions und informiert über Aktionstage im Andenkenladen. Hinzu kommen strenge, aber dämlich formulierte Verlautbarungen mit Überschriften wie QUARANTÄNE AUF TRANSIT VON NAHRUNGSMITTELN oder MISSBRAUCH VON BETÄUBUNGSMITTELGESETZ VON 1972.[728]

Heute ist Donnerstag, der 16. März. Es ist 7:10 Uhr, und ich sitze allein im 5* C. R. Dies ist der erste Frühstückstermin, genannt Early Seating Breakfast, aber Kellner und Commis von Tisch 64 sind bereits aktiv.[729] Wir befinden uns mittlerweile wieder auf Heimatkurs Richtung Key West, und heute ist einer von zwei reinen »Seetagen«, an denen sich das Bordleben förmlich überschlägt. Mit dem Nadir Daily in der Hand – er wird mein Reiseführer sein – verlasse ich Kabine 1009 voraussichtlich für einen Zeitraum von weit über einer halben Stunde und stürze mich ins Organisierte Vergnügen mit dem Ziel, genau Buch zu führen über alle wesentlichen Veranstaltungen, die dem Passagier so geboten werden.

 

6:45 Uhr: Ein dreifacher Gong aus dem Lautsprecher und eine unaufgeregte Frauenstimme wünscht einen guten Morgen, sagt Datum und Wetterbericht an usw. Sie spricht ein weichgespültes Englisch, wiederholt das Ganze auf Französisch mit Elsässer Akzent und dann auch auf Deutsch. Selbst auf Deutsch gelingt ihr ein geradezu postkoitales Timbre. Das ist nicht mehr die Durchsagestimme von Pier 21, aber sie verfügt über genau die gleiche edle Präsenz wie ein teures Parfum.

 

6:50–7:05 Uhr: Duschen, Heizefeiz vor Spiegel mit Alisco-Sirocco-Föhn, Lüftungsanlage & Haaren. Danach gelesen: Furchtlos in den Tag: Brevier für Angsthasen. Anschließend mit Leuchtstift den Nadir Daily durchgegangen.

 

7:08–7:30 Uhr: Früh-Frühstück an Tisch 64 in 5* C. R. Die anderen haben gestern Abend angekündigt, dass sie heute Morgen ausschlafen und später im Windsurf Café einen Happen essen wollen, also sitze ich allein an dem großen runden Tisch neben einem der Steuerbordfenster.

Wie bereits erwähnt, der Kellner von Tisch 64 heißt Tibor. Für mich persönlich ist er »The Tibster«, was ich aber nicht laut sage. Tibor hat für mich Artischocken und Hummer zerlegt und mir beigebracht, dass Fleisch auch dann schmecken kann, wenn es nicht extra gut durch ist. Ich habe den Eindruck, wir haben uns irgendwie angefreundet. Er ist 35, dicklich, nicht einmal 1,65 Meter groß und bewegt sich mit jener vogelartigen Ökonomie, die man bei kleinen, behänden Dicken oft vorfindet. Tibor berät mich auch in allen Menüfragen, aber ohne jene Überheblichkeit, der man in Spitzenrestaurants sonst immer begegnet. Tibor ist allgegenwärtig, ohne um einen herumzuscharwenzeln oder einen zu bedrängen. Er ist freundlich, warmherzig und humorvoll, und ich mag ihn sehr. Er kommt aus Budapest und ist diplomierter Restaurantfachwirt von einer unaussprechlichen ungarischen Universität. Seine Frau erwartet zu Hause gerade ihr erstes Kind. Er ist Chef de Rang bei sämtlichen Mahlzeiten von Tisch 64 bis 67. Er kann problemlos drei Tabletts gleichzeitig tragen und wirkt, anders als die meisten Abteilungskellner, niemals gehetzt oder überstrapaziert. Mir scheint, er nimmt seinen Beruf und das Wohl seiner Gäste sehr ernst. Sein Gesicht ist gleichzeitig rund und spitz und rosig. Sein Anzug weist nicht die kleinste Knitterfalte auf. Seine Hände sind weich und rosa, und die Haut über seinem Daumen ist so glatt wie die eines Kleinkinds.

Die Frauen von Tisch 64 finden ihn niedlich, aber das darf einen nicht täuschen. Hinter der Niedlichkeit ist er ein knallharter Profi. Er gehört zu denjenigen, die sich den Höchstleistungsanspruch der Nadir persönlich zu eigen gemacht haben, und in diesem Punkt versteht er auch keinen Spaß. Nimmt man ihn hierin nicht ernst, trifft ihn das sehr, was er auch nicht verhehlt. Zum Beispiel an unserem zweiten Abend, dem Sonntag: Nach dem Hauptgang machte Tibor die Runde, um zu fragen, ob es geschmeckt habe. Wir alle hielten seine Frage zunächst für das übliche und herzlich bedeutungslose Kellnerritual und räusperten uns und antworteten entsprechend: »Ja doch, sehr gut. Wirklich, sehr gut.« Bis Tibor innehielt, uns mit schmerzvoller Miene ansah und mit leicht erhobener Stimme die Tischgesellschaft ansprach wie folgt: »Bitte. Ich frage jeden: War ausgezeichnet? Bitte. Wenn ausgezeichnet, Sie sagen, und ich bin glücklich. Wenn nicht ausgezeichnet, dann bitte nicht sagen ausgezeichnet. Dann lassen mich bringen in Ordnung, bitte.« Sätze, in denen nicht die Spur von Überheblichkeit oder Pedanterie mitschwang. Ihm war nur vollkommen ernst mit dem, was er sagte. Ein Gesicht wie ein offenes Buch. Und wir vernahmen’s, und jedes steifleinene Getue war für immer gestorben.

Ihm zur Seite steht Wojtek, ein bebrillter Pole von 22 Jahren und über zwei Meter Körpergröße. Als Commis ist er zuständig für den Nachschub an Brot und Wasser sowie für die Krümelbeseitigung. Und wenn man nicht aufpasst und sich nicht schützend über den Teller beugt, kommt er mit seiner langen Pfeffermühle und würzt gnadenlos nach. Wojtek arbeitet ausschließlich mit Tibor zusammen, ihre gemeinsame Tätigkeit gleicht einem komplizierten Menuett, bei dem selbst die kleinste Drehung einem minutiösen Plan folgt. Dazwischen unterhalten sie sich in einem slawisch-deutschen Kauderwelsch, das ihnen durch langen kollegialen Umgang zugewachsen ist, und man sieht Wojtek an, dass er Tibor ebenso verehrt wie wir von Tisch 64.An diesem Morgen trägt The Tibster eine rote Fliege und riecht dezent nach Sandelholz. Der erste Frühstückstermin ist die beste Gelegenheit, mit ihm ins Gespräch zu kommen, denn der Betrieb im 5* C. R. ist noch überschaubar, und er – seine Miene verrät es – muss sich nicht gleich zweiteilen, wenn er an meinem Tisch verweilt. Tibor weiß nicht, dass ich als verkappter Journalist auf der Nadir bin. Ich denke, ich habe es ihm verschwiegen, weil es ihn in einen Konflikt bringen würde. Und während unserer Frühstücksplaudereien frage ich ihn auch niemals nach irgendwelchen Hintergründen zu Celebrity oder der Nadir[730], nicht aus Rücksicht auf die arschigen Anordnungen von Mr. Dermatitis, sondern weil ich es mir nie verzeihen könnte, wenn Tibor meinetwegen Ärger bekäme.

Tibors Ziel: Er möchte eines Tages nach Budapest[731] zurück und mit dem ersparten Geld eines dieser typischen Kaffeehäuser eröffnen, wo er mit einer Spezialität namens Kirschkaltschale aufzuwarten gedenkt. Es sind noch zwei Tage bis Fort Lauderdale, aber ich weiß schon jetzt, dass der Tibster von mir ein Trinkgeld bekommt, das weit über die empfohlenen 3,00 Dollar pro Tag[732] hinausgeht – was ich dadurch wieder hereinhole, dass ich unseren dubiosen Maître d’ oder diesen widerwärtigen Schleimer von Sommelier (ein Kerl aus Sri Lanka und an Tisch 64 stets nur »der lila Geier« genannt) entsprechend schnöde abfinde.

 

8:15 Uhr: Katholische Messe mit Father DeSandre, Ort: Rainbow Room, Deck 8.[733]

Die Nadir verfügt über keine eigene Kapelle. Stattdessen klappt der Father im Rainbow Room eine Art Feldaltar auf. Der Rainbow Room befindet sich ganz hinten im Schiff und präsentiert sich in den Farben Lachsrosa und Herbstgelb, die untere Wandverkleidung ist aus polierter Bronze. Das Hinknien auf See erweist sich als schwierig. Es sind etwa ein Dutzend Leute anwesend. Das Licht kommt durch ein großes Backbordfenster und umstrahlt den Father von hinten. Dankenswerterweise verzichtet er in seiner Predigt auf nautische Metaphern wie etwa der vom Leben als Reise. Zur Kommunion darf man wählen zwischen Wein und dem guten Welch’s-Traubensaft. Es bleibt festzustellen, dass selbst die Hostien auf der Nadir leckerer sind als normal, weniger zäh und mit einem süßlichen Nachgeschmack, wenn einem die Pampe im Mund zergeht.[734] Dass eine 7NC-Messe ausgerechnet in einer protzigen Bar abgehalten wird, würden Zyniker für ausgesprochen passend halten, aber mir ist das zu billig. Interessanter finde ich schon, wie ein Priester auf einen Luxuskreuzer und zu dieser Luxusgemeinde kommt. Leistet sich Celebrity etwa eine eigene Priestertruppe, die nach dem Rotationsprinzip auf den diversen Schiffen eingesetzt wird, oder agiert die römisch-katholische Kirche, ähnlich den anderen Unterhaltungsanbietern, als Franchisenehmer für den göttlichen Service? Nichts davon, fürchte ich, werde ich je in Erfahrung bringen, denn Father DeSandre hat, kaum ist der Schlusschoral verklungen, erklärtermaßen keine Zeit – und zwar wg.

 

9:00 Uhr: Erneuerung des Ehegelöbnisses mit Father DeSandre. Gleicher Ort, gleicher Klappaltar. Aber leider keine Ehepaare, die sich erneuern lassen wollen. Ich bin da, und Captain Video und vielleicht ein Dutzend weitere Nadiriten sind da, sitzen auf lachsrosa Stühlen, derweil eine Getränkekellnerin mit Augenschirm und Block mehrmals die Runde macht. Father DeSandre, in Soutane und Chorrock, wartet geduldig bis 9:20 Uhr, ohne dass Kundschaft sich einstellt oder aus dem Kreis der Anwesenden vortritt. Einige erwecken zwar den Eindruck einer Paarbeziehung, entschuldigen sich aber damit, nicht verheiratet zu sein. Der erstaunlich gelassene Father nimmt das nicht weiter krumm, immerhin, meint er, stünde ja alles zur Behebung dieses unchristlichen Standes bereit, ein Altar, zwei Kerzen, ein Messbuch, bereits an der richtigen Stelle aufgeschlagen … Womit er bei den angesprochenen Paaren jedoch nur ein verlegenes Lachen bewirkt und keinen Entschluss. Ich persönlich weiß jetzt gar nicht, wie diese Eheabstinenz in die Nadir-Philosophie der Todesverleugnung und der totalen Genusssättigung passt, aber irgendeinen Zusammenhang muss es wohl geben.

 

9:30 Uhr: In der Bibliothek können Brett- und Kartenspiele sowie Bücher entliehen werden. Ort: Bibliothek[735], Deck 7.

Die Bibliothek ist ein Glaskasten, der rechtwinklig von der Rendezvous-Lounge auf Deck 7 abgeht. Holz, Leder und indirekte Beleuchtung vermitteln edles Ambiente, und tatsächlich ist die Bibliothek ein sehr angenehmer Ort, auch wenn sie nur zu unmöglichen Zeiten geöffnet hat und es sich bei den Werken in der einzigen Bücherwand lediglich um Bildbände handelt. Great Villas of Italy findet man hier oder Famous Tea Sets of the Modern World, also die charakteristischen Coffeetable-Books von älteren Herrschaften in Wohnanlagen mit fußläufig erreichbarem, nicht allzu schwerem Golfplatz. Trotzdem, in der Bibliothek lässt sich wunderbar abhängen, und außerdem sind dort die Schachspiele. Ein Highlight der Woche ist sicher das Millionen-Miniteile-Megapuzzle, das, halb fertig auf dem Eichentisch in der Ecke, darauf wartet, dass wieder ein paar alte Leute vorbeikommen und es ein Stückchen weiter vollenden. Im Spielzimmer gleich nebenan läuft eine scheinbar endlose Bridgepartie, jedenfalls sehe ich, wenn ich gegen mich selbst Schach spiele, hinter der Milchglasscheibe immer nur erstarrte Silhouetten.

Die Schachspiele in der Bibliothek der Nadir sind die billigen Plastikdinger von Parker Brothers, die jeder gute Schachspieler einfach gernhaben muss.[736] Ich bin in Schach nicht annähernd so gut wie beim Tischtennis, halte mich aber trotzdem für einen ziemlich guten Spieler. Auf der Nadir spiele ich meistens gegen mich selbst (was längst nicht so öde ist, wie es sich anhört), denn ich bin, bei allem Respekt, zu dem Schluss gekommen, dass der normale 7NC-Kreuzfahrer eher kein Schachgenie ist.

Heute hingegen werde ich in 23 Zügen geschlagen – und zwar von einem neunjährigen Mädchen. Also machen wir es kurz. Sie heißt Deirdre und gehört zu den wenigen Kindern an Bord, die nicht in den Kindergarten (genannt Daycare Grotto) auf Deck 4 weggesperrt werden.[737] Deirdres Mutter liefert sie weder im Kindergarten ab, noch weicht sie sonst von der Seite ihrer Tochter. Sie hat diesen schmallippigen Ausdruck im Gesicht, dieses scharfe Augenglitzern von Eltern, deren Kind irgendetwas ganz besonders gut kann, was andere nicht so gut können.

Dieses und andere Anzeichen einer bevorstehenden Schmach hätte ich erkennen können. Doch ich befand mich gerade in einem Szenario, in dem beide Seiten eine Damenindische Verteidigung errichtet hatten, als dieses Kind auf mich zukommt und mich am Ärmel zieht und fragt, ob ich spielen wolle. Ungelogen, es zieht mich am Ärmel, spricht mich mit Mister an – und das mit Augen so groß wie Frühstücksteller. Rückblickend scheint mir, dass es für neun Jahre doch ein bisschen zu groß war, vor allem diese mutlose Körperhaltung mit den traurig hängenden Schultern hätte mich stutzig machen müssen. Ein solches Abbild ihrer Psyche geben Mädchen erst, wenn sie sehr viel älter sind. Und wie gut dieses Mädchen auch immer Schach spielt, glücklich ist es bestimmt nicht. Aber egal, das tut hier nichts zur Sache.

Deirdre zieht sich einen Stuhl heran und verkündet, dass sie normalerweise lieber die schwarzen Figuren spielt, wobei sie zu meiner Kenntnis hinzufügt, dass die Farbe Schwarz in vielen Kulturen überhaupt nicht mit Tod und Trauer gleichgesetzt werde, sondern eher denselben Symbolwert besitze wie Weiß in den USA, während Weiß wiederum eine morbide Farbe sei. Ich erwidere, dass ich das alles schon weiß, und wir fangen an. Ich rücke mit ein paar Bauern vor, die von Deirdre prompt mit dem Springer bedroht werden. Derweil hat sich Deirdres Mutter hinter dem Sessel ihrer Tochter postiert[738] und verfolgt – mit Ausnahme der flackernden Augen – regungslos das Geschehen. Ich weiß sofort, dass ich für diese Mutter nur Verachtung übrighabe. Sie ist das wandelnde Klischee einer Wunderkindmutter. Dagegen scheint mir Deirdre ganz okay zu sein. Ich habe schon gegen etliche Superkids gespielt, doch spart sich dieses hier wenigstens das hämische Grinsen oder Triumphgeheul. Fast scheint Deirdre ein bisschen traurig, dass ich keine größere Herausforderung für sie darstelle.

Schon nach dem vierten Zug schwant mir nichts Gutes. Mein Fianchetto jedenfalls durchschaut sie sofort und verwendet sogar den Begriff korrekt, wobei sie wiederum ein Mister anhängt. Verdächtig auch die Art, wie ihre kleine Hand nach jedem Zug zur Seite wischt – für mich ein untrügliches Zeichen, dass sie an eine Schachuhr gewöhnt ist. Beim zwölften Zug erledigt ein wohlvorbereitetes Manöver mit Dame und König meine eigene Dame, und von da an ist alles nur noch eine Frage der Zeit. Aber das spielt keine Rolle. Ich war fast dreißig, als ich überhaupt mit Schach angefangen habe. Zug 17, und drei steinalt und verschwistert aussehende Gestalten kommen vom Puzzletisch zu uns herübergewackelt und werden Zeuge, wie ich erst meinen Turm verliere und danach Schlag auf Schlag alles andere. Geschenkt. Weder Deirdre noch ihrer fürchterlichen Mutter unterläuft ein Lächeln, als alles vorbei ist. Ich lächele in die Runde für drei, doch keiner, auch ich nicht, sagt etwas von einer weiteren Partie am folgenden Tag.

 

9:45–10:00 Uhr: Kurz in Kabine 1009/Backbord/außen zum Aufladen meiner psychischen Batterien. Ich esse vier Stück von einer Frucht, die aussieht und schmeckt wie eine übersüße Mini-Mandarine, und schaue mir zum fünften Mal an, wie die Velociraptoren in der chromblitzenden Laborküche hinter diesen eingebildeten Rotznasen von Kindern her sind – nur dass ich ihnen (d. h. den Raptoren) erstmals eine gewisse Sympathie nicht versagen kann.

 

10:00–11:00 Uhr: Drei zeitgleiche Events im Rahmen des Organisierten Vergnügens, alle auf Deck 9/achtern:

Dartturnier: Gut gezielt ist halb getroffen!

Shuffleboard Shuffle: Bringen Sie sich in Schwung

mit dem beliebten Bordspiel!

Tischtennisturnier: Hier können Sie gegen die

Besatzung antreten. Den Siegern winken interessante Preise!

Organisiertes Shuffleboard fand ich schon immer grauenvoll. Alles riecht nach Hinfälligkeit und Tod: ein Spiel, gespielt auf der Oberfläche des Nichts, bei dem das Scheuern des Pucks Gedanken an abgetragene Haut weckt. Mein Verhältnis zu Darts ist von Kindheit her angstbesetzt und geht auf ein haarsträubendes und bis heute unbewältigtes Trauma zurück, auf das ich aus diesem Grund auch nicht näher eingehen will. Jedenfalls meide ich Darts wie die Pest.

Tischtennis hingegen ist ganz mein Ding. Ich bin ein außerordentlich guter Tischtennisspieler. Der Ausdruck »Turnier« im Nadir Daily ist allerdings leicht übertrieben, denn weder existiert eine Spieltabelle, noch gibt es, soweit ich sehen kann, irgendwelche Siegerpokale noch Nadiriten, die überhaupt spielen wollen. Vielleicht ist ja der starke Wind auf dem Achterdeck daran schuld. Trotzdem hat man hier drei Tischtennisplatten aufgestellt (in sicherer Entfernung zum Dartturnier, was in Anbetracht des allgemeinen Spielniveaus sicher eine weise Entscheidung ist), und der »Pingpongprofi« der Nadir (alias »3P«, wie er sich nennt) steht herausfordernd an der Tischmitte und dribbelt den Ball mit dem Schläger zwischen den Beinen hindurch und um sich herum wie einen miniaturisierten Basketball. Als ich meine Fingerknöchel knacken lasse, dreht er sich um. Dreimal bin ich schon hier gewesen, und jedes Mal traf ich nur auf 3P, der mit richtigem Namen Winston heißt. Er und ich sind mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem wir uns nur noch mit einem knappen Nicken begrüßen, wie zwei alte Erzfeinde, die sich die gegenseitige Achtung nicht verweigern.

Unter dem mittleren Tisch befindet sich eine riesige Kiste mit neuen Tischtennisbällen, und wahrscheinlich enthält die Materialkammer hinter dem Netz des Golf-Drive noch weitere davon. Auch dieses Netz ist eine weise Einrichtung, rechnet man die vielen Golfbälle, die andernfalls an den Eisenteilen zerschellen oder gleich hinaus aufs Meer geschlagen würden.[739] Am Schott befindet sich darüber hinaus ein großes Lochbrett mit über einem Dutzend verschiedener Tischtennisschläger, sowohl einfache Holzschläger mit Gumminoppenbeschichtung als auch Profimodelle mit glattem Mehrkomponentenbelag und rutschfestem Griff, aber alle mit dem schicken weiß-blauen Celebrity-Logo.[740]

Wie gesagt, ich betrachte mich als exzellenten Tischtennisspieler[741], aber dann zeigt sich, dass ich noch ein ungleich besserer Outdoor- und Seewindspieler bin. Und obwohl Winston seinen 3P-Titel auf der bewegungsarmen Nadir jederzeit verteidigen könnte, gegen mich verliert er nach neun Spielen 8:1. Dass es in meinem Fall überhaupt zu einer (noch dazu knappen) Niederlage gekommen ist, lag an einigen ziemlich fiesen Böen und einem Netz, das in Höhe und Spannung nicht den I.T.T.F.-Regularien entsprach, wie Winston später einräumte. Aus irgendeinem Grund ist Winston der Meinung, es ginge stillschweigend um meine Full-Color-Spiderman-Cap, das heißt, er bräuchte von fünf Spielen nur drei zu gewinnen und die begehrte Cap wäre sein. Davon kann natürlich keine Rede sein, denn ohne meine Spiderman-Cap könnte ich gar nicht spielen.

Den Pingpongprofi macht Winston übrigens nur im Nebenberuf, hauptamtlich ist er der offizielle Cruise-DJ in der Scorpio Disco auf Deck 8. Mit seiner getönten Hornbrille legt er dort jeden Abend bis in die frühen Morgenstunden auf, umgeben von Batterien von CD-Spielern und dem Steuerpult für die Lightshow. Dies könnte auch seine tranige und leicht weggetretene Spielweise am Morgen erklären. Er ist 26 Jahre alt und sieht, was in der Abteilung Guest Relations normal ist, auf dieselbe unwirkliche Art gut aus wie etwa die Schauspieler in einer Soap-Opera oder die Models aus dem Sear’s-Katalog. Er hat große, braune Kulleraugen und trägt sein kurzes Kräuselhaar in Ambossform rasiert. Den dicht beschichteten Schläger führt er mit dem sogenannten Penholder-Griff, was nur professionell trainierte Spieler tun.

Auf dem Achterdeck ist das Maschinengeräusch der Nadir lauter als anderswo auf dem Schiff und klingt auch nicht so gleichmäßig. 3P-Winston und ich beherrschen das Tischtennisspiel mit jener schlafwandlerischen, zenmäßigen Sicherheit, dass fast der Eindruck entsteht, der Ball spielte mit uns statt wir mit dem Ball, so direkt und automatisch kommen die Hechtsprünge und Pirouetten, die Schmetterbälle und dramatischen Rückhandkonter in letzter Sekunde – vollendete Harmonie zwischen Hand und Auge und Killerinstinkt, aber ganz ohne Nachdenken, sodass wir uns daneben noch unterhalten können.

»Eyh, ich schwör, Mann, voll geil, die Cap. Kann ich die haben?«

»Geht nicht.«

»Ist aber ein echter Motherfucker von Cap. Spiderman. Voll korrekt, Mann.«[742]

»Nee, da hängen Erinnerungen dran. Lange Geschichte. Kann ich hier nicht erzählen.«

Zugegeben, unsere Gespräche sprühten nicht gerade vor Esprit, aber mit niemandem auf dieser 7NC habe ich mich länger unterhalten als mit 3P-Winston.[743] Und genauso wie Tibor verschone ich auch Winston mit meinen Journalistenfragen, obwohl in seinem Fall nicht die Befürchtung im Vordergrund steht, er könne sich irgendwelchen Ärger einhandeln, als vielmehr die schlichte Tatsache, dass er nicht unbedingt das hellste Licht am intellektuellen Kronleuchter der Nadir ist. Berüchtigt die vermeintlich lustigen Versprecher, mit denen er als DJ in der Scorpio Disco seine Ansagen aufpeppt. Er sagt zum Beispiel »Tattenpeller« statt »Plattenteller«, um anschließend hinzuzufügen: »Okay, ich habe gut reden.« Nach diesem Muster läuft das bei ihm ab. Mona und Alice zufolge hat er sich überdies bei der jüngeren Klientel schnell unbeliebt gemacht, weil er lieber glatten Chart-Rap auflegt als die bewährte alte Discomusik.[744]

Im Übrigen ist es einfach nicht nötig, Winston auszufragen, denn er ist eine ungeheure Plaudertasche, wenn er verliert. Sieben diffuse Jahre lang hat er an der University of South Florida studiert, ehe er sich diese »kleine Auszeit« auf der Nadir gegönnt hat, für die er, wie er sagt, »sogar noch einen verdammten Haufen Kohle« kriegt. Er behauptet, schon Haie en masse gesehen zu haben, aber seine Schilderungen bleiben vage, überzeugen mich daher wenig und sind auch nicht zum Fürchten. Wir sind gerade beim fünften Aufschlag im zweiten Spiel. Winston sagt, hier auf See, im Angesicht des Meeres, sei er in den letzten Monaten zu sich gekommen und habe beschlossen, im Herbst ’95 wieder an die Uni zurückzukehren und mehr oder weniger von vorn anzufangen. Hauptfach soll aber diesmal nicht Betriebswirtschaft sein, sondern etwas, das sich »Multimedia-Production« nennt.

»Und dafür gibt’s ein eigenes Seminar?«

»Na ja, es ist eher so ein interdisziplinäres Ding. Aber voll fett, Mann. Die Zukunft liegt sowieso im Home-Bereich. CD-ROM und so ’n Scheiß, weißt schon. Smarte Chips. Digitalkameras und so.«

Ich führe mit 18:12. »Der Sport der Zukunft.«

Winston kann mir da nur zustimmen. »Das sowieso. Ich sag dir, da geht die Reise hin. Datenhighway. Interaktives Fernsehen und so. Virtuelle Realität. Und das ist noch nicht alles. Interaktive virtuelle Realität. Das ist es.«

»Ah, jetzt verstehe ich«, sage ich. Das Match ist beinahe vorbei. »Die Kreuzfahrt der Zukunft ist die Home-Kreuzfahrt. Die Luxusreise durch die Karibik, für die man nicht mal das Haus verlassen muss. Muss mir nur so eine Datentaucherbrille aufsetzen, Elektroden dran und schon kann’s losgehen.«

»Kannste glauben.«

»Keine Passkontrollen mehr, nie mehr seekrank. Kein Wind, kein Sonnenbrand, kein dämliches Gequatsche von irgendwelchem Schiffspersonal.[745] Die totale virtuelle Bewegungslosigkeit, das vollkommene simulierte Wohlfühlprogramm, alles bequem vom Wohnzimmer aus.«

»Eyh, ich sag dir.«

 

11:05 Uhr: Vortrag Schiffsführung. Erfahren Sie von Kapitän Nico alles über unseren Maschinenraum, die Kommandobrücke und weitere »Betriebsgeheimnisse« unseres Schiffs.

Die Nadir kann 1.800 Tonnen Schiffsdiesel bunkern. Davon verbraucht sie etwa 40 bis 70 Tonnen täglich, abhängig von Strömung und Geschwindigkeit. Das Schiff verfügt über zwei Maschinen auf jeder Seite, einen großen »Papa« und einen (vergleichsweise) kleinen »Sohn«.[746] Die Schrauben haben einen Durchmesser von 6 Metern und der Ausstellwinkel der einzelnen Blätter ist um 23,5° verstellbar, womit ein optimales Drehmoment erreicht werden kann. Der Bremsweg bei normaler Marschfahrt von 18 Knoten beträgt 0,9 nautische Meilen. Hoher Seegang kann das Schiff beschleunigen, allerdings passt die technische Begründung dafür nicht mehr auf die Serviette, auf der ich mir Notizen mache. Das Schiff hat ein Ruder, und das Ruder hat dazu noch zwei »Flossen«, wodurch selbst Manöver im 90°-Winkel möglich werden. Mit seinem Englisch gewinnt Captain Nico[747] zwar keinen Dichterwettstreit, aber die Fakten hat er parat. Er ist ungefähr so alt wie ich und sieht dazu noch unverschämt gut aus[748], etwa so wie ein extrem durchtrainierter und sonnengebräunter Paul Auster. Das Ganze findet statt in der Fleet Bar auf Deck 11[749], wo Weiß-Blau und Edelstahl die Akzente setzen und wo es wegen der vielen Fenster so hell ist, dass Captain Nicos begleitende Dias nur als matte Gespenster auf der Leinwand erscheinen. Captain Nico trägt Ray-Bans, aber ohne fluoreszierendes Brillenkettchen. Donnerstag, der 16. März, markiert zugleich den Zenit meiner paranoiden Angst, von Mr. Dermatitis vermittels der Unterdruck-Abwasseranlage in Kabine 1009 beseitigt zu werden, weshalb ich mir vorgenommen habe, den Journalisten nicht allzu sehr heraushängen zu lassen. Nur ganz zu Anfang riskiere ich eine kleine, harmlose Frage, aber selbst da ernte ich eine sarkastische Antwort.

Und zwar sagte mir Captain Nico: »Wie wir Maschinen starten? Jedenfalls nicht mit Schlüssel für Zündung, das Ihnen kann sagen.«

Hämisches Gelächter im Saal.

Es stellt sich heraus, dass das mysteriöse »m. v.« in »m. v. Nadir«, wie das Schiff nämlich offiziell heißt, nichts weiter bedeutet als »motorized vessel«. Gesamtbaukosten der m. v. Nadir: 250.310.000 Dollar. Getauft in 10/92 in Papenburg (BRD) nicht mit einer Flasche Champagner, sondern mit Ouzo. Die drei Generatoren der Nadir haben zusammen eine Leistung von 9,9 Megawatt. Die Brücke liegt hinter dem geheimnisvollen, dreifach gesicherten Schott nahe dem Handtuchwagen im Achterbereich von Deck 11. Die Brücke, »das ist da, wo die Anlagen sind für Radar und Anzeigen von Wetter und diese Dinge«.

Nach ihrem ersten Uniabschluss benötigen Offiziersanwärter noch zwei weitere lange Jahre, um das Einmaleins der Navigationsmathematik zu beherrschen. Zitat: »Auch musse Computer viel lernen.«

Unter den vierzig Zuhörern befinden sich null Frauen. Captain Video darf natürlich nicht fehlen, er hockt mit seinem Camcorder auf dem Edelstahltresen der Fleet Bar und genießt den Augenblick auf seine Weise. Er trägt einen gleißenden Jogginganzug in Braun-Violett, in dem er aussieht wie ein Ara. Allmählich geht mir Captain Video echt auf die Nerven.

Der Mann neben mir hat einen erstklassigen Sonnenbrand und macht sich mit einem Mont-Blanc-Stift Notizen in einem ledergebundenen Notizbuch mit dem geprägten Schriftzug ENGLER.[750] Hätte ich auf dem Weg vom Tischtennis zur Fleet Bar auch nur eine Sekunde nachgedacht, müsste ich jetzt nicht mit einem Leuchtstift auf Papierservietten herumschmieren. Die Nadir-Offiziere, erfahre ich, haben auf Deck 3 ihre Quartiere, ihre Messe und sogar ihre eigene Bar. »In der Brücke wir haben verschiedene Kompass zum Sehen, wo fahren hin.« Außer im Trockendock können die vier Antriebsturbinen nicht abgestellt werden. Werden bestimmte Schrauben einmal nicht gebraucht, kuppelt man sie gewissermaßen aus. Und das Andockmanöver, so zeigt sich jetzt, ist bei Weitem nicht so kompliziert wie gedacht. Captain G. Panagiotakis muss also keine Zugmaschine unter LSD-Einfluss in eine knallenge Parklücke zwängen. Der Engler-Mann neben mir süffelt einen Slippery Nipple für 5,50 Dollar. Dafür hat der Drink zwei Schirmchen. Der Rest der Mannschaft ist auf Deck 2 untergebracht, wo sich auch die Wäscherei befindet und »der Bereich von Abfall und Entsorgung«. Wie alle Megaschiffe kommt die Nadir im Hafen ohne Bugsierschlepper zurecht, denn sie verfügt über »Heckstrahlruder und Bugstrahlruder«.[751]

Die Zuhörerschaft besteht aus glatzköpfigen, korpulenten Herren über fünfzig mit Händen wie Schaufeln. Allesamt Männer, die sich auf der Ochsentour hochgearbeitet haben, keine flinken Seiteneinsteiger mit MBA-Diplom.[752] Bei einigen handelte es sich eindeutig um Navy-Veteranen, andere sind wohl selber Skipper. Auf jeden Fall sind sie ein fachkundiges Publikum und stellen detaillierte Fragen zu Zylinderdurchmesser und Kolbenhub der Maschinen, der Koordination der Schwenkschrauben und dem Unterschied zwischen einem »C-Class Captain« und einem »B-Class Captain«. Meine Versuche, technische Einzelheiten auf der Papierserviette festzuhalten, enden als gelbe, wurstig-verquollene Kringel, U-Bahn-Graffiti nicht unähnlich, während die anderen Kreuzfahrer das mit der Hydrodynamik der Seitenstabilisatoren durchaus noch genauer wissen wollen. Es sind Männer, die immer so aussehen, als rauchten sie gerade eine Zigarre, auch wenn sie gar keine Zigarre im Mund haben. Ihre Haut ist gerötet von Sonne, Gischt und zu vielen Slippery Nipples. Die Höchstgeschwindigkeit eines 7NC-Megaschiffs beträgt 21,4 Knoten. Ich traue mich nicht zu fragen, was ein Knoten ist, nicht in dieser Gesellschaft.

Gleich mehrere Fragen gelten dem Satellitennavigationssystem des Schiffs. Captain Nico erklärt, die Nadir verfüge über ein Ding namens GPS: »Dieses Global Positioning System benutzt die Satelliten am Himmel zur ständigen Positionsbestimmung.« Des Weiteren kommt heraus, dass die Nadir, zumindest auf offener See, von einer Art Autopilot auf Kurs gehalten wird.[753] So, wie ich das verstanden habe, gibt es heutzutage überhaupt keine Steuerräder mehr, zumindest keine richtigen mit Speichen, wie sie beispielsweise in der launigen Fleet Bar an der Wand hängen – komplett mit Blumentopfhalter für den Zimmerfarn.

 

11:50 Uhr: Für richtigen Hunger gibt es auf einer Luxuskreuzfahrt eigentlich keinen Anlass, aber sobald man sich einmal an sieben, acht Mahlzeiten pro Tag gewöhnt hat, mahnt auch der Magen pünktlich und mit demselben schaumigen Leeregefühl Nachschub an.

Das Mittagessen im 5* C. R. ist eigentlich nur etwas für Höchstbetagte und Liebhaber feiner Lebensart, denn dort sind Sonnenhüte und Badesachen verpönt. Ansonsten wird im Windsurf Café gegessen, in bequemer Nähe zur Plexi-Pool-Grotte von Deck 11. Bereits an den beiden automatischen Schiebetüren wird man von zwei großen Obsttonnen im Kokosnusslook empfangen[754], aus denen sich jeweils eine imposante Eisskulptur erhebt: hier eine Madonna, dort ein Wal. Doch gleich dahinter werden die Massen geschickt geteilt und weiterdirigiert, sodass lange Wartezeiten im Windsurf Café kein Thema sind. Viele Kreuzfahrtlinien muten ihren Passagieren allerdings auch heute noch die bovine Herdenfütterung zu.

Gerade im Windsurf Café, wo alles offen zutage liegt und das Essen nicht hinterrücks durch eine geheimnisvolle Schwingtür angerauscht kommt, wird der Qualitätsstandard deutlich. Der Tee stammt nicht einfach von Lipton, sondern von Sir Thomas Lipton und präsentiert sich, einzeln vakuum- und folienverpackt, in pergamentfarbenen Tütchen. Das Fleisch ist praktisch fett- und knorpelfrei und in dieser Qualität in den USA nur in koscheren Delis erhältlich. Der Senf schmeckt noch exklusiver als dieser Greypoupon, dessen Marke ich jedes Mal vergesse aufzuschreiben. Und dann erst der Kaffee! Lustig sprudelt er aus dem Hahn der in gebürstetem Edelstahl schimmernden Kaffeebereiter. Ehrlich, für so einen Kaffee würde man jemanden heiraten. Normalerweise liegt meine neurologische Verträglichkeitsgrenze bei exakt einer Tasse, doch der Windsurf-Kaffee ist so hervorragend[755] und die Auswertung meiner gelben Leuchtstift-Servietten-Graffiti so schwierig, dass ich mein Limit übersteige. Die nachfolgenden Logbucheinträge geraten daher etwas sprunghaft und unkonzentriert.

 

12:40 Uhr: Ich bin auf Deck 9/achtern und schlage von einem Kunstrasengeviert Golfbälle in ein Nylonnetz, das sich bei jedem Treffer gewaltig aufbläht. Steuerbords schleppt sich das Shuffleboard über die Runden. Tischtennis ist offenbar aus, von 3P keine Spur, andere Interessenten lassen sich nicht sehen, und sämtliche Schläger sind weg. Aber verräterische kleine Löcher in den Deckplanken, im Schott, in der Reling, ja sogar auf dem Kunstrasen zeigen, dass es klug war, sich von den Dartleuten fernzuhalten.

 

13:14 Uhr: Ich sitze wieder im Rainbow Room von Deck 8 und schaue einem Herrn namens Ernst zu, dem dubiosen, allgegenwärtigen Kunstauktionator auf der Nadir.[756] Ernst nimmt Gebote entgegen für einen signierten Kunstdruck von Leroy Neimann. Und die Gebote kommen, und das nicht zu knapp. Nur um klarzustellen: Es handelt sich hier nicht um ein Originalblatt, sondern um ein besseres Poster, nur eben signiert.

 

13:30 Uhr: Pool-Possen! Geben Sie sich einen Ruck und machen Sie mit. Cruise-Director Scott Peterson und seine Animateure erwarten Sie zur Spaßolympiade. Unter den kritischen Augen der versammelten Damenwelt werden unter anderem die schönsten Männerbeine gekürt.

Mit ersten Anzeichen einer Koffeinvergiftung, den Kopf auf Anraten eines Animateurs in eine Celebrity-Cruises-Gratisbadekappe gequetscht, gebe ich mir einen Ruck und mache mit bei vorgenannten Possen, die hauptsächlich aus einer Art Ritterspiel bestehen, bei dem man sich im Becken rittlings auf einen schwimmenden, mit Vaseline bestrichenen Plastikbaumstamm setzt und versucht, den Gegner vermittels eines mit Luftballons gefüllten Kopfkissenbezugs in die schleimige Brühe zu bollern. Erst sind die Mädchen dran, anschließend die Jungs. Zwei Runden überstehe ich, dann werde ich von einem behaarten Hulk aus Milwaukee ausgeschaltet – der Flitterwöchner hat mich voll mit der Faust erwischt. Nun, ich gebe zu, das kann passieren, besonders dann, wenn die Leute das Gleichgewicht verlieren und den drohenden Sturz abwenden wollen, indem sie sich weit nach vorn beugen.[757] Aber der Schlag reißt mir fast die Badekappe vom Kopf, ehe ich steuerbordseits ins Wasser kippe, das nicht nur durch einen ausgesprochen hohen Na-Gehalt besticht, sondern auch durch eine irisierende Vaselineschicht an der Oberfläche. Völlig besudelt und belämmert von dem empfangenen Schlag, entsteige ich dem Becken und lande schließlich bei der Endausscheidung um die schönsten Männerbeine lediglich auf einem kläglichen dritten Platz. Zwar hatte ich mir, wie mir versichert wurde, durchaus berechtigte Hoffnungen auf den Titelgewinn machen dürfen, doch brachte mir, der attischen Grazie meiner Beine zum Trotz, das dämliche Gesamtbild (Badekappe schief, Miene wie beleidigte Leberwurst plus geschwollenes Schielauge) bei den Jurorinnen offenbar einige Minuspunkte ein.

 

14:10 Uhr: Offenbar ist das hier der Kurs »Künstlerisches Gestalten«. Ich befinde mich in einem Hinterzimmer des Windsurf Café, und abgesehen davon, dass ich hier der einzige Mann unter siebzig bin und am geplanten Kunstprojekt auf den Tischen mit Eisstielen und Krepppapier und einer Art Sekundenkleber gearbeitet wird, dem ich mit meinen zitternden, überkoffeinierten Händen lieber nicht zu nahe komme, habe ich keine Ahnung, was das Ganze soll. 14:15 Uhr: Fortsetzung des Kunstprojekts im Herrenklo neben den Aufzügen von Deck 11/Bug. Dort befinden sich vier Pissoirs und drei ausgewachsene Toiletten, allesamt mit Anschluss an die Unterdruck-Abwasseranlage, welche, aktiviert man sie geschwind hintereinander, zusammen einen Flatterakkord ergeben wie das jubelnde Des-Gis-Melisma am Ende jenes mittelalterlichen Tenebrae Factae Sunt, das 1983 mit den Wiener Sängerknaben eingespielt wurde (absolute Jahrhundertaufnahme!). 14:20 Uhr: Weiter zum Olympic Health Club auf Deck 12, dort im hinteren, von Steiner of London besetzten Teil[758], wo dieselben samthäutigen Französinnen wirken wie schon an Pier 21, dort frage ich, ob ich nicht mal bei einer dieser »Phytomer/Ionithermie Combination Treatment DeToxifying Inch Loss Treatments« zugucken kann, von denen einige der fülligeren Damen an Bord so geschwärmt haben. Worauf mir mitgeteilt wird, dass Demonstrationen von P./I. C. T. D.-/T. I. L. T.[759] wg. der unvermeidbaren Nacktheit nicht vorgesehen seien, es sei denn als Objekt der Behandlung. Bei dem genannten Preis allerdings und nicht zuletzt aufgrund der Erinnerung an verschmorte Nasenhaare im Rahmen von Chemiekurs 205 anno 1983 fällt mir der Verzicht auf ein zusätzliches Verwöhnprogramm leicht. Wer sich der Pflegeorgie im großen Stil nicht unterziehen will, dem versuchen die Lotion-Ladys zumindest eine klitzekleine Gesichtsmaske nahezubringen, von der »bereits eine steigend große Zahl« von männlichen Passagieren profitiert habe, aber eine Gesichtsmaske will ich ebenfalls nicht, denn die hätte mir die halb abgepellte Haut vollständig abgezogen. 14:25 Uhr: Ich befinde mich auf dem kleinen Klo des Olympic Health Club, eine Einlochanlage, von der höchstens zu bemerken ist, dass aus dem Deckenlautsprecher ein Endlosband mit Olivia Newton-Johns »Let’s Get Physical« läuft. Okay, ich geb’s zu: Zwischen den einzelnen UV-Bombardements auf dem Sonnendeck war ich einige Male im Olympic Health Club und habe ein paar Eisen gestemmt – die hier jedoch eher aus einer hochglanzpolierten Hightech-Titanlegierung zu sein scheinen. Der Trainingsraum gehört zur vollverspiegelten Sorte und zwingt einen, sich der eigenen Physis zu stellen, was ebenso entsetzlich ist wie verführerisch, und überall stehen große insektenhafte Maschinen, die den Bewegungsablauf und den Energieverbrauch des Menschen auf Treppen, Ruderbooten, Fahrrädern und schlecht gewachsten Langlaufskis usw. nachahmen und ausgerüstet sind mit Pulsmesser sowie Kopfhörer. Und auf diesen Maschinen schwitzen Leute in Stretchklamotten, die man (also die Leute) am liebsten zur Seite nehmen würde, um ihnen mit allem gebotenen Takt den Rat zu geben, niemals wieder in solche Sachen zu steigen.

 

14:30 Uhr: Einmal mehr im guten alten Rainbow Room. Man gibt das Stück »Hinter den Kulissen«: Lassen Sie sich von Cruise-Director Scott Peterson auf den Arbeitsplatz Kreuzfahrtschiff entführen!

Scott Peterson, ein 39-jähriger Dauerlächler mit spröde abstehenden Haaren, kleinem Schnurrbart und dicker Rolex. Scott Peterson zählt zu jenen Menschen, für die weiße Turnschuhe (ohne Socken) und mintgrüne Lacoste-Shirts einst erfunden wurden. Für mich gehört er außerdem zu den unsympathischsten Nadir-Mitarbeitern überhaupt, auch wenn seine Gegenwart eher nur ärgerlich ist und längst nicht solche Hass-/Angstgefühle in mir auslöst wie ein Mr. Dermatitis.

Seine ganze Art lässt sich am besten dadurch beschreiben, dass er anscheinend ständig für ein Foto posiert, das niemand macht.[760] Er steigt auf das niedrige messingverkleidete Podium, setzt sich – falsch herum wie eine Cabaret-Diseuse – auf einen Stuhl und legt los. Im Saal sind etwa fünfzig Leute, darunter auch wohl einige echte Fans, wie ich zugeben muss, also Leute, die ihm gern zuhören, obwohl es auch hier weit eher um die Person Scott Peterson geht als um den Arbeitsplatz Nadir. Zentrale Themen sind Kindheit und Jugend von Scott Peterson; wie sich Scott Peterson zum ersten Mal für Kreuzfahrtschiffe interessierte; wie Scott Peterson und sein Zimmergenosse vom College ihren ersten Job auf einem Kreuzfahrtschiff landeten; ein paar echte Schoten über das, was Scott Peterson in den ersten Monaten an Bord alles vermasselt hat; alle die Promis, denen Scott Peterson in seiner Karriere schon begegnet ist und denen Scott Peterson die Hand schütteln durfte; wie gut Scott Peterson mit allen Kollegen an Bord klarkommt; wie gern Scott Peterson überhaupt auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet; wie Scott Peterson die ehemalige Kollegin und spätere Mrs. Scott Peterson auf einem Kreuzfahrtschiff kennen- und lieben gelernt hat; wie Mrs. Scott Peterson aber jetzt auf einem anderen Kreuzfahrtschiff arbeitet, was die Beziehung auf eine harte Probe stellt, wenn man sich nur alle sechs Wochen sieht, wodurch ja vieles, was für andere ganz selbstverständlich ist, also Nähe und Vertrautheit, eben nicht mehr so selbstverständlich ist, wenn man wie Mr. und Mrs. Scott Peterson auf verschiedenen Kreuzfahrtschiffen arbeitet, außer jetzt, wo er, Scott Peterson, schon ganz aufgeregt ist, weil er dem verehrten Publikum mitteilen kann, dass die leibhaftige Mrs. Scott Peterson zurzeit ihren wohlverdienten Urlaub mache und das sogar, was ihm eine ganz besondere Freude sei, hier auf der Nadir und, man mag es gar nicht glauben, sogar hier und jetzt im Saal anwesend sei und ob Mrs. S. P. nicht mal kurz aufstehen und sich verbeugen wolle.

Ich schwöre, ich übertreibe nicht. Ein Sultan der Selbstdarstellung und so oberpeinlich, dass man schreiend hinauslaufen möchte. Doch gerade als ich mich anschicke zu gehen, weil ich das heiß ersehnte Skeetschießen um 15:00 Uhr nicht verpassen will, holt Scott Peterson zu einer Anekdote aus, die genau das zum Thema macht, was mich an der Nadir ängstigt und fasziniert, und so bleibe ich hocken und schreibe mit: Wie uns Scott Peterson erzählt, wie Mrs. Scott Peterson einmal unter der Dusche stand, nämlich in Mr. und Mrs. Scott Petersons Suite auf Deck 3, noch gar nicht so lange her, und wie Mrs. Scott Peterson plötzlich (hier die tastende Geste nach einem angemessen delikaten Ausdruck), plötzlich ein menschliches Bedürfnis verspürte. So weit, so gut. Mrs. Scott Peterson, nass von Kopf bis Fuß, verlässt also die Duschkabine und setzt sich auf Scott Petersons Privattoilette. Kommentar von Scott Peterson: Wie die Anwesenden sicher bemerkt hätten, seien die Toiletten der m. v. Nadir angeschlossen an ein hochmodernes Unterdruck-Abwassersystem mit einer relativ unzimperlichen Spülung. Aufwallendes Gelächter zeigt mir, dass offenbar auch andere Nadiriten Angst vor ihrem Klo haben. Mrs. Scott Peterson[761] versinkt derweil immer tiefer in ihrem lachsfarbenen Stuhl. Aber Scott Peterson fährt unbeirrt fort: Wie sich also Mrs. Scott Peterson – nackt und nach wie vor nass – auf dem Toilettensitz niederlässt und der Natur ihren Lauf lässt und nach getanem Werk den Spülknopf drückt und … wie es vermutlich dem nassen Zustand von Mrs. Scott Peterson geschuldet ist, dass die schier unglaubliche Saugkraft des hochmodernen Unterdruck-Abwassersystems beginnt, Mrs. Scott Peterson durch den Abfluss in die Tiefe zu ziehen.[762] Doch allem Anschein nach ist Mrs. Scott Peterson etwas zu breit, um wirklich abgesaugt und in ein fäkalisches Nirwana geschleudert zu werden. Nein, Mrs. Scott Peterson hängt fest, eingeklemmt über dem trichterförmigen Loch, und kommt aus eigener Kraft nicht mehr heraus und ist überdies splitternackt und schreit um Hilfe. (Inzwischen interessiert sich die echte Mrs. Scott Peterson intensiv für etwas unter ihrem Tisch, und aus meiner Warte ist nur noch ihre gegerbte, sommersprossige Schulter zu sehen.) Dies hörend, eilt Scott Peterson sogleich ins Bad, nachdem er gerade noch vor dem riesigen Schlafzimmerspiegel sein bekanntes Servicelächeln geübt hat.[763] Eilt ins Bad, um zu sehen, was passiert ist, und versucht, die hilflos Strampelnde, deren angenapfte Pobacken und Kniekehlen schon violett angelaufen sind, aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Doch die fürchterliche Unterdruck-Abwasseranlage ist stärker und lässt ihre Beute nicht los, worauf Scott Peterson, geistesgegenwärtig, wie er ist, zum Telefon greift und einen der Bordklempner anruft. Und der Bordklempner sagt: »Jawohl, Sir, Mr. Peterson, bin schon unterwegs.« Und Scott Peterson rennt zurück ins Bad, um Mrs. Scott Peterson mitzuteilen, dass Rettung naht. Hier erst fällt Mrs. Scott Peterson auf, dass sie unbekleidet ist und dass die xenonartige Badezimmerbeleuchtung nicht nur ihre ektomorphen Brüste ausleuchtet, sondern auch jenen Teil ihrer höchst persönlichen Vulva, der über den saugstarken Toilettenrand hinausragt.[764] Voller Entsetzen kreischt sie auf ihre britische Art, er möge ihr doch »for the bloody love of Christ« etwas holen, womit sie ihre gesetzlich angetraute Blöße vor dem geilen Blick der südländischen Arbeiterklasse bedecken könne. Und Scott Peterson läuft und kommt mit Mrs. Scott Petersons Lieblingssonnenhut zurück, einem großen Sombrero, derselbe Sombrero übrigens, den Scott Petersons über alles geliebte Frau auch in diesem Moment auf dem Kopf … oder vielmehr bis eben noch getragen habe. Jedenfalls, durch das umsichtige und schnelle Handeln von Scott Peterson wird dieser Sombrero vom Wohnzimmer ins Badezimmer verbracht und verschafft der gekrümmt vornübergebeugten Mrs. Scott Peterson die notwendige Deckung sowohl für ihre primären als auch sekundären Geschlechtsmerkmale. Und der Schiffsklempner klopft und tritt ein, ein Schrank von Kerl, ölverschmiert und außer Atem, mit klirrendem Werkzeuggürtel und garantiert Ausländer, und steht schließlich im Bad und fängt an zu messen und hin und her zu rechnen und sagt schließlich zu Mr. Scott Peterson, das mit seiner Frau sei nicht so schlimm, die könne er aus dem Klo befreien, schwierig aber würde es mit dem Mexikaner in Mrs. Scott Peterson.

 

13:05 Uhr: Ich schaue kurz auf Deck 7 vorbei. Dort in der Celebrity Show Lounge laufen soeben die Proben für die morgige Passenger Talent Show. Zwei texanische Studenten mit Stoppelschnitt und Sonnenbrand legen mit »Shake Your Groove Thing« eine Tanznummer hin, in der nichts passiert und nichts zusammenpasst. Assistant-Cruise-Director »Dave the Bingo Boy« koordiniert die Aktivitäten von seinem Regiestuhl am linken Bühnenrand aus. Ein siebzigjähriger Greis aus Halifax, Virginia, erzählt vier Ausländerwitze und bringt den Song »One Day at a Time (Sweet Jesus)«. Ein pensionierter Immobilienmakler von Century 21 aus Idaho steuert ein langes Schlagzeugsolo zu »Caravan« bei. Die große Talentshow ist offenbar ebenso 7NC-Tradition wie der Kostümball am Dienstag.[765] Einige Nadiriten haben ihren Auftritt seit Langem geplant und ihre eigenen Kostüme, Musikkassetten und Requisiten mitgebracht. Ein biegsames Paar aus Kanada präsentiert einen Tango, an dem alles stimmt, einschließlich der schwarzen Lackschuhe und der Rose zwischen den Zähnen. Höhepunkt der Talentshow ist offenbar eine Serie von vier Comedydarbietungen, in denen ausnahmslos Opas auftreten. Einer nach dem anderen schleppt sich auf die Bühne. Der erste bewegt sich mit einer Dreifußgehhilfe. Der zweite trägt eine Krawatte, die irgendwie an ein Denveromelette erinnert – lecker: mit Kochschinken, Zwiebeln und Käse. Ein weiterer stottert zum Gotterbarmen. Was folgt, sind vier austauschbare Vorführungen mit Humor wie aus einer frisch ausgebuddelten Fünfzigerjahre-Zeitkapsel: lähmende Witzchen über die Unmöglichkeit, Frauen zu verstehen, oder darüber, dass Männer nichts lieber mögen als Golf und Ehefrauen nichts lieber tun, als sie davon abzuhalten usw. Das Ganze ist so rückhaltlos und unverschämt uncool, dass ich auf einmal mit einer Mischung aus Mitleid, Bewunderung und Hilflosigkeit an meine Großeltern zurückdenke. Einer der teilnehmenden Künstler nennt seinen Auftritt am kommenden Abend einen »Gig«. Und der mit der Dreifußgehhilfe unterbricht plötzlich seinen Witz über das wg. Golf verpasste Begräbnis der eigenen Ehefrau, indem er mit seiner Krücke auf Dave the Bingo Boy zeigt und umgehend präzise Auskunft darüber verlangt, mit wie vielen Zuschauern bei der Talentshow zu rechnen sei. Darauf meint Dave the Bingo Boy achselzuckend und ohne seinen Blick von der Nagelfeile zu nehmen, das sei schwer zu sagen und eben von Woche zu Woche verschieden. Worauf der Alte wiederum mit der Krücke fuchtelt und droht, dann solle er, Dave, sich gefälligst darum kümmern, er für seine Person hasse es, vor leerem Haus zu spielen.

 

13:20 Uhr: Der Nadir Daily hat verschwiegen, dass es sich beim Skeetschießen um einen Wettbewerb handelt. Jeder Schuss kostet 1,00 Dollar, aber man muss die Patronen in Zehnerpackungen kaufen. Für den besten Schützen gibt es eine Plakette in Gewehrform. Ich komme verspätet auf das Achterdeck 8, die Ballerei hat schon begonnen. Ein Nadirit schießt gerade, die anderen warten in der Schlange, bis sie dran sind. Unten zieht die Nadir eine riesige v-förmige Schaumschleppe hinter sich her. Zwei muffige griechische Unteroffiziere leiten die Show, und trotz Ohrschutz, Flintenlärm und ihrer mangelhaften Englischkenntnisse löst meine Verspätung und die Bitte, die Rechnung an Harper’s zu schicken, eine längere Diskussion aus. Sie ahnen nicht, dass ich noch nie ein Schießgewehr in der Hand gehabt habe, ja dass ich kaum weiß, wo die Kugel herauskommt.

Ich bin als Siebter und Letzter an der Reihe. Die anderen Teilnehmer sprechen von »Traps« oder »Tauben«, tatsächlich aber gleicht die Wurfscheibe einem kleinen, leuchtend orange angemalten Diskus – dieselbe Farbe wie die von Signalstreifen auf Jagdkleidung. Das Orange, nehme ich an, dient der besseren Sichtbarkeit, und da muss etwas dran sein, denn ein Typ mit Pilotenbrille und kurz geschorenem Vollbart holt tatsächlich eine Scheibe nach der anderen vom Himmel.

Ich gehe davon aus, dass das Skeet-Ritual aus Film, Funk und Fernsehen im Wesentlichen bekannt ist: der Helfer an dieser kleinen katapultartigen Maschine, die Vorhaltestellung des Schützen, das Abrufen der Scheibe mit dem Kommando »Pull!«, dann das dumpfe Geräusch des Katapults, gefolgt von einem Katännnngg, der spröde Knall der Waffe und schließlich das Zerbersten der glücklosen Scheibe mitten in der Luft. In der Schlange warten ausschließlich Männer, obwohl auch einige Frauen da sind. Sie stehen hinter uns oder auf der Nock von Deck 9 und gucken zu.

Und während ich warte, bis ich an der Reihe bin, fallen mir drei Dinge auf: (a) das, was sich in Filmen wie ein trockener Knall anhört, wird hier zum Donner, aber ich schätze mal, so klingt eben eine echte Flinte; (b) Skeetschießen sieht vergleichsweise einfach aus – wenn sogar der dickliche ältere Typ, der an die Stelle des geschorenen Vollbarts getreten ist, die Scheiben reihenweise zerfetzt, sodass die orangefarbenen Trümmer in einem fort ins Kielwasser der Nadir regnen; (c) die Peripetie der getroffenen Scheibe[766]: die unterbrochene Flugbahn, das eruptierende Material, die niedertrudelnden Einzelteile, deren Anblick an die Challenger-Katastrophe von 1986 erinnert.

Auffälligkeit (b) erweist sich als Illusion, in etwa vergleichbar mit der Annahme, Golf sei ein leichtes Spiel, wenn man es nur aus dem Fernsehen kennt und noch nie einen Schläger in der Hand gehabt hat. Die Schützen, die vor mir dran sind, tun nachlässig, fast verächtlich und treffen trotzdem mindestens acht von zehn Scheiben. Aber das ist kein Wunder, denn bei dreien der sechs Teilnehmer stellt sich heraus, dass sie über eine militärische Kampfausbildung verfügen. Die beiden Yuppies sind Brüder, gehören zum Ostküstenadel und können dank ihres Herrn »Papa« (Betonung auf der zweiten Silbe) alljährlich im südlichen Kanada mehrere Wochen lang Erfahrungen in der anspruchsvollen Vogeljagd sammeln. Der Letzte kommt aus North Carolina und bringt sogar seinen eigenen Ohrschutz mit und, in einem samtgepolsterten Kasten, seine persönliche Flinte. Er besitzt nebenbei auch einen privaten Schießplatz hinterm Haus.[767] Als ich an der Reihe bin, gibt man mir einen Ohrenschutz, der nicht passt und an dem noch das Fett anderer Leute klebt. Die Flinte selbst ist erschreckend schwer, und was so stinkt, sagt man mir, sei Kordit, spiralig qualmt es noch immer aus der Mündung. Mein Vorgänger, Koreaveteran, hat als Erster volle zehn von zehn Tauben erlegt. Die beiden Yuppie-Brüder, die Einzigen aus meiner Altersgruppe, kommen beide immerhin auf neun und mustern mich cool von der Steuerbordreling aus. Die lässige Art, mit der sie dort lehnen, lernt man nur auf teuren Privatcolleges. Die griechischen Unteroffiziere ödet alles nur unheimlich an. Man gibt mir die Waffe und den guten Rat, mich »mit der Hüfte an der Heckreling« abzustützen, dann soll ich den Schaft der Flinte fest gegen … »nein, nicht die Schulter, wo der Arm den Lauf mit hält, sondern die andere, wo den Abzug zieht, klar?«. Durch dieses Missverständnis verziehe ich die Waffe derart, dass sich der Grieche am Katapult schleunigst zu Boden wirft und rollend Deckung sucht.

Okay, ich will die Geschichte jetzt nicht zu sehr auswalzen. Ich will nur sagen, dass meine Trefferquote deutlich unter derjenigen aller anderen Teilnehmer lag. Und für alle Neulinge, die ebenfalls daran denken, vom rollenden Achterdeck eines 7NC-Megaschiffs aus nach Tontauben zu ballern, nur so viel: (1) Ein gewisses Maß an Unfähigkeit im Umgang mit einer Feuerwaffe ruft automatisch lauter wohlmeinende Leute auf den Plan, die einem allerlei Tipps und Tricks sowie goldene Worte von Papa mitgeben wollen. (2) Viele dieser Ratschläge lassen sich, bezogen auf die fliegende Scheibe, mit dem Wort »mitschwingen« oder »nachführen« zusammenfassen, aber keiner erklärt einem, ob das nun heißt, dass man mit dem Lauf der Flugbahn der Scheibe folgt oder ob man sie irgendwo abpasst und dann schießt. (3) Skeetschießen im Fernsehen ist insofern realistisch, als man wirklich »Pull!« ruft und das Wurfding tatsächlich Katännnngg macht. (4) Was immer ein »empfindlicher Abzug« ist, eine Skeet-Flinte besitzt jedenfalls keinen. (5) Wenn man noch nie ein Gewehr abgefeuert hat, wird – aus einsichtigen Gründen – der Drang übermächtig, im Moment des Knalls die Augen zu schließen. (6) Der bekannte »Rückschlag« einer Waffe ist übrigens wörtlich zu verstehen: Der Schlag ist schmerzhaft und wirft einen mehrere Schritt nach hinten. Und wenn man dann mit rudernden Armen das Gleichgewicht wiederzugewinnen sucht, erlebt man im näheren Umkreis Szenen einer Massenpanik. Alles schreit und geht in Deckung, und bei meinem folgenden Schuss haben sich die Reihen der Zuschauer auf Deck 9 verdächtig gelichtet.

Und noch etwas (7): Die Bahn einer nicht getroffenen Scheibe vor der kolossalen Lapislazulikuppel des Himmels gleicht derjenigen der Sonne – eine orangefarbene Parabel von rechts nach links. Und wenn die Scheibe schließlich im Meer versinkt, dann mit der Kante zuerst, ohne Wellenschlag, tieftraurig.

 

16:00–17:00 Uhr: Lacuna.

 

17:00–18:00 Uhr: Duschen, Körperpflege und zum dritten Mal den herzzerreißenden Schluss von André angeschaut.

 

Anschließend versucht, mit Duschdampf meine gute Hose und mein leichenkärrnerschwarzes Sakko zu entknittern, denn für das Abendessen hat der Nadir Daily um »formelle Kleidung« gebeten.[768]

 

18:15 Uhr: Besetzung und Atmosphäre an T64 des 5* C. R. wurden ja bereits erörtert. Der heutige Abend stellt jedoch eine Ausnahme dar, denn die Stimmung ist mies. Man erinnere sich: Die grässliche Mona hat Tibor und dem Maître d’ gegenüber den Donnerstag als ihren Geburtstag geltend gemacht, und jetzt ist geschmückt, über dem Stuhl schwebt ein Luftballon, eine Torte wird aufgefahren, und Wojtek und Kollegen versammeln sich zur Geburtstagsmazurka um Tisch 64. Und Mona strahlt übers ganze Gesicht, schlägt sogar, als der Tibster vor ihr die Torte absetzt, vor Freude die Hände vors Gesicht wie ein kleines halb verhungertes Mädchen. Und Monas Großeltern schweigen in gedankenleerer Nachsicht. Soweit ich sehen kann, fällt ihnen zu dieser Farce einfach nichts mehr ein.

Geschwiegen hat auch Alice, deren Geburtstag – man erinnere sich – tatsächlich an diesem Donnerstag ist. Aber aus stillem Protest hat sie Tibor diesen Sachverhalt unterschlagen – und ist jetzt beleidigt wie ein verwöhntes Kind, das einem anderen verwöhnten Kind den Vorrang lassen muss, obwohl er dem anderen nicht gebührt.

Ergebnis: Die verbitterte Alice und ich verbünden uns in unserer abgrundtiefen Ablehnung gegenüber Mona. Unsere heimlichen Gesten des Erstechens, Erwürgens und Ohrfeigens – gemeint ist Mona – fliegen nur so hin und her und sind, wie ich zugeben muss, auch für mich ein wichtiger emotionaler Ausgleich nach den Kümmernissen eines langen Tages.[769]

Doch der eigentliche Konflikt an diesem Abend entsteht durch Alice’ Mutter und meine neue Freundin Trudy. Zwar ist Trudys Portulak-Endivien-Salat mit Pilau und zarten Kalbsmedaillons einfach zu göttlich für kritische Kommentare, doch macht sie die ganze Woche lang keinen Hehl aus ihrer Ansicht, dass man dieses eben von Alice’ festem Freund Patrick und Alice’ fester Beziehung mit selbigem[770] nicht behaupten könne. Hinzu kommt, dass Trudy die Gesten und das halblaute Gekicher zwischen Alice und mir als Romanze missversteht und deshalb einmal mehr die 10×15-Fotos von Alice aus der Handtasche kramt, um in Wort und Bild und reizenden kleinen Kindheitsanekdoten Alice ins rechte Licht zu rücken, die wie gesagt viel zu gut sei für diesen Patrick. Dass Trudy sich hier wie eine Kupplerin aufführt, wäre schon schlimm genug für die Stimmung am Tisch (vor allem im Zusammenspiel mit Esther), doch trotz des gestohlenen Geburtstags, trotz dieser verhassten Mona, bemerkt Alice relativ schnell, was gespielt wird, und hält voll dagegen. Aus Angst, ich könnte unsere Anti-Mona-Allianz auf ähnliche Weise missdeuten wie ihre Mutter, beginnt sie vor mir mit einem Ophelia-Monolog voller zusammenhangloser Hymnen auf ihren Patrick. Daraufhin schiefmäulige Grimassen seitens Trudy, während ihr Messer zugleich mit solcher Brutalität durch das zarte Kalbsmedaillon metzelt, dass das 5*-C.-R.-Porzellan aufkreischt und allen am Tisch einen Schauer über den Rücken jagt. Die wachsende Spannung treibt mir frischen Achselschweiß aus den Poren, der nach kurzer Zeit sogar an die Ausdehnung der eingetrockneten Originalflecken von Pier 21 heranreicht. Und als Tibor nach dem Hauptgang seine übliche Runde macht und fragt »wie war«, antworte ich zum ersten Mal seit Einführung der neuen Ehrlichkeit lediglich mit »gut, wirklich gut«.

 

20:45 Uhr.

CELEBRITY SHOWTIME

Celebrity Cruises präsentiert

 

HYPNOTISEUR

NIGEL ELLERY

 

Moderation: Cruise-Director Scott Peterson

Bitte beachten Sie, dass die Anfertigung von Bild- und Tonaufzeichnungen in allen Veranstaltungen streng verboten ist. Kinder werden gebeten, sich während der gesamten Dauer der Vorstellung bei ihren Eltern aufzuhalten.

 

Die erste Sitzreihe ist für Kinder ganz gesperrt.

 

CELEBRITY SHOW LOUNGE

In weiteren Celebrity-Showtime-Veranstaltungen dieser Woche traten auf: ein vietnamesischer Komiker, der mit Kettensägen jonglierte; ein Gesangsduo (Ehepaar), das sich auf beliebte Broadwaymelodien spezialisiert hatte (Liebeslieder); ein Imitator namens Paul Tanner, der mit Nummern von Engelbert Humperdinck, Tom Jones und besonders Perry Como bei Trudy und Esther von Tisch 64 schwer Eindruck gemacht hat. Aber nicht nur dort. Auf vielfachen Wunsch, wie es hieß, wurde im Anschluss an die morgige Talentshow kurzfristig eine Zugabe von Paul Tanner ins Programm genommen.[771]

Der Hypnotiseur Nigel Ellery ist Engländer[772] und ähnelt verdächtig dem Fünfzigerjahre-B-Movie-Schurken Kevin McCarthy. Cruise-Director Scott Peterson informiert uns in seiner Einleitung, dass Nigel Ellery in seiner Karriere »bereits die Ehre hatte, sowohl die Queen als auch den Dalai Lama in Hypnose zu versetzen«.[773] Nigel Ellerys Vorstellung kombiniert hypnotischen Hokuspokus mit gängiger Comedymasche und Publikumsverarsche. Doch auf mich wirkte sie am Ende wie ein Gleichnis auf die gesamte 7NC-Erlebniswelt, ein symbolisches Fazit so treffend, dass ich einen Moment lang dachte, es handle sich um ein Verwöhnprogramm nur für Journalisten: die Story, für die man »rein gar nichts« tun muss.

Zunächst aber erfahren wir, dass nicht jeder für Hypnose empfänglich ist. Nigel Ellery veranstaltet daher mit den über 300 Leuten im Saal einen Test[774], um festzustellen, wer für den Spaß, der da kommen soll, ausreichend »suggestibel« ist.

Als Nächstes werden die sechs bestgeeigneten Kandidaten, meistenteils noch in hypnotischer Verrenkung von dem Vorabtest, auf die Bühne gelotst, wo Nigel Ellery ihnen lang und breit versichert, dass nichts von dem, was mit ihnen geschieht, gegen ihren Willen geschieht – also alles ganz harmlos und freiwillig. Worauf er gleich einmal eine junge Frau aus Akron davon überzeugt, eine spanische Männerstimme zu hören, die direkt aus dem linken Körbchen ihres BH kommt. Eine zweite Frau bringt er dazu, einen entsetzlichen Gestank wahrzunehmen. Dieser steigt angeblich von ihrem Sitznachbarn auf, einem Herrn, der plötzlich der Meinung ist, sein Stuhl erhitze sich in regelmäßigen Abständen auf 100° C. Die anderen drei Subjekte tanzen entweder Flamenco oder wähnen sich nicht nur nackt, sondern auch so erbärmlich klein ausgestattet, dass sie auf ein bestimmtes Wort von Nigel Ellery rufen: »Mami, Mami, ich will auch so ein Zipfelchen!« Das Publikum lacht stets pünktlich an der richtigen Stelle. Und abgesehen von der Symbolkraft der Szene ist es sicher auch komisch, wenn sich fein gemachte, erwachsene Passagiere auf eine Art verhalten, die sie selbst nicht begreifen. Es ist, als ermöglichte ihnen die Hypnose, derart effektive Fantasiegebilde zu konstruieren, dass sie als Fantasien nicht mehr durchschaubar sind. Als gehörte ihnen der eigene Kopf nicht mehr. Was natürlich komisch ist.

Das universale 7NC-Symbol ist vielleicht jedoch Nigel Ellery selbst. Die unverhohlene Langeweile und Feindseligkeit, mit der er seinem Publikum begegnet, ist auf vertrackte Weise integraler Bestandteil der Show. Seine offen zur Schau gestellte Unlust verleiht ihm dieselbe Autorität, die uns auch bei Polizisten und Ärzten Vertrauen einflößt. Seine Feindseligkeit funktioniert nach demselben Prinzip wie bei Don Rickles in Las Vegas: Die meisten Lacher kriegt, wer am gemeinsten zu den Leuten ist. Und die von Nigel Ellery verkörperte Bühnenfigur ist der Fiesling par excellence. Abfällig imitiert er den amerikanischen Akzent der Passagiere und zieht die Fragen sowohl der Kandidaten als auch des Publikums ins Lächerliche. Mit seinem Rasputinblick fixiert er einzelne Zuschauer und prophezeit ihnen, sie würden um exakt 3:00 Uhr in der Frühe ins Bett machen oder in genau zwei Wochen an ihrem Arbeitsplatz die Hosen herunterlassen. Die Zuschauer, in der Mehrzahl um die fünfzig, schmeißen sich weg vor Lachen, schlagen sich auf die Schenkel und müssen sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen wischen. Nach jeder neuen Bosheit von Ellery folgt dieser maskenhafte Krampf der Gesichtsmuskulatur, dieses aufgeregte Wedeln mit der Hand, das sagen will: Alles nur ein Witz, in Wirklichkeit ist er nicht so, in Wirklichkeit mag er uns. Und wir sind ja auch so was von ein tolles Publikum, wir verstehen nämlich Spaß. Wir verstehen Spaß und wir wollen Spaß, das ist alles.

Ich hingegen finde die Vorstellung von Nigel Ellery nach einem vollen Tag des Organisierten Vergnügens weder sonderlich aufregend noch unterhaltsam, allerdings habe ich hier an Bord auch schon deprimierendere Sachen erlebt. Aber das Ganze berührt mich so seltsam, als sei hier in dieser bizarren Darbietung die Zauberformel, der Schlüssel für das Mysterium Luxuskreuzfahrt zu finden. Denn da sind Leute, die sich von jemandem unterhalten lassen, der sie allem Anschein nach verachtet – was sie einerseits nicht schön finden, andererseits aber auch verstehen können. Alle sechs Kandidaten stehen jetzt nebeneinander an der Rampe und tanzen eine Art Cancan. Die Show strebt ihrem Höhepunkt entgegen, als Nigel Ellery ans Mikro tritt und uns einstimmt auf das Gefühl des Hypnotischen Fliegens, wozu er heftiges Armeflattern empfiehlt. Ich aber lasse mich darauf nicht ein, im Gegenteil, auf meinem bequemen marineblauen Sitz entferne ich mich innerlich immer weiter in die Kreative Visualisierung eines langen, langen Frank-Conroy-Kamerazooms, durch den allmählich alles kleiner wird, der Hypnotiseur, die Kandidaten auf der Bühne, die Leute im Saal, die Celebrity Show Lounge und das Deck, schließlich das ganze Schiff, ich sehe es mit den Augen eines, der schon nicht mehr an Bord ist, sehe die Nadir bei Nacht, sehe sie jetzt, wie sie mit 21,4 Knoten nach Norden dampft, sehe den Mond, der vom kräftigen, warmen Westwind durch Wolkenschleier gezogen wird, höre gedämpftes Lachen und Musik, höre das Stampfen der Papas und das Zischen des zurückbleibenden Schraubenwassers, sehe vom nächtlichen Meer aus die Lichterreihen der Nadir, ein Schiff von engelhaftem Weiß, von innen festlich, königlich, palastartig beleuchtet … ja, wirklich: Jeder armen Seele, die jetzt in einer kleinen Jolle auf dem nachtschwarzen Ozean triebe, käme sie vor wie ein schwimmender Palast, erst recht dem Schiffbrüchigen, der nicht einmal eine Jolle hätte, sondern über Bord gegangen wäre und nur noch versuchte, sich über Wasser zu halten, weitab von jedem Land. Diese Kreative Visualisierung, Nigel Ellerys wahres und unbeabsichtigtes Geschenk an mich, ließ mich auch am folgenden Tag nicht los, weswegen ich die Zeit ausschließlich in der Kabine zubrachte, umgeben von Obstresten und abgegessenen Cabin-Service-Tabletts, und meistens aus dem fleckenlosen Fenster schaute. Ich hatte noch immer diesen leicht glasigen Blick, fühlte mich aber sonst ganz wohl, froh, auf der Nadir zu sein, und froh, sie bald verlassen zu können, froh vor allem, das Verwöhnprogramm überlebt zu haben. Kurz gesagt, ich blieb einfach im Bett. Und auch wenn ich durch meinen Trancezustand die große Talentshow und das Farewell Midnight Buffet am letzten Abend verpasste sowie am Samstagmorgen das Anlegemanöver und das Abschiedsfoto mit Kapitän G. Panagiotakis, mein Wiedereintritt in das normale, selbstverantwortliche Landrattenleben ging weit unproblematischer vonstatten, als ich nach einer Woche reinen Nichtstuns befürchtet hatte.

1996